Die große Wut

Porträt William Martinet und Ophélie Latil mobilisieren Massen junger Leute, die sich von Frankreichs politischer Elite betrogen fühlen. Ein Bericht aus der neuesten Kampfzone
Ausgabe 11/2016
„Wir sind intelligenter als die an der Macht“
„Wir sind intelligenter als die an der Macht“

Foto: Christophe Morin/IP3/Getty Images

Golden verzierte Laternen glänzen über einer Traube wartender Journalisten in der Pariser Frühlingssonne. Plötzlich Gerangel: Zwei Uniformierte geleiten drei junge Leute über die Treppe des prunkvollen Hôtel Matignon, Amtssitz des französischen Premierministers, nach draußen. Das Trio bleibt vor den Journalisten stehen, in der Mitte, mit ernster Miene, William Martinet. Sein Statement ist die Quintessenz aus einer Stunde morgendlicher Audienz bei Manuel Valls: „Keine unserer Forderungen wurde ernsthaft diskutiert, es wurde nur wieder auf eine andere Debatte verwiesen, auf eine andere Verhandlung, auf ein anderes Gesetzesvorhaben.“ Die Reporter zücken ihre Telefone, wenig später vermelden sie: „Keine Annäherung zwischen Regierung und Studentenvertretern“.

William Martinet gilt in Frankreich als eine Art Rudi Dutschke des 21. Jahrhunderts. Er ist das Gesicht der jüngsten französischen Studentenrevolte, die auch im Ausland überaus interessiert beobachtet wird. Martinet ist 27 Jahre alt und Präsident des französischen Studentenverbandes UNEF (Union nationale des étudiants de France). Von Mikrofonen und Kameras umzingelt, beantwortet er die Journalistenfragen geduldig, routiniert.

Noch vor wenigen Wochen war er so gut wie unbekannt. Jetzt liest man in Magazinen viel über ihn, etwa „10 Dinge, die man über William Martinet wissen muss“. Dazu gehört die Tatsache, dass er sich am liebsten lässig kleidet, mit Kapuzenpulli, auch bei Fernsehdebatten. Selbst beim Besuch beim Regierungschef trägt er Jeans, die ihm auf die schmalen Hüften gerutscht sind. Ohne Bart und Lederjacke sähe er wie ein harmloser Bubi aus. Aber die Hände: Schon ganz staatsmännisch faltet er sie zur Merkelraute, wenn er nun also vor Medienvertretern kritisiert, es habe mit Valls leider keine grundsätzliche Debatte über „die Fragen nach flexibler Arbeitszeitregelung, nach Vergütung von Überstunden, nach Abfindungen bei Entlassungen“ gegeben.

A la Hartz

Gewerkschaften, Schüler und Studenten stehen in Frankreich derzeit Seite an Seite, und so erlebt Präsident François Hollande in diesen vorösterlichen Tagen die erste große soziale Mobilisierung in seiner Amtszeit. Er hat die junge Arbeitsministerin Myriam El Khomri an die Reformfront geschickt. Vielleicht wird ihr Name eines Tages in einem Atemzug mit Peter Hartz genannt werden, dem Mann, der für Gerhard Schröder vor gut einem Jahrzehnt die Agenda 2010 entwarf. Das neue umstrittene Gesetz in Frankreich trägt jedenfalls El Khomris Namen und gilt den Gegnern als Inbegriff der Liberalisierung des Arbeitsmarktes. Junge Menschen werden damit weiter in die Prekarität gedrängt, lautet der Vorwurf. Die Regierung argumentiert, der Zugang zum Arbeitsmarkt müsse vereinfacht werden. Sonst sei man gegen die 25 Prozent Jugendarbeitslosigkeit im Land einfach machtlos.

Schon einmal schickte die Regierung in Paris eine junge, ambitionierte Sozialistin zur politischen Feuerprobe, als Durchboxerin für unbeliebte Reformen: Bildungsministerin Najat Vallaud-Belkacem reformierte unter großem Widerstand von Lehrer- und Elternverbänden die Mittelschule. Augenscheinlich hofft die Regierung, dass solche jungen Frauen, die selbst fast noch wie „Regierungspraktikantinnen“ wirken, eher auf Sympathie und Verständnis seitens der Jugend stoßen. Nur scheint dieses Kalkül jetzt, im Fall El Khomri und der Arbeitsrechtsreformen, nicht mehr aufzugehen.

Hollande ist laut Umfragen der bislang unbeliebteste Präsident der V. Republik, und seine Zeit wird knapp. Er werde 2017 nur dann erneut für das Präsidentenamt kandidieren, wenn die Arbeitslosenzahl sinke, hat er immer wieder angekündigt. Eine Rücknahme des Reformgesetzes schließt er aus, Nachbesserungen hat die Regierung jetzt am Montag vorgelegt – doch in den Augen von William Martinet und den Protestierenden reichen Schönheitskorrekturen nicht aus. Weitere Proteste sind für den 17. und den 31. März angekündigt. Wieder werden Zehntausende auf die Straßen gehen, wieder wird man im Ausland die Reformunfähigkeit der Franzosen belächeln.

Vier Jahre nachdem Hollande mit seinem Wahlslogan „Der Wandel ist jetzt“ viele Erwartungen geweckt hat, ist die Enttäuschung groß – vor allem eben bei den jungen Erwachsenen. Eine dieser Enttäuschten ist Ophélie Latil. „Wenn eine linke Regierung an die Macht kommt, dann bremst das zunächst die sozialen Bewegungen. Die Linken waren schließlich zuvor mit uns gemeinsam auf der Straße!“

Die 32-Jährige stellt ihre Kaffeetasse auf den Konferenztisch in ihrem Büro bei einem Architektenverband. An ihrem Arbeitsplatz wolle sie sich wohlfühlen, sagt sie und zeigt auf eine kahle Wand: „Da müssen noch Poster hin.“ Es ist ihre Art, sich ein Gefühl von Stabilität und Dauer zu schaffen, in einer Arbeitswelt, die auch sie bislang nur als Aneinanderreihung von kurzen, mitunter schmerzlichen Erfahrungen kennengelernt hat, wie so viele ihrer Altersgenossen. Was der Studentenführer Martinet so treibt, beobachtet sie aufmerksam. Beide, Martinet und Latil, je auf ihre Art wichtige Gesichter des Aufstands der Jungen.

Eigentlich hat Latil gerade Mittagspause, aber in diesen Tagen nutzt die Aktivistin die freie Zeit neben ihrem Job lieber dafür, die nächste Mobilisierungswelle vorzubereiten. Latil ist einer der führenden Köpfe der Bewegung Génération Précaire, die sich 2005 formierte, zu einer Zeit, als immer mehr jungen Franzosen dämmerte, dass noch längere und noch schlechter bezahlte Praktika fest zu ihrer ganz normalen Arbeitsrealität gehören würden, für Jahre, auch wenn sie noch so gut ausgebildet sind. Erkennungszeichen der Anhänger sind weiße Theatermasken, die sie bei öffentlichen Auftritten tragen. Die Botschaft: Für euch sind wir auswechselbar, ohne Gesicht, ohne eine individuelle Geschichte.

Alles ist befristet

Wenn Latil ihre eigene Geschichte erzählt, kommt sie immer wieder auf den vergangenen Sommer zu sprechen: Von einem Tag auf den anderen hatte man sie entlassen, wieder hieß es, Stellenanzeigen durchgehen, Bewerbungen schreiben, das eigene Berufsleben Revue passieren lassen. Wie viele Praktika waren es doch gleich? Wie viele befristete Verträge? „Als ich arbeitslos war, habe ich sogar Hochzeiten von guten Freunden ausgelassen, so sehr fürchtete ich den Blick der anderen. In Frankreich hängt alles vom Job ab. Ohne Arbeit gehörst du nicht dazu.“

Die Köpfe der Bewegung

Hunderttausende junge Französinnen und Franzosen gingen 2006 auf die Straße, um gegen den umstrittenen Ersteinstellungsvertrag CPE (Contrat Première Embauche) zu protestieren, den der damalige Premierminister Dominique de Villepin vorgelegt hatte. Das Gesetz sah vor, dass Arbeitnehmer unter 26 Jahren in Betrieben mit mehr als 20 Mitarbeitern innerhalb der ersten zwei Jahre ohne jede Begründung oder Vorwarnung wieder entlassen werden können. Die Proteste – es waren die heftigsten, die Frankreich seit Jahrzehnten erlebt hatte – zeigten Wirkung: Nach drei Monaten zog die Regierung den Entwurf zurück. Nun, zehn Jahre später, brandet die Wut auf der Straße erneut auf. Das neue Gesetz von Premier Manuel Valls soll etwa betriebsbedingte Kündigungen erleichtern und die Höchstsummen für Abfindungen drastisch deckeln.

William Martinet trat schon 2006, in der ersten Wutwelle junger Leute, der Studentenbewegung bei. Seine Eltern sind Krankenpfleger, er selbst hat sein Studium der Bio-logie und Sozialökonomie durch Nebenjobs finanziert. Seit zwei Jahren steht er an der Spitze des ältesten Studentenverbandes Frankreichs, UNEF, gegründet 1907. Mitstreiter beschreiben ihn als bescheiden, besonnen und klar in seinen Ansichten. Ophélie Latil hat ihre Zeit an der Universität hinter sich und ist quasi zum Sprach-rohr der jungen Erwerbstätigen geworden. Die 32-Jährige engagiert sich vor allem für die Verbesserung der Arbeitsbedingungen von Praktikanten und Berufseinsteigern, mit dem Kollektiv Génération Précaire. Sie hat Jura studiert, mit dem Schwerpunkt auf Urheberrecht, Kulturmanagement und internationalen Beziehungen. Romy Straßenburg

Für einen kurzen Moment verschwindet sie im Nebenraum für ein Briefing der jungen Kollegin: „Die Einladungen bitte auf gutes Papier drucken, soundsoviel Gramm, blütenweiß. Druckst du auch noch die Anstecker, bitte. Ja, lass sie lieber per Fahrradkurier kommen, das geht schneller.“ Inzwischen hat sie einen unbefristeten Vertrag und pocht auf bessere Arbeitsbedingungen. Sie beraumt keine Sitzung mehr nach 18.30 Uhr an, damit sie und die Kollegen pünktlich in den Feierabend kommen.

Sie wolle sich nicht mehr selbst ausbeuten, darum habe sie inzwischen ein distanzierteres Verhältnis zu ihrem Job, sagt die 32-Jährige. „Wir haben noch etwas anderes in unserem Leben. Ich leite neben Génération Précaire noch einen feministischen Verein und arbeite an einer Opernaufführung mit. Es gehört zu unserer Generation, dass wir nonstop connected sind. So sehen wir, wie andere Leute um 17 Uhr Feierabend machen und das Leben genießen.“ Sie erzählt von Freunden in Australien: Die surften noch auf richtigen Wellen, statt immer nur im Intranet ihrer Firma. Doch das Internet habe vieles verändert, auch die sozialen Proteste. Latil glaubt nicht mehr allein an große Kundgebungen. Auf der Straße zu sein, zu demonstrieren sei eine nette Gelegenheit, sich zu treffen. „Aber es ist nur eine Art, gegen die Ungerechtigkeit zu kämpfen.“ Twitter und Facebook seien heute die eigentlichen neuen Kanäle, die neuen Waffen des sozialen Widerstandes.

Auch bei den aufgebrachten Studenten in der Zentrale der UNEF wird selbst am Sonntag im Minutentakt gepostet und getwittert. Im Eingangsbereich türmen sich Papierbroschüren und Plakate wie Relikte aus vergangenen Zeiten. Türen gehen auf und zu, kleine Arbeitsgruppen kümmern sich um die detaillierte Organisation der nächsten, für diesen Donnerstag angekündigten Kundgebung. Am Ende des Gangs sitzt William Martinet in einem dunklen Büro, das auch als Abstellkammer für eine ausgediente Kaffeemaschine und allerlei Krimskrams dient. Eine Kaffeetasse dient als Aschenbecher, an der Wand hängt ein vergilbtes UNEF-Poster aus den 60ern: „Den Kampf weiterführen.“

„Die Hälfte der heutigen Studenten ist gezwungen, nebenbei voll zu arbeiten. Sie kennen die Zustände in den Unternehmen, deswegen sind sie so besorgt über ihre Zukunft, über die Verhältnisse, die auf sie zukommen.“ Er selbst hat bei einer Fastfood-Kette und als Reinigungskraft gejobbt, musste sein Biologiestudium zeitweise unterbrechen, um die Wohnungsmiete zu verdienen. Nun legt er einen Master in Sozialökonomie ab – und ärgert sich, wenn ihn konservative Medien wegen seines Alters als faulen Dauerstudenten und Berufsrevolutionär verhöhnen. „Wir bringen jetzt schon Opfer, wir akzeptieren Prekarität während des Studiums und bei unserem Einstieg in den Arbeitsmarkt. Mit dem neuen Gesetz stellt man uns unverhohlen eine lebenslange Prekarität in Aussicht.“

Ophélie Latil: „Als ich selbst arbeitslos war, fürchtete ich den Blick der anderen“

Foto: Andreas B. Krueger

Es gehe nicht darum, das Lebensmodell der Eltern zu kopieren, sagt Martinet. Die Studenten seien nicht rückwärtsgewandt, im Gegenteil: Es handele sich um überzeugte Europäer und Weltbürger. Ein gewisses Maß an Stabilität sei nun mal entscheidend bei konkreten Fragen der Lebensplanung, beim Autokauf, dem Abschluss eines Mietvertrags oder der Familienplanung. Ohne gewisse Garantien, wenigstens in den grundlegenden Belangen, könnten sich junge Leute kein autonomes Leben aufbauen. Französische Jugendliche seien weder resigniert noch verängstigt. Ihre Haltung zeuge eher von einem positiven Selbstverständnis, findet Martinet. Der Hashtag der Bewegung lautet #OnVautMieuxQueCa, „Wir sind mehr wert“. Im Vergleich zu älteren Arbeitnehmern sei man besser ausgebildet, habe höherwertige Diplome. „Ja, das ist eine gewisse Form von Überheblichkeit. Aber wir haben jede Menge Dinge zu bieten, wir sind intelligenter als jene, die jetzt an der Macht sind.“

Dann erreicht ihn die Nachricht, dass die UNEF in letzter Sekunde doch noch zu den Schlichtungsverhandlungen mit der Regierung eingeladen sei. Für Martinet steht ein weiterer Besuch beim Premierminister an. Klein beigeben werde man auf keinen Fall. „Die jungen Menschen haben der Prekarität den Kampf angesagt. Ich glaube kaum, dass sie einfach wieder nach Hause gehen werden.“

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Geschrieben von

Romy Straßenburg

Lebt als freie Journalistin in Paris. Ihr Buch "Adieu Liberté - Wie mein Frankreich verschwand" ist im Ullstein-Verlag erschienen.

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