Der Mann in der Menge

Französische Geschichte Eric Vuillard erzählt den Sturm auf die Bastille. Und dabei auch von heute
Ausgabe 15/2019
Der Sturm auf die Bastille am 14. Juli 1789
Der Sturm auf die Bastille am 14. Juli 1789

Foto: Hulton Archive/Getty Images

Es ist heiß, staubig und eng in den Gassen der Pariser Arbeiterviertel. Seit Wochen rumort es unter den hungernden Arbeitslosen, Bettlern und Tagelöhnern. Aus allen Ecken des Landes kommen zudem Handwerker und Bauern in die Hauptstadt, denn auch wenn der Dritte Stand sich kurz zuvor in Versailles zur Nationalversammlung erklärt hat, so macht doch die französische Obrigkeit keine Anstalten, seinen Forderungen nachzukommen. Am Morgen des 14. Juli 1789 ziehen kleine Grüppchen Protestierender immer weiter in den östlichen Teil der Stadt. Die Ströme schließen sich zusammen, zu einer Masse von fünftausend Menschen, deren Sturm auf das Festungsgefängnis Bastille zum stärksten Symbolbild der Französischen Revolution werden sollte.

Eric Vuillard, ausgezeichnet mit zahlreichen Literaturpreisen, hat akribisch recherchiert, um die Ereignisse dieses Tages nachzuerzählen. Anhand von Memoiren, Protokollen, Polizeiberichten und Zeichnungen hat er einen großen Moment der Geschichte in kleine Geschichten, eigentlich nur Szenen verpackt. Aus Hunderten Protagonisten setzt sich an diesem Tag die „Menschenmasse“ zusammen und Vuillards Revolutionäre sind aus Fleisch und Blut. Er gibt ihnen ihre Namen zurück, jene, auf die er bei den Recherchen gestoßen ist. Von einigen ist die Herkunft bekannt, von anderen nur das Alter oder der Beruf. Vuillard zählt sie auf, und plötzlich ist es, als begegneten wir ihnen, könnten wir sie mitten im Gedränge aufstöbern, einen Blick auf sie erhaschen: „Ja, ganz da unten zwischen den Bäumen im Park des Arsenals und den Gässchen des Faubourg wissen wir von einem Plessier, und von einem Ramelet, Fuselverkäufer, der bestimmt aus Leibeskräften brüllte ...“

So bekommt die große Geschichte plötzlich Gesichter. Manchmal taucht Vuillard, der Geschichtenerzähler, auch selbst darin auf. „Ich stelle mir vor, wie ...“, wiederholt er an mehreren Stellen. Oder er spekuliert: „Angeblich soll es am 14. Juli gegen Ende des Tages geregnet haben. Ich bin mir nicht so sicher. Die Meinungen gehen auseinander.“

Ein Volk betritt die Bühne

Das Buch ist in Frankreich bereits 2016 erschienen, doch es liegt nahe, den von Vuillard eingefangenen Revolutionsmoment mit der heutigem Gelbwesten-Bewegung zu vergleichen. Seine Analyse in einem Interview mit dem Radiosender France Culture Ende August 2018, einen guten Monat vor den ersten landesweiten Protesten also, trägt beinahe prophetische Züge:

„Wenn man die ersten Anzeichen der Französischen Revolution betrachtet, so liegen sie in der Massenarbeitslosigkeit der Bevölkerung, das muss uns doch hellhörig machen. Man kann nicht über den 14. Juli, der ein Volksaufstand ist, auf die gleiche Art und Weise schreiben, in einer Zeit, in der ein Teil der Weltbevölkerung sich eine Oligarchie errichtet, im Grunde genommen wie ein Adelsstand.“ Der 14. Juli sei der Tag, sagt Vuillard, an dem ein Volk die Bühne der Geschichte betritt.

Auch in anderen Texten versucht der Autor, bedeutsame Momente der Geschichte literarisch zu verewigen, sei es in der Ballade vom Abendland, im dem schmalen Band Kongo oder der Erzählung Die Tagesordnung, die sich um das Geheimtreffen Hitlers mit 27 Großindustriellen 1933 dreht. Geschichte wird in Literatur übersetzt und findet eine ganz eigentümliche Sprache, die den Leser in seinen Bann zieht, weil sie sich fast körperlich spürbarer Beschreibungen bedient. Und manchmal gibt es auch wieder ganz metaphysische Momente. Dann tritt zwischen den Einzelschicksalen die Grandeur des historischen Augenblicks zu Tage: „Ein ganzes Leben lang erinnert man sich an ein Wort, an einen Satz, der uns berührt hat. Im Inneren der Festung wichen die Soldaten in einer unmerklichen Schwingung zurück. Sie empfanden ein furchtbares Gefühl von Einsamkeit. Die feuchten, schwarzen Mauern boten keinen Schutz mehr; sie schlossen sie ein.“

Wer Vuillards 14. Juli gelesen hat, wird auch jene Bilder fragender betrachten, die uns derzeit aus Frankreich erreichen. Nicht, weil die Revolution kurz bevorsteht, aber zumindest weil wir uns fragen, wer diese Menschen sind, aus denen die Masse in Gelb entsteht, und anhand von welchen Geschichten heute die Geschichte von morgen geschrieben werden wird.

Info

14. Juli Eric Vuillard Nicola Denis (Übers.), Matthes & Seitz 2019, 136 S., 18 €

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Geschrieben von

Romy Straßenburg

Lebt als freie Journalistin in Paris. Ihr Buch "Adieu Liberté - Wie mein Frankreich verschwand" ist im Ullstein-Verlag erschienen.

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