Mit ungeahnter Beharrlichkeit protestieren sie weiter. An Hunderten Kreisverkehren in der Provinz und in den großen Städten. Fast drei Monate dauert er nun an, der Aufruhr der Gelbwesten gegen die Politik Emmanuel Macrons – und auch gegen ihn selbst, gegen Jupiter höchstpersönlich. Doch allein die Bezeichnung „Gilets jaunes“ zeigt schon die Schwierigkeit, eine Bewegung treffend zu beschreiben, deren primäres Erkennungsmerkmal das Tragen einer gelben Warnweste ist. Ein Graus nicht nur für Journalisten, sondern auch für Repräsentanten der Regierung, die nicht wissen, mit wem und worüber sie verhandeln sollen, oder zumindest für ein versöhnliches Foto posieren, um den aufrührerischen Geist zu besänftigen. Nur w
r wenige Führungsfiguren waren anfangs bekannt genug, um als legitime Vertretung der Bewegung wahrgenommen zu werden. Da gab es Priscilla Ludosky, die die wichtige Online-Petition gegen die Benzinpreiserhöhung ins Leben gerufen hatte. Und da gab es Jacline Mouraud, Gelbweste der ersten Stunde, deren energisches Anti-Macron-Video tausendfach geklickt wurde und Likes erntete. Aber die Medien suchten weiter die eine Stimme der Bewegung. Ein Gesicht musste her.Und dann kam sie! Ingrid Levavasseur, die alleinerziehende zweifache Mutter, die Krankenpflegerin aus Pont-de-l’Arche, einer Gemeinde mit knapp über 4.000 Einwohnern nahe Rouen in der Normandie. Seit Beginn des Aufstandes ist sie bei den Demonstrationen in ihrer Heimat dabei. Es sind die eindringlichen Beschreibungen ihrer alltäglichen Probleme, die den Nerv ihrer Zuhörer treffen. Die Höhe ihres monatlichen Einkommens, 1.250 Euro, prangt auf ihrer gelben Weste wie eine Anklage. „Ich habe das Gefühl, dass wir der Gesellschaft enorm viel geben, aber wenig zurückbekommen“, sagt sie gegenüber der Regionalzeitung Paris-Normandie aus Rouen. „Ich habe mich gefragt, ob es dann nicht einfacher ist, arbeitslos zu sein und 1.200 Euro staatliche Leistungen zu bekommen.“ Levavasseurs Rechenbeispiele verstehen die Leute, sie alle haben ähnliche im Kopf. Ihre Bestandsaufnahme der sozialen Schieflage geschieht in der für sie typischen ruhigen Art und Weise. Das unterscheidet sie von anderen Gesichtern der Bewegung, etwa von männlichen „Kameraden“ wie Eric Drouet, der auch schon mal während einer Live-Sendung zu nicht weniger als der Erstürmung des Élysée-Palastes aufruft. Levavasseur sagt zwar auch: „Wir stecken in einer Revolution“, doch gleichzeitig verurteilt sie die unverhohlene Gewalt einiger Gelbwesten gegen Medienvertreter: „Die Journalisten sind unsere Alliierten, nicht unsere Feinde. Ohne sie wären die Gelbwesten nie bekannt geworden.“Die Medien, besonders die „sozialen“, sind für Levavasseur derzeit Segen und Fluch gleichermaßen. Als die 31-Jährige zu Weihnachten via Facebook dazu aufrief, den Protest über die Feiertage einzustellen, hagelte es Kritik. „Verräterin“ war dabei noch eine der harmlosen Beschimpfungen. Anfang Januar wollte der TV-Sender BFM die „Citoyenne in gelber Weste“, wie sie sich selbst bezeichnet, als Kommentatorin einstellen. Nach einem Shitstorm und ernst zu nehmenden Gewaltdrohungen sagte sie das Angebot aus Angst wieder ab. Verehrung und Hass liegen im Netz nah beieinander, aber Twitter und Facebook sind aus der Gelbwesten-Bewegung nicht wegzudenken. Levavasseur antwortete ihren Kritikern also in einem Video-Post und versicherte, sie stehe trotz ihrer Medienpräsenz auf der Seite der Gelbwesten: „Ich bin eine von euch!“ Zwar reist sie für Interviews inzwischen häufig nach Paris (auf eigene Kosten, wie sie versichert), aber auf die Straße geht sie lieber mit den Mitstreitern der ersten Stunde in ihrer normannischen Heimat. Die Medien kommen inzwischen sowieso überall dorthin, wo „Ingrid“ ein Statement gibt.Ein „leader“, wie man im Französischen häufig zu Führungsfiguren sagt, will Levavasseur nicht sein – sie bevorzugt für sich die Bezeichnung „Botschafterin der Gelbwesten“. Die Presse jedoch hat ihr längst andere Namen verpasst: „die neue Marianne“ oder gleich „Jeanne d’Arc“. Dabei werden gerne Details aus ihrer persönlichen Geschichte hervorgekramt. Der alkoholkranke, gewalttätige Vater. Das Scheitern ihrer Ehe nach nur drei Jahren und ihr Engagement bei der freiwilligen Feuerwehr. Ihre Arbeitslosigkeit, die Ausbildung zur Krankenpflegerin und die anschließende Festanstellung in der Notaufnahme. Freunde und Kollegen von Ingrid werden befragt, die in den höchsten Tönen von der jungen Frau schwärmen. So entstand das Image einer Frau, die vom Opfer ihrer familiären und sozialen Umstände zur Akteurin ihres eigenen Lebens wurde. Die kämpferisch jene Bewegung mitgestaltet, die den Präsidenten, der kaum zehn Jahre älter ist als sie, in die schwerste Krise seiner Amtszeit gestürzt hat.Am Mittwoch schließlich wurde bekannt, dass sie tatsächlich in den Politikbetrieb einsteigen will. Lange Zeit hatte sie die Idee abgelehnt, sie könne sich eher vorstellen, auf Vereinsebene aktiv zu sein. Doch die Rufe wurden lauter: Gelbwesten an vorderster Front müssten sich für die Europawahlen aufstellen lassen. Die rothaarige Ingrid hat den Ruf vernommen: Sie wird eine Liste mit dem Name RIC - für Ralliement d’Initiative Citoyenne - anführen. Eine eilig durchgeführte Umfrage sieht die Liste derzeit mit 13 Prozent auf Platz drei hinter den Parteien von Macron und Marine Le Pen. Letztere könnte durch die Gelbwesten-Liste merklich Stimmen verlieren. Jetzt muss Ingrid nur noch ein „leader“ werden.Placeholder authorbio-1