Kein Freund, kein Helfer

Polizeigewalt Polizisten gehen in Frankreich immer brutaler vor. Nach dem Tod eines jungen Mannes muss man fragen, welches Maß an Gewalt in einer Demokratie noch hinnehmbar ist

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In Frankreich geht von den staatlichen Sicherheitsbehörden ungeahndet Gewalt aus. Für die Bürger ist sie mittlerweile zu einer wirklichen Gefahr geworden
In Frankreich geht von den staatlichen Sicherheitsbehörden ungeahndet Gewalt aus. Für die Bürger ist sie mittlerweile zu einer wirklichen Gefahr geworden

Foto: Zakaria Abdelkafi/AFP/Getty Images

Ertrunken, verwest und aufgefunden in der Loire. Auf die Gewissheit, dass der 24-jährige Steve Maia Caniço hier, bei Nantes, in den Tiefen des Flusses ums Leben gekommen ist, haben seine Angehörigen fünf Wochen lang gewartet. Nun, nachdem der Körper - oder das, was von ihm übrig blieb - gefunden und identifiziert wurde, herrscht Verzweiflung und Wut.

Lange kam das Geschehen in der Nacht des 21. Juni in der nordwestfranzösischen Stadt nur in den Regionalnachrichten vor. Oder aber in linken, alternativen Medien und in den sozialen Netzwerken, wo immer lauter die Frage gestellt wurde: "Wo ist Steve?" Aktivisten klebten landesweit Poster mit dieser Aufschrift und twittern unter dem Hashtag #justicepoursteve. Die Frage nach einem Schicksal, nach einem Menschenleben.

Inzwischen herrscht traurige Gewissheit: Steve Maia Caniço ist tot. Welche Rolle spielte die Polizei dabei?
Foto: Loic Venance/AFP/Getty Images

Lange hüllte sich die Politik in Schweigen, als sei das Verschwinden von Steve einfach ein tragisches Unglück, nicht aber "eine Staatsaffäre", wie es die Anwältin der Familie formuliert. Erst vor ein paar Tagen widmeten Le Monde und andere nationale Medien der Geschichte etwas mehr Aufmerksamkeit. Zu diesem Zeitpunkt war Steve schon lange tot. Bleibt die Frage danach, was Steve erlebt hat, bevor er sein Leben verlor.

Eigentlich war der junge Erzieher, mit seinem freundlich-schüchternen Blick und seiner Liebe zum Theater und elektronischer Musik, zum Feiern an die Loire gekommen. In jener Nacht des 21. Juni, wo traditionell die Fête de la musique genau wie im ganzen Land bis in die frühen Morgenstunden zelebriert wird. Gegen 4h30 versucht ein Dutzend Polizisten die letzten Besucher der Fête de la musique von den Quais der Loire zu vertreiben. Hier wird das Handy von Steve, über den Freunde sagen, dass er nicht schwimmen konnte, das letzte Mal geortet. Nachdem zunächst die Musik abgeschaltet wird, dann jedoch erneut erklingt, kehren die Beamten zurück. Ihr Vorgehen lässt sich anhand von Zeugenaussagen und Videos rekonstruieren. Mit Tränengas und Schlagstöcken gehen die Einsatzkräfte nun vor. Später werden die Menschen auch mit Hunden verjagt und Gummigeschosse (LBD) abgefeuert. Viele der Beteiligten werden später aussagen, das harte Vorgehen sei in der Situation völlig unnötig gewesen. Denn auch wenn die Besucher des Musikfestes Gegenstände in Richtung der Einsatzkräfte geworfen hätten, seien diese keinesfalls in einer Notsituation geraten, die das brutale Vorgehen unabdingbar gemacht hätte.

Eingebetteter Medieninhalt Auf den teils verschwommenen, wackelnden Nachtaufnahmen sind Menschen zu sehen, die zu Boden gerissen werden oder die panisch davon rennen. Vierzehn Menschen stürzen bei dem Einsatz in den Fluss. Sie seien überwiegend angetrunken gewesen, betonen später die Behörden. Ein Sprecher der Polizeigewerkschaft äußert in einem Interview, die jungen Menschen seien mehrfach und bereits vor dem Eintreffen der Polizei ins Wasser gesprungen. Fast klingt es da so, als seien sie alle freiwillig nachts baden gegangen. Wie aber kann es dann sein, dass von den vierzehn Menschen nur drei aus eigener Kraft ans Ufer geschwommen sind, sieben hingegen von der Feuerwehr aus dem Wasser gezogen wurden und vier weitere von einem Rettungsschwimmerverein, den die Stadt für den Abend eingesetzt hatte. Für vierzehn Menschen endete diese Nacht glücklich, nämlich am Ufer endete. Nur einer, nur Steve, blieb verschwunden.

Wäre die Welt wie ein "Tatort", dann hätte sich an dieser Stelle ein/e beherzte/r Kommissar/in den Fall vorgenommen. Er oder sie hätte auch unter Kollegen ermittelt, um herausfinden, wo die Befehlskette versagt hat und wer genau, was und warum getan hat in dieser Nacht. Doch das hier ist kein Tatort, sondern Frankreich im Jahre 2019. Macrons Frankreich, in dem ein Mensch während eines Polizeieinsatzes verschwindet, später tot aufgefunden wird und noch bevor der Fall endgültig geklärt ist, die Polizeiinspektionsbehörde versichert, dass sich kein Zusammenhang zwischen dem Polizeieinsatz und dem Tod des jungen Mannes herstellen lasse. In einem Frankreich, in dem bereits eine 80-Jährige Frau am Fenster ihres Wohnhauses von einer Blendgranate der Polizei getroffen wurde und an der Verletzung verstarb. In einem Frankreich, in dem viele dutzende Demonstranten durch Gummigeschosse schwere Verstümmelungen erlitten haben. Ein Frankreich, in dem keiner der über 200 angezeigten Vorfälle von Polizeigewalt bislang juristische Konsequenzen für einen oder eine Polizeibeamte/n gehabt hätte.

Kurzum ein Land, in dem von den staatlichen Sicherheitsbehörden ungeahndet Gewalt ausgeht, die für die Bürger mittlerweile zu einer wirklichen Gefahr geworden ist. Frankreichs Innenminister Christophe Castaner stellt sich - wie es sein Amt verlangt - noch immer schützend vor seine Beamten. Zwar verspricht er im Fall Steve Transparenz und Aufklärung, doch sein langes Schweigen ist genauso verurteilenswert wie das Verbreiten von Fake-News über die gewaltätigen Zusammenstöße bei den Demonstrationen am 01. Mai dieses Jahres.

Narrenfreiheit und Selbstmordserie

Die Regierung hat als Reaktion auf die Gewaltausschreitungen an den Protest-Samstagen der Gelbwesten zwar neue Anti-Randalierer-Gesetze erlassen, doch eine grundsätzliche Auseinandersetzung über das Maß der anzuwendenden Gewalt ist ausgeblieben. Dabei müsste nicht nur die hohe Zahl der Verletzten auf beiden Seiten zu Denken geben. Auch in den Reihen der Polizei selbst gibt es Zweifel an der Spirale der Gewalt. Denn zum Bild von Frankreich 2019 gehört auch, dass sich in den letzten Monaten überproportional viele Polizisten das Leben genommen haben: 47 bereits in diesem Jahr. Gerade erst in dieser Woche und wie so häufig mit der eigenen Dienstwaffe.

Es stimmt, die Beamten stehen unter enormem Druck: Erst haben 2015 die Terroranschläge das Land und seine Polizei erschüttert, nun erleben die Beamten seit Monaten andauernden Zusammenstöße mit protestierenden Bürgern. Wie sich also verhalten, wenn von der Politik nur die Order kommt, alle Versuche, das bestehende System zu gefährden um jeden Preis niederzuschlagen? Und wieso Vorsicht und Augenmaß walten lassen, wenn der Kollege ein paar Meter weiter ungestraft ein bisschen "über die Stränge schlägt"? Im schlimmsten Fall muss hier und da mal ein Präfekt seinen Platz räumen.

Es herrscht ein Klima irgendwo zwischen Narrenfreiheit und Frustration, bishin zu Burnout-Zuständen in den Reihen der Beamten. Die Schieflage der Nation, der tiefe Riss zwischen seinen Eliten und einer Vielzahl von Bürgern, zeigt sich am Phänomen der Polizeigewalt besonders tragisch. Macron macht keine Anstalten, an dieser Situation ernsthaft etwas ändern zu wollen. Was also, wenn die Polizei nicht mehr als schützende Instanz für die demokratische Gesellschaft, sondern als Bedrohung genau dieser wahrgenommen wird? Wenn sie die Demokratie nicht verteidigt, sondern sich die Demokratie vor ihr schützen muss? Der Philosoph und Ökonom Frédéric Lordon schreibt in einem Artikel: "Der Macronismus ist die perfekte Emanation dieses gewaltsam antidemokratischen Hangs der "Demokraten", dieses "Zentrum", das die Presse seit Jahrzehnten feiert, mit denen sie sich gemein gemacht hat und über die man sich fragen muss, was noch geschehen muss, damit sie sich beginnt, sich loszulösen?" Wenn der Staat also sein Gewaltmonopol nicht mehr dazu nutzt, die bürgerlich demokratische Gesellschaft zu sichern, driftet er ins Autoritäre. Sind aber Gelbwesten, die allen voran gegen die ungerechte Verteilung des Reichtums in einem neoliberalen Wirtschaftssystem auf die Straße gehen, tatsächlich eine Gefahr oder auch eine Chance für die (Neu-) Gestaltung des Staatswesens?

Frankreichs Regierung kann sich nicht länger der Auseinandersetzung über die von ihr angewandte, ungeahndete und mittlerweile völlig unverhältnismäßige Polizeigewalt verweigern. Sonst wird es weitere Verletzte, weitere Tote geben. Wenigstens das ist Frankreich Steve schuldig. Auch wenn es für ihn selbst zu spät kommt.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Romy Straßenburg

Lebt als freie Journalistin in Paris. Ihr Buch "Adieu Liberté - Wie mein Frankreich verschwand" ist im Ullstein-Verlag erschienen.

Romy Straßenburg

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