Jetzt erst recht

Frankreich Der Protest gegen die Rentenreform dauert trotz angekündigter Zugeständnisse der Regierung an. Die Streikenden wollen eine gänzliche Abkehr von den Regierungsplänen
Protest der Feuerwehr in Paris
Protest der Feuerwehr in Paris

Foto: Kiran Ridley / Getty Images

„On est là, Macron si tu le veux ou pas“, skandieren sie. Ob Du willst oder nicht Macron, wir sind da! Als am Dienstag gegen fünf Uhr morgens um die hundert Menschen vor dem Zaun des Busdepots in Ivry-sur-Seine stehen, liegt die Temperatur knapp über Null. Aus einem Lautsprecher ertönt der AC/DC Song „Hells Bells“. Rauchfackeln hüllen die Szene in blauen und roten Nebel. Die Streikenden sind Lehrer, Angestellte der Gemeinde, Studenten und auch ein dutzend Autonome haben sich unter sie gemischt. Eine Palette wird in Einzelteile zerlegt und in einer Tonne angezündet. Die Streikenden wollen die Busse in der südlichen Pariser Vorstadt an der Abfahrt hindern. Um diese Unterstützung hatten die hiesigen Angestellten der Verkehrsbetriebe RATP gebeten, denn ihnen selbst droht die Kündigung, wenn sie ihren Arbeitsplatz bestreiken. Sie bedanken sich bei den Blockierern mit Café, Orangensaft und Keksen. Vorbeifahrende Autofahrer hupen den Versammelten solidarisch aufmunternd zu. Als kurz nach acht die Polizei eintrifft, kommt es zu einem kurzen Gerangel. „Ey Jungs, weicht zurück, zurück!“, rufen die Ordnungskräfte und lotsen schließlich fünf Busse aus dem Depot.

„Macron will uns mit ein paar Eingeständnissen abspeisen“, hatte Loïc Rondeau, Vorsitzender der lokalen Sektion der CGT (Confédération générale du travail), auf einem spontan einberufenen Meeting am Vortag noch gewarnt. „Aber wir akzeptieren nur eine gänzliche Abkehr von der Reform!“ Hier in Ivry kann er mit voller Zustimmung rechnen, denn die Gemeinde gilt seit jeher als „Rote Vorstadt“. Seine Gewerkschaft sucht traditionell den Schulterschluss mit den Kommunisten, die im Rathaus sitzen. So überrascht es nicht, dass sich viele Angestellten des öffentlichen Dienstes und Mitarbeiter der Administration am Streik beteiligen. Ein Gewerkschafter um die 50 meldet sich zu Wort, der zugibt, auch bei den Gelbwesten mitzumachen: „Die Polizei hat uns bei der letzten Demo daran gehindert, zu euch zu stoßen. So sollen die Gewerkschaften von den Gelbwesten getrennt werden, dabei führen wir den gleichen Kampf!“ Über Berufsgruppen hinweg, davon träumte die Linke schon immer. Nur durch die „convergence“, durch das Zusammengehen protestierender Gruppen, könne ihr Kampf erfolgreich sein.

Vereint zurück

Seit Monaten machen auf Frankreichs Straßen Menschen ihrem Unmut Luft: Krankenhausmitarbeiter, Feuerwehrleute, sogar Polizisten, die in den vergangenen Monaten kritisiert wurden, weil die Gewalt am Rande der Gelbwesten-Proteste immer wieder eskalierte. Forderungen nach besseren Arbeitsbedingungen, mehr Anerkennung für die erbrachte Leistung, keine weiteren Einschnitte mehr im öffentlichen Dienst – jede Gruppe will mit ihrer Botschaft die Regierung aufrütteln. Nun gehen sie mit einem gemeinsamen Ziel auf die Straße: Das geplante neue Punktesystems soll aufgegeben werden, das die bislang 42 Rentensysteme vereinheitlichen soll.

Plötzlich hat sich das Kräfteverhältnis zugunsten der Protestierenden verschoben. Besonders weil die Gewerkschaften nahezu vereint an der Front zurück sind. Sie haben zwar weit weniger Mitglieder als in Ländern wie Deutschland, dafür haben sie das Potenzial, das öffentliche Leben zu lähmen. Verkehr, Treibstofflager, Raffinerien – wenn der Streik sich ausdehnt, dürfte es zunehmend ungemütlicher werden: für die Wirtschaft, besonders für den Einzelhandel, der in der Vorweihnachtszeit über Einbußen klagt, vor allem für die Regierung.

Auf lokaler Ebene soll der Zusammenschluss geprobt werden, deswegen halten die Streikenden in Ivry eine Versammlung nach der anderen ab, um aufzuklären, zu motivieren, zu mobilisieren. Auch jene, die isoliert sind, die im Privatsektor arbeiten oder sich sonst nicht an Protesten beteiligen. Gerade jetzt, da mit den Ankündigungen von Premier Philippe in den Augen der Gewerkschaften rote Linien übertreten wurden. Wenngleich das Renteneintrittsalter zunächst weiter bei 62 Jahren liegt, soll in den kommenden Jahren der Richtwert 64 Jahre gelten.

Wer vorher in Rente geht, muss mit Abstrichen rechnen, wer länger arbeitet, wird mit Zusatzpunkten belohnt. De facto heißt das, auf dem Papier bleiben die 62 Jahre möglich, in der Realität sollen Franzosen länger arbeiten oder finanzielle Einbußen hinnehmen. Wie gerecht das ist, darüber wird erbittert gestritten. Um Gerechtigkeit, um eine „reforme juste“ dreht sich in diesen Tagen alles.

Verlierer in Sicht

Während die Regierung nicht müde wird, zu wiederholen, dass das bestehende System kompliziert und ungerecht sei, weil es bestimmten Berufsgruppen Privilegien einräume, sehen die Gegner der Reform gerade darin soziale Errungenschaften, die es zu verteidigen gilt. In Zukunft, so glauben sie, bekommen dann jene höhere Renten, die schon während des Arbeitslebens ein gutes Auskommen hatten. Und die womöglich sowieso über Vermögen und Eigentum verfügen. Jene allerdings, die weniger leistungsfähig sind oder Lücken in der Berufsbiographie aufweisen – Arbeitslose, Mütter, prekär Beschäftigte – seien die Verlierer. Auch die in Aussicht gestellte Mindestrente von 1.000 Euro könnten nur jene beziehen, die über die Jahre ins Punktesystem eingezahlt hätten.

Bei einigen Fragen hat die Regierung nun Zugeständnisse gemacht. Die neuen Regelungen sollen nur jene betreffen, die nach 1975 geboren wurden. Auch für Frauen soll es in der Punkteberechnung Verbesserungen geben. Nicht zuletzt hofft man, die Straße zu befrieden, weil die Sozialpartner bei der Festlegung der Punkte mitreden sollen.

Keinen Schritt zurück

Müssen die Gewerkschaften nicht mit Gesichtsverlust rechnen, wenn es nicht zur geforderten gänzlichen Abkehr der Reform kommt? „Die Regierung nimmt all jene auf den Arm, die heute protestieren“, sagte der CGT-Vorsitzende Philippe Martinez in einer ersten Reaktion auf die Ankündigungen. „Wir müssen eine noch größere Mobilisierung erreichen als seit dem 4. Dezember. Mehr Menschen müssen in Streik treten und mehr Leute zu den Demonstrationen kommen.“

Gerade die Rentenfrage hat das Potenzial eine neue Bindungskraft innerhalb der Bevölkerung zu schaffen, die bei allen vorangegangenen sozialen Bewegungen der zurückliegenden Jahre fehlte. 2016 stellten sich vornehmlich junge Menschen mit dem Protest, der „Nuit debout“ getauft wurde, gegen die von François Hollande geplante Arbeitsrechtsreform. Damals gab es viele Ideen, viel Kreativität bei ihren Aktionen, aber keinen landesweiten Aufschrei. Trotz großer anfänglicher Sympathien schwand irgendwann der Beistand für die im November 2018 geborene Gelbwesten-Bewegung. Es misslang den äußeren politischen Rändern links wie rechts, die Männer und Frauen in den gelben Westen für sich einzunehmen. Sozial, nicht politisch wollten die Gelbwesten sein. Was sie anfänglich so stark gemacht hatte, ihre Spontaneität, ihre Radikalität, die direkte Konfrontation mit der Polizei, führten letztlich dazu, dass sie nach und nach an Anziehungskraft verloren.

Ein Satz Thorez

Ist es diesmal anders? In diesen Tagen scheint die „convergence des luttes“, der gemeinsame Kampf so präsent wie lange nicht. In Ivry sind bereits die nächsten Aktionen geplant. Hier, wo der Geist von Maurice Thorez weht, der ab 1930 ganze 34 Jahre lang Generalsekretär der Parti communiste (PC) war. Eine Schule ist nach ihm benannt, eine Avenue und ein Park tragen seinen Namen. In Ivry begann seine politische Laufbahn und gern und häufig wird er von Politikern mit dem Spruch zitiert: „Il faut savoir terminer une grève“ (Man muss einen Streik auch beenden können). Eines freilich unterschlagen jene, die sich auf Thorez beziehen: Sein Zitat geht noch weiter. „Man muss einen Streik auch beenden können, wenn man den Sieg bei den entscheidendsten Forderungen erlangt hat.“

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Geschrieben von

Romy Straßenburg

Lebt als freie Journalistin in Paris. Ihr Buch "Adieu Liberté - Wie mein Frankreich verschwand" ist im Ullstein-Verlag erschienen.

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