„Mit 14 sollte es nicht normal sein, dass man von einem 50-Jährigen vor dem Schultor erwartet wird, ebenso wenig, dass man mit ihm in einem Hotel lebt und sich in seinem Bett wiederfindet, mit seinem Glied im Mund zur Kaffeezeit.“ Der Mann, den die Autorin Vanessa Springora in diesen ungeschönten Zeilen in ihrem autobiographischen Buch Le consentement (Das Einverständnis) beschreibt, ist kein verurteilter Pädokrimineller. Es ist der heute 85-jährige Schriftsteller Gabriel Matzneff, dem 2013 der renommierte Renaudot-Essaypreis verliehen wurde. Seit Wochen beschäftigt dieser Skandal nun die französische Öffentlichkeit.
Springoras Geschichte beginnt 1986, als die damals 13-Jährige, deren Mutter in der Verlagsbranche arbeitet, dem Schriftsteller bei einem Abendessen begegnet. Anschließend erhält sie Briefe und Anrufe, was dem literaturbegeisterten Mädchen, das ohne Vater aufwächst, schmeichelt. Was sie da noch nicht weiß: Matzneff, dessen erster Roman L’Archimandrite 1966 erschien, hatte seine pädophilen Neigungen bereits literarisch verarbeitet, etwa 1974 in dem Essay Les moins de seize ans (Die unter 16-Jährigen). Auch in seinen Tagebüchern, die er über Jahre sukzessiv veröffentlicht, preist er die sexuellen Vorzüge von Kindern. Mit ihnen zu schlafen sei eine nahezu heilige Erfahrung, bei der sich das Bewusstsein erweitere. Im Übergang vom Kindes- zum Erwachsenalter sieht er ein eigenes, ein „drittes Geschlecht“. Springora schreibt, sie leide bis heute unter dem Einfluss Matzneffs, der selbst nach Ende ihrer Liebesbeziehung auf sie einzuwirken versuchte.
Literaturszene als Komplizin
Und ihre Mutter? „Meine Mutter nannte ihn gleich einen Pädophilen,“, sagte Springora in einem Interview mit France Culture. Sie habe diesen Begriff aber nicht ernst genommen, „Ich war in dieser Phase, wo man sich schon für erwachsen hält (...). Für mich war der Begriff Pädophiler mit Kindheit verbunden.“ Es sei jedoch falsch, zu sagen, es habe keine Warnzeichen gegeben. „Meine Mutter bereut wirklich, dass sie nichts getan hat,“ äußert die Tochter heute. Was den Fall so bemerkenswert macht, ist auch die Reaktion (vielmehr Komplizenschaft) des Literaturbetriebs, besonders jener Szene, die man mit dem Quartier Saint-Germain-des-Prés in Verbindung bringt. Außerhalb von Paris galt das Viertel schon immer als dekadent und verdorben.
Matzneff trat stets besonders elegant auf, achtete akribisch auf seine Wortwahl, bis hin zur Intonation. In der Literatursendung Apostrophes antwortet er 1990 auf die Frage des Moderators Bernard Pivot nach seiner Vorliebe für Schülerinnen: „Ich mag es, eine Frau an meiner Seite zu haben, die vom Leben noch nicht verhärtet ist. Denn eine Frau, die schon viele Männer hatte, hat ihre Illusionen verloren. Männer sind in der Regel egoistisch oder feige. Ein junges Mädchen ist noch lieb.“ Das Publikum lacht, der Moderator grinst verschmitzt. Nur die kanadische Schriftstellerin Denise Bombardier wagt es, daran zu erinnern, dass es sich bei den angeblichen Liebesbeziehungen um die Ausübung von Macht seitens eines älteren Mannes mit einer intellektuellen Aura gehandelt habe.Eigentlich müsste Matzneff sich vor der Justiz verantworten, sagt Denise Bombardier. Der Angesprochene reagiert pikiert.
Nach der Enthüllungswelle in der Film- und Fernsehbranche steht nun auch der französische Literaturbetrieb unter Verdacht, lange weggeschaut zu haben, wenn offen gegen Gesetze verstoßen wurde. Denn auch in den 1980ern war Sex mit unter 15-Jährigen strafbar. Viele Intellektuelle von damals sehen in der Affäre Matzneff einen „Prozess gegen die Generation der Post-68er“. Sie gehen in die Defensive. Moderator Pivot erntete einen Shitstorm, als er twitterte : „Damals kam die Literatur vor der Moral, heute kommt die Moral vor der Literatur.“ Der Journalist Guillaume Erner gesteht fast kleinlaut: „Matzneff hat man in meiner jüngeren Generation von Literaturkritikern einfach vergessen. Auch weil er keinesfalls als großer Schriftsteller gelten kann ... Zugegeben, ich kann mir nicht erklären, wieso keiner meiner Vorgänger ihn für seine sexuellen Praktiken kritisiert hat.“ Schließlich habe er ja ganz offen in seinen Tagebüchern darüber geschrieben. Fiktionen wie Rose bonbon (2002) von Nicolas Jones-Gorlin dagegen hätten als skandalös gegolten, seien heftig bekämpft worden.
Endlich wird ermittelt
1982 saß Daniel Cohn-Bendit in genau der gleichen Fernsehsendung und sprach über seine Zeit als 20-jähriger Erzieher in einem Frankfurter Kinderladen: „Wenn ein 5-jähriges Mädchen Sie auszieht, ist das großartig. Es ist großartig, weil es ein Spiel ist. Ein wahnsinnig erotisches Spiel.“ Die Sexualität eines Kindes sei „etwas Fantastisches“ sagt Dany le Rouge. Anders als Matzneff, der gerade noch in einem Brief an den Sender BfmTV darauf beharrte, es habe sich um große Liebe gehandelt und Vanessa habe in seinen Armen die Liebe entdeckt, hat Cohn-Bendit später Reue gezeigt.
Springoras Enthüllungen haben für Matzneff Folgen: Die Staatsanwaltschaft leitete eine Untersuchung wegen Vergewaltigung einer Minderjährigen ein. Das Centre National du livre (CNL) prüft eine monatliche Zahlung, durch die Matzneff in den letzten 20 Jahren rund 160.000 Euro erhielt. Gallimard hat den Verkauf seiner Tagebücher gestoppt und einige Bibliotheken überlegen, seine Bücher aus ihrem Bestand zu entfernen.
Matzneff äußerte in der Vergangenheit gerne, er stehe in einer Traditionslinie mit La Rochefoucauld oder Casanova, die ähnliche Neigungen hatten. Doch statt seiner Bücher steht nun Le consentement auf der Bestsellerliste. Die Kritik bescheinigt dem Buch übrigens herausragende literarische Qualität.
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