Marine Le Pen hat eine reale Chance

Frankreich Wie 2017 muss sich der Bewerber Emmanuel Macron in Frankreich einer Stichwahl stellen, die ihn diesmal das Amt kosten könnte. Die Wähler der „historischen Mitte“ werden den Ausschlag geben
Marine Le Pen spricht in Paris nach der Bekanntgabe der Wahlergebnisse zu ihren Unterstützern (10.4.2022)
Marine Le Pen spricht in Paris nach der Bekanntgabe der Wahlergebnisse zu ihren Unterstützern (10.4.2022)

Foto: Thomas Samson/AFP/Getty Images

Irgendwie kam es einem seltsam vor, als am Sonntag die ersten Hochrechnungen auf dem Bildschirmen aufpoppten. Man fühlte sich an das erinnert, was schon 2017 passiert war: Auch vor fünf Jahren zog Marine Le Pen hinter Emmanuel Macron in die Stichwahl, auch vor fünf Jahren gab es auf den Plätzen dahinter ein ganz schönes Durcheinander und auch damals war klar, die politische Landschaft Frankreichs ist in Bewegung geraten. Blickt man also auf den gestrigen Wahlabend, kann man wahlweise geschockt oder erheitert konstatieren, alles schon einmal gesehen zu haben. Und bei solcherart Déjà-vu nimmt ja bekanntlich die Betroffenheit ab, man hat sich eben dran gewöhnt, damit abgefunden sogar.

Marine Le Pen hat Umfragen-Tief unbeeindruckt ausgesessen

Dass Marine Le Pen nur vier Prozentpunkte von Macron trennen, dass ihr selbst die Nähe zu einem Wladimir Putin nicht geschadet hat und auch nicht die Tatsache, dass sie nun einmal auf ewig die Tochter von Jean-Marie Le Pen bleibt (ein verurteilter Holocaust-Leugner immerhin), macht das Szenario, das wir nun erneut erleben, noch grotesker. Selbst das zwischenzeitliche Tief in den Umfragen, als der ultrarechte Éric Zemmour die Wahlkampfarena betrat, hat Le Pen relativ unbeeindruckt ausgesessen, bis sich Letzterer beim Thema Ukraine-Krieg selbst um Kopf und Kragen redete.

Am Ende sind viele potenzielle Zemmour-Anhänger doch wieder bei Le Pen gelandet – never change the „almost“ winning Team. Das „fast“, das „kurz dahinter“ ist das eigentliche Trauma der blonden, weichgespülten Le Pen-Erbin. Trotz ihrer konstant hohen Ergebnisse, kann sie durch das französische Wahlsystem am Ende nur betrübt aus der blau-weiß-roten Wäsche schauen.

Und nichts dürfte Emmanuel Macron lieber sein, als sich vor dem Stechen am 24. April wieder als der offene, tolerante, moderne und der Welt zugewandte Kandidat zu präsentieren, während Le Pen, so wie Zemmour, für ein Frankreich von gestern steht. Das „Frankreich der Jammerlappen aus der Provinz“, dessen Hände Le Pen während der vergangenen Monate so eifrig geschüttelt hat. In den großen Städten, bei einer gebildeten, urbanen Wählerschaft, hat sie kaum Rückhalt. Dieser Teil der Bevölkerung aber ist maßgeblich für Frankreichs ökonomische Wettbewerbsfähigkeit, weil er Start-Ups gründet, Technologie-affin ist und über das nötige finanzielle und kulturelle Kapital verfügt.

Die Le Pen-Wähler gehören für Macron eher in die Kategorie „Taugenichts“ oder „Gelbwesten“. An entsprechender Zuschreibung fehlte es während der ersten Amtszeit nicht. Seine Regierung führte das fort, was schon unter Nicolas Sarkozy und dem Sozialisten FrançoisHollande stattgefunden hat: eine neoliberale Politik, die sich zuallererst am „deutschen Modell“ orientiert, welches stets als Vorbild zitiert wird. Einzig der Linke Jean-Luc Mélenchon erklärte schon 2013 in einem Interview mit der Tageszeitung Liberation: „Personne a envie d’être allemand“ (Niemand hat Lust, Deutscher zu sein).

Republikanischer Block

Vor der Stichwahl haben nahezu alle ausgeschiedenen Kandidaten dazu aufgerufen, gegen Le Pen (implizit für Macron) zu stimmen. Der „bloc républicain“ (die Mauer gegen Le Pen) wird auch diesmal Schlimmeres verhindern.

Es sei denn ... ?! Wenn Éric Zemmours Anhänger seinem Aufruf von gestern folgen und Le Pen wählen, wenn enttäuschte Linke sich nicht aufraffen können, in zwei Wochen diesen „republikanischen Block“ zu formieren, und wenn sich hier und da enttäuschte Macron-Hasser finden, die mobilisiert werden, dann könnte Le Pen doch noch das gelingen, wovon sie seit Jahren träumt, und wofür sie all ihr politisches Geschick eingesetzt hat: den Titel Madame, la présidente. Es sind die Franzosen und Französinnen, die das an der Urne in der Hand haben.

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Geschrieben von

Romy Straßenburg

Lebt als freie Journalistin in Paris. Ihr Buch "Adieu Liberté - Wie mein Frankreich verschwand" ist im Ullstein-Verlag erschienen.

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