Fisch wird über die Theke gereicht, in der Schlange vor dem Käsestand bekommen die Wartenden ein Glas Wein angeboten, etwas weiter liegen herrliche Waldpilze aus. An diesem sonnigen Herbsttag auf dem überdachten Marktplatz von Pantin scheint das Leben in Frankreich ziemlich normal. Die Gemeinde grenzt nordöstlich direkt an Paris, gehört jedoch zum Département Seine-Saint-Denis. Hier beginnen die Postleitzahlen mit „93“ und so wird auch die Gegend genannt: „Quatre-vingt-treize“, bekannt für den hohen Anteil an Sozialwohnungen, Arbeitslosen und Sozialhilfeempfängern. Die zahlungskräftigen Zugezogenen in ihren flotten Neubauten am Canal de l’Ourcq schicken ihre Kinder lieber in private Bildungseinrichtungen in Paris. Hier, genauer in der Gemeinde Bobigny, verkündete Emmanuel Macron 2016 seine Kandidatur für die Präsidentschaft. Dem Département wurde in einem Parlamentsbericht 2018 bescheinigt: Der Staat ist hier gescheitert, die Republik hat versagt, es fehlt an allem. Als dann Ende Oktober diesen Jahres ein lang erwarteter Aktionsplan der Regierung veröffentlicht wurde, mit dem Versprechen, mehr Personal im öffentlichen Dienst zu rekrutieren, hatte die Aktualität die Politik längst eingeholt.
Völlig erschöpft
Ein paar hundert Meter vom Markt die Straße hinauf, in der Rue Méhul Nummer 30, steht man vor dem grauen, spitz zulaufenden Art-déco-Eingang einer öffentlichen Grundschule. Am Montagmorgen des 23. September ging von hier aus ein Notruf bei der Feuerwehr ein. Die Schuldirektorin Christine Renon hatte sich zwei Tage zuvor in der Eingangshalle in den Tod gestürzt. „Das ganze Viertel stand unter Schock“, erzählt eine Anwohnerin. „Es war furchtbar, zu erfahren, wie sehr sie innerlich unter der Arbeit hier gelitten hat.“ Ihren Leidensdruck beschrieb die 58-Jährige in einem Abschiedsbrief an die Schulbehörde und andere Schulleiter. „Heute, am Samstag, bin ich völlig erschöpft aufgewacht. Nur drei Wochen nach Ferienende“, schrieb sie. „Diese vielen kleinen Nichtigkeiten, die 200 Prozent unserer Zeit beanspruchen. Ich habe kein Vertrauen in die Unterstützung und den Schutz, die unsere Behörde uns bieten müsste.“
Steigende Arbeitsbelastung bis zur Verzweiflung: Geschichten wie die Renons hört man in Frankreich seit Jahren. Wenn Angestellte des öffentlichen Dienstes sich das Leben nehmen, ob Lehrer, Pfleger in Krankenhäusern oder – allein in diesem Jahr 54 – Polizisten, dann geht ein kurzer Aufschrei durch das Land. Ein Land, das unter Dauerstress steht: verängstigt durch Terroranschläge, mit einer sich stark verändernden politischen Landschaft und einer Regierung, die glaubt, der Staat müsse sich zurückziehen, um private Unternehmen und Wettbewerb zu stärken.
„Zwar bestand schon vor Macron ein großer Notstand, aber seit er am Ruder ist, hat sich der Druck noch verschlimmert“, sagt Sabrina Ali Benali. Auf den Caféstuhl im 20. Pariser Arrondissement hievt die zierliche 33-Jährige mit den dunklen Locken einen wuchtigen Rucksack mit kompletter technischer Ausstattung für ihre Nachtschicht. In einer Stunde ist die Mutter, politische Aktivistin und Buchautorin wieder für neun Stunden mobile Notärztin in der Hauptstadt. „Erst gestern war mir zum Heulen zumute“, beginnt sie ohne große Vorrede. „Eine alte Frau mit einem schlimmen Abszess am Bauch, mit Nierenversagen, Diabetes und hohem Blutdruck wollte ich direkt ins Krankenhaus schicken, aber sie ließ sich nicht überreden. Sie habe das mehrmals durch: Stundenlanges Warten, und dann wird man einfach nach Hause geschickt.“
Sabrina Ali Benali erreichten Hunderte Erfahrungsberichte aus Krankenhäusern, seit sie im Januar 2017 auf Youtube ihren Frust herausließ. Elf Millionen Views innerhalb von zwei Wochen erzielte das Video, mit dem sie der damaligen Gesundheitsministerin den Spiegel vorhalten wollte. Ein paar Monate später erschien ihre Analyse der alarmierenden Zustände in dem Buch La révolte d’une interne („Die Revolte einer Assistenzärztin“). Wann immer sie es schafft, demonstriert sie auf der Straße, zuletzt am 15. Oktober an der Seite von Feuerwehrleuten, „mit denen wir ja in einem Boot sitzen“. Mittlerweile streiken über 200 Pflegeeinrichtungen landesweit für mehr Betten und mehr Stellen. Weil Krankenhäuser immer mehr wie Unternehmen wirtschaften sollen, habe sich das Klima verschärft.
Doch darüber hinaus sei es Macrons arrogante, verhöhnende Art, die Benali wütend mache. Als gäbe es Probleme nur, weil man sich nicht genug anstrengt in der Start-up-Nation, die sich der Präsident erträumt. „Jetzt hat er Scheindebatten losgetreten, über das Kopftuch, über Einwanderung. Nur um davon abzulenken, dass er seit den Gelbwesten nichts für mehr soziale Gerechtigkeit getan hat.“ Für ihre dreijährige Tochter wünscht sie sich eine solidarischere Gesellschaft. Aus diesem Grund habe sie noch nicht das Handtuch geworfen. Ein Blick auf ihr Handy: „Hier stehen jetzt schon 67 Einsätze in der App und wir sind elf Ärzte. Das wird sportlich heute!“ Dann schultert sie den schweren Rucksack, startet ihr Auto und braust in die Pariser Nacht.
Am Steuer sitzt auch Alexandra Ferré. Heute hat sie noch anderthalb Stunden von Toulouse zu dem Dörfchen Couthures am Ufer der Garonne vor sich. Jeden Monat legt die resolute junge Frau mit dem schwarzen Bubikopf bis zu 6.000 Kilometer nur im Südwesten Frankreichs zurück. Sie kontrolliert die Belieferung von Transportunternehmen mit Kraftstoffen, eine Männerdomäne, in der sie sich ihren Platz erkämpft hat. Als am 17. November 2018 über 300.000 Autofahrer landesweit protestierten, stand auch Alexandra, gemeinsam mit ihrer Mutter, an einem Kreisverkehr. „Es war das erste Mal überhaupt, dass ich demonstriert habe“, sagt die 31-Jährige. „Wir waren um die 60 Leute. Wir grillten zusammen, wir tranken. Die Menschen zeigten Verständnis für uns, auch wenn einige wegen der Straßensperren genervt waren.“ Die erfahrene Solidarität, die überwundene Scham, die Angst, nicht über die Runden zu kommen, das habe die Leute zusammengebracht.
„So verloren wie wir alle“
Schnell jedoch sei das Engagement schwieriger geworden: „Durch die Medien war die Bewegung stigmatisiert. Man wollte uns weismachen, die Gelbwesten, das seien überwiegend Faschos. Ich hatte Angst vor beruflichen Konsequenzen, wenn ich weiter dabeibleibe“, gesteht sie. Als dann Macron Anfang 2019 die „große nationale Debatte“ lanciert hat, eine Art Promo-Tour in allen Ecken das Hexagons, schien er eine neue Nähe zu seinen Bürgern zu suchen. Zuhören, seine Politik erklären, statt sie nur durchzupeitschen. Nachdem die Regierung die geplante Steuererhöhung auf Eis gelegt hatte, nahm die Beteiligung an den Protesten von Woche zu Woche, von Monat zu Monat ab. Nur ein Dutzend Gelbwesten, der harte Kern, macht in Couthures heute noch weiter. Alexandra sagt: „Macron wirkt für mich irgendwie verloren. So verloren wie wir alle.“ Ein kurzes Zögern. „Oh, jetzt hätte ich fast einen Blitzer übersehen!“ In ihrer Familie seien immer alle Kommunisten gewesen, lacht sie. Dass Marine Le Pens Rassemblement National (RN) so erfolgreich ist, kann sie trotzdem verstehen. Es sei die Wut, dieses diffuse, schwer zu beschreibende Gefühl: „Irgendwie wollen wir Franzosen ja, dass sich etwas verändert, nur weiß keiner, in welche Richtung!“
Samuel Leré ist einer, der weiß, in welche Richtung er Frankreich verändern will. Vor einem Espresso im einst von Intellektuellen wimmelnden Viertel Saint-Germain übergibt er eine Broschüre mit Vorschlägen, deren Ziel es ist, internationale Handelsbeziehungen in den Dienst der Energiewende zu stellen. Große Themen für den freundlich lächelnden 27-Jährigen, der schon in Irland, Litauen und Brasilien gelebt hat. „Ich habe das Glück, jeden Tag gern zur Arbeit zu gehen, etwas Sinnvolles zu machen“, sagt er. In Zeiten von „Fridays for Future“ ist er als einer der Sprecher der Stiftung „Nicolas Hulot – pour la Nature et l’Homme“ viel gefragt. Die große Beteiligung an den Klimamärschen sei ein Zeichen, dass die Klimakrise in den Köpfen der Franzosen angekommen ist. Die Gefahr, Klima- und Sozialpolitik gegeneinander auszuspielen, ist ihm bewusst: „Wir müssen verstehen, dass soziale Gerechtigkeit, wie sie die Gelbwesten fordern, Hand in Hand mit Klimagerechtigkeit geht. Die beiden Anliegen sind keine Gegensätze!“ Samuel ist optimistisch, auch wenn sein Chef, Nicolas Hulot, Macrons Regierung den Rücken gekehrt hat, weil er als Umweltminister nichts gegen Lobbys und den Vorrang der Wirtschaft vor der Umwelt ausrichten konnte. Politik könne noch immer pragmatische Lösungen auf demokratischem Wege finden, ohne Revolution. Die Gelbwesten haben vielleicht gerade noch rechtzeitig die großen Unterschiede zwischen urbaner und ländlicher Bevölkerung deutlich gemacht. Noch sei Zeit zum Handeln. „Meine Familie lebt auf dem Land, auch da setzt ein Umdenken ein. Klar, ich bin immer noch der Paris-intello, der sich über zu viel Plastikverpackungen auf dem Tisch beschwert. Aber wenn man anfängt, miteinander zu reden, ich von meinen Ideen berichte, dann gibt es auch viel Zustimmung, da spielt es gar keine Rolle, welche Partei man gewählt hat.“
Generalstreik am 5. Dezember
Die traditionellen politischen Lager gibt es seit Macron tatsächlich nicht mehr – sieht man von Marine Le Pen ab, der nahezu einzigen Konstante im sich verändernden Parteiengefüge. Eine zersplitterte Linke schafft es kaum, sich zusammenzuraufen. Die Konservativen rudern entkräftet, weil Macron ihnen kaum noch Angriffsflächen bietet. Schließlich ist er, so sagte es der Ex-Parteichef der Konservativen, Jean-François Copé, „der rechte Präsident, den wir nicht erwartet haben“.
Nun liegen weitere zweieinhalb Jahre vor diesem Präsidenten, der angetreten war, um die alte Bipolarität „links vs. rechts“ zu beenden, und stattdessen versucht, eine neue Zweiteilung zu etablieren: „progressiv vs. national“: alle für mich und gegen Le Pen. Damit macht er die anderen politischen Kräfte zu Nebendarstellern. Selbst in Richtung rechts außen blinkt er seit Neuestem, hat nach dem Vorbild Nicolas Sarkozys wieder die Themen Immigration und Kommunitarismus für sich entdeckt. Ein durchschaubares Ablenkungsmanöver von einer anderen Großbaustelle: Mit der Rentenreform will die Regierung 42 Sonderregelungen vereinheitlichen und hat damit nahezu alle Berufsgruppen gegen sich.
„Es wird keine Form der Schwäche oder des Entgegenkommens geben“, ließ er Ende Oktober in Hinblick auf die Reform wissen. Doch die Wut kann auf den Straßen, an Kreisverkehren, in Krankenhäusern und Feuerwehrkasernen jederzeit aufflammen. Am 17. November feiern die Gelbwesten ihren ersten Jahrestag. Sie haben sich dem für den 5. Dezember ausgerufenen Generalstreik der Gewerkschaften angeschlossen. Unbefristet. Dann werden in Frankreich nicht nur die Eisenbahnen stillstehen. Vielleicht erinnert sich Macron nur vage an das Jahr 1995. Damals war er 18, und auch damals ging es um die Reform der Rente. Drei eisige Herbstwochen lang ging nichts mehr, aber im Stillstand war das Land vereint. Am Ende knickte die Regierung Alain Juppés ein, und das Weihnachtsfest verlief friedlich.
Ganz sicher wird Sabrina Ali Benali auch in diesen Tagen nachts durch Paris fahren. 1.000 Kilometer entfernt steuert Alexandra Ferré das Auto an Kreisverkehren vorbei. Mag sein, dort stehen Menschen in gelben Westen und grüßen die Vorbeifahrenden mit einem Glühwein in der Hand. Samuel Leré wird beim nächsten Klimamarsch am 29. November in Paris dabei sein. Dann wird auch der Wochenmarkt in Pantin gut besucht sein. Jetzt schon steht die Straße hinauf, vor der Grundschule, in der Christine Renons starb, ein Bauschild. Demnächst soll die Betonfassade renoviert werden.
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