„Ich verbrachte fast einen Tag allein in einem Warteraum, ohne Unterhose, die mir meine Vergewaltiger entrissen hatten, ich war schmutzig, ich trug noch dieselben Sachen und hatte das Gefühl, selbst an allem schuld zu sein. Man bezichtigte mich der Lüge und erst nach der medizinischen Untersuchung, bei der meine Verletzungen und DNA-Spuren festgestellt wurden, nahm man meine Anzeige ernst. Die Vergewaltigung, über die bin ich hinweggekommen, aber das Gefühl, nicht geschützt zu sein, dieses Gefühl ist nie verschwunden. Ich bin danach nie wieder auf eine Demonstration gegangen, so groß war meine Angst vor Beamten.“ Dies ist nur ein Bericht von vielen, einer, der die Erfahrung eines Missbrauchsopfers mit dem Polizeikommissariat in Créteil be
Taumelndes Patriarchat
Frankreich Der Hashtag #doublepeine klagt den problematischen Umgang französischer Behörden mit Opfern sexualisierter Gewalt an. Zahllose Missbrauchsopfer fordern von der „Grande Nation“ verschärfte Gesetze

Auch in Deutschland ein Problem: Laut BKA werden stündlich 13 Frauen Opfer von Gewalt
Foto: Julien Mattia/Anadolu Agency/Getty Images
beschreibt – das ist eine Gemeinde nur wenige Kilometer vom Pariser Zentrum entfernt.Auf der Internetseite doublepeine.fr (dt. doppelter Schmerz/Strafe) berichten Frauen seit einigen Wochen, was ihnen widerfuhr, nachdem sie versucht hatten, sexuelle Gewalttaten bei der Polizei anzuzeigen. Viele von ihnen bereuen den Schritt im Nachhinein und geben zu Protokoll, dass das Zusammentreffen mit den Behörden eine unzumutbare Retraumatisierung gewesen sei – ein „erneuter Schmerz“ eben.Ein anderer anonymer Bericht handelt von einem Sporttrainer aus Toulouse, der seine Schülerin auf dem Parkplatz vergewaltigt haben soll. Auf der Wache habe man das Opfer gefragt: „Was hast du so spät allein in der Nacht auf dem Parkplatz gemacht? Warum hast du nicht geschrien, damit andere Leute dich hören? Warum trugst du nur ein T-Shirt im Dezember?“ Was die Initiatorin der Webseite, die feministische Aktivistin Anna Toumazoff, zeigen will, sind die patriarchalischen Strukturen in den französischen Behörden, die dazu führen, dass viele Straftaten gar nicht erst zur Anzeige kommen, dass Opfer sich nicht ernst genommen, gar diffamiert fühlen, wenn sie ihre Vorwürfe artikulieren.Seither haben sich tausende Frauen mit dem Hashtag #doublepeine solidarisiert. Dieser macht nach #balancetonporc, der französischen Antwort auf #metoo, noch einmal deutlich, wie viele Französinnen Erfahrungen mit sexueller oder sexualisierter Gewalt machen müssen. Bei einer Erhebung aus diesem Frühjahr, initiiert vom feministischen Kollektiv „Nous toutes“ (dt. Wir alle), gaben zwei Drittel der 3.500 Befragten an, von den Beamten nicht angemessen behandelt worden zu sein.Die neue Welle der Empörung wurde durch einen Vorfall im Kommissariat von Montpellier ausgelöst. Ein Vergewaltigungsopfer berichtete, dort von einer Beamtin gefragt worden zu sein, ob sie während der Tat einen Orgasmus hatte. Die lokale Polizeigewerkschaft stellte sich zwar hinter die Polizistin und sprach stattdessen von mangelnden Ressourcen, um auf die Zahl der angezeigten Taten angemessen reagieren zu können. Doch der Fall provozierte ein derartig heftiges Echo, dass sich der französische Innenminister Gérald Darmanin gezwungen sah, eine interne Untersuchung anzuordnen. Dabei war das Thema Gleichberechtigung sowie Kampf gegen Gewalt an Frauen 2017 zu einem der „großen Anliegen“ der Regierungszeit von Emmanuel Macron erklärt worden.Als vor wenigen Tagen, am 25. November, auch in Frankreich der „Internationale Tag zur Beseitigung von Gewalt gegen Frauen“ begangen wurde, kritisierte „Nous toutes“Macrons Administration dafür, nur 360 Millionen Euro für diesen Kampf bereitzustellen – stattdessen bräuchte es jährlich eine Milliarde. Gerade die Zahl von Frauenmorden ist in Frankreich vergleichsweise hoch, während andere Länder wie Spanien in den vergangenen Jahren viel Geld in extra eingerichtete Notfalltelefone, in gesonderte Gerichte und in eine Spezialausbildung für alle Beteiligten in der Justizkette investiert haben. In Frankreichs südlichem Nachbarland kommen dadurch mittlerweile vier Mal mehr Straftaten zur Anzeige als vor Einführung dieser Maßnahmen. In Deutschland ist die Situation düsterer: Laut Bundeskriminalamt werden hierzulande stündlich 13 Frauen Opfer von Gewalttaten.In Frankreich hat die Regierung vor einigen Tagen angekündigt, dass sie dabei sei, neue Möglichkeiten zu schaffen, um Opfern von Gewalttaten die Möglichkeit zu geben, unbürokratisch – und auch außerhalb einer Polizeistelle – Anzeige zu erstatten. So könne man auch von zu Hause aus oder in Anwesenheit einer vertrauten Person darum bitten, von einer Beamtin oder einem Beamten angehört zu werden. Derzeit werde das Verfahren über einen Zeitraum von sechs Monaten in einigen Regionen getestet und könne dann ausgeweitet werden. Dass das Thema auf der politischen Agenda bleibt, ist zweifelsohne vor allem den Tausenden Frauen zu verdanken, die beharrlich im Netz und auf der Straße für ihre Rechte kämpfen. Gerade das vor drei Jahren gegründete „Nous toutes“spielt dabei eine zentrale Rolle, wenn es regelmäßig Großdemonstrationen organisiert und eine breite Öffentlichkeit erreicht – zuletzt am 20. November, als landesweit 50.000 Menschen dem Ruf des Kollektivs folgten und mit ihren violetten Spruchbändern auf die Straßen gingen.Verdächtigt: Macrons MinisterNoch eine weitere traurige Tatsache lässt die Bewegung immer wieder aufflammen: Frankreich wird weiter von Skandalen um prominente Männer erschüttert, die sexuelle Gewalt an Frauen lange ungestraft ausüben konnten. Ob der jahrzehntelang präsente und beliebte Fernsehmoderator Patrick Poivre d’Arvor oder der ganz aktuelle Fall des ehemaligen grünen Umweltministers Nicolas Hulot: Diese Enthüllungen erschüttern die Gesellschaft auch deshalb so sehr, weil hier ein populärer Journalist und ein linker Politiker auf der Anklagebank sitzen. Hulot wird in einer kürzlich ausgestrahlten Fernsehreportage von drei Frauen des sexuellen Missbrauchs beschuldigt. Eine davon heißt Sylvia und wirft ihm vor, sich 1989 in seinem Auto an ihr vergangen zu haben – da war sie gerade 16 Jahre alt.Was zeigt dieser Fall? Dass Gewalt gegen Frauen keine politischen Lager kennt. Dass sie keinen „Gutmenschenbonus“ verteilt. Und dass sie sich durch alle sozialen Milieus zieht. Ausgerechnet in Frankreich, das nicht selten mit seiner libertären Haltung kokettiert, wird offenbar besonders in den Eliten weggeschaut: Das wissen wir nicht erst seit der Sofitel-Affäre des Sozialisten Dominique Strauss-Kahn. Damals, 2011, hieß es selbst unter Frauen häufig, die anglo-saxonische Kultur sei eben spaßbefreit und verklemmt. Doch selbst dem derzeit amtierenden Innenminister Gérald Darmanin wurde in der Vergangenheit bereits Vergewaltigung vorgeworfen. Dass Macron dennoch an ihm festhält, wirkt wie ein Anachronismus und macht all seine Ankündigungen für mehr Engagement im Kampf gegen Gewalt an Frauen in den Augen von Feministinnen scheinheilig. Auch der 2020 nach einer Regierungsumbildung neu berufene Justizminister Éric Dupond-Moretti hat sich vielfach abfällig über die Metoo-Bewegung geäußert und ist bei Feministinnen ein rotes Tuch. Als immer mehr Fälle von Übergriffen prominenter Kulturschaffender aufgedeckt wurden, sagte Moretti in einer Fernsehshow: „Es gibt Frauen, bei denen Macht auch Erregung auslöst. Wenn ein Star von einem Produzenten zu hören bekommt, sie müsse für eine Rolle mit ihm schlafen, und sie tut es, dann ist das keine Vergewaltigung, sondern eben eine Sofa-Beförderung.“ Bitte was? Aussagen wie diese zeugen von einer toxischen Kultur der „Grande Nation“.Dass mit Innen- und Justizministerium zwei Schlüsselbehörden für die Aufarbeitung von Missbrauchsfällen von Männern geleitet werden, deren Umgang mit Frauen mehr als bedenklich ist, macht deutlich, warum das Misstrauen gegen die Institutionen bei Opfern von Gewalttaten weiter besteht – und warum Emmanuel Macron von der Umsetzung des „großen Anliegens“ seiner Amtszeit weit entfernt ist. Dass man gerade in Frankreich ein Problem mit #doublepeine oder #balancetonporc hat, mag indes nicht verwundern: Denn wo von einigen Menschen erotische Anspielungen und Verführung als Teil der kulturellen Identität verstanden werden, herrscht unter Frauen schnell das Gesetz des Schweigens. Doch die neu entstandene Frauenbewegung der vergangenen Jahre hat gezeigt, dass auch im Land der „Femme fatale“ eine neue Zeit angebrochen ist: Verschärfte Gesetze und höhere Strafen bei Belästigungen waren ein erster Schritt. Nun gilt es, die juristische Aufarbeitung von Gewalttaten zu erleichtern, damit all jene zu ihrem Recht kommen, die man vor doppelter Bestrafung schützen muss.