Ein, zwei, drei ... Daniel Defoes Romanheld Robinson Crusoe ritzte noch jeden Tag Striche in ein Stück Holz, um sich auf der einsamen Insel das Zeitgefühl zu bewahren. 300 Jahre später sind wir selbst in größter Einsamkeit ununterbrochen mit der Welt da draußen verbunden. Auch wir sind Schiffbrüchige, aber wir teilen unsere Gedanken und Sorgen, unsere vermeintlich witzigen Einfälle und banalen Begebenheiten permanent online. Gleichzeitig stellt man uns ein riesiges kulturelles Angebot zur Verfügung, derzeit teils gar kostenlos. Auch Frankreichs Kulturminister Franck Riester will das so und proklamiert, die Kultur solle Einzug im Zuhause der Menschen halten! Eiligst hat sein Ministerium daher die Plattform „Culture chez nous“ eingerichtet, auf der virtuelle Museumsbesuche, Lektüre und Musik bereitgestellt werden.
Zur täglichen Kulturdosis gehört auch eine Flut von Texten, mit denen sich französische Schriftsteller zu Wort melden. Das Quarantäne-Tagebuch („Le journal de confinement“) erscheint schon nach wenigen Tagen wie ein eigenes literarisches Genre. Die Liste von bekannten Autoren wird immer länger: von Philippe Jaenada und Marie Darrieussecq über Nicolas Mathieu und Emma Becker bis Tatiana de Rosnay oder Leïla Slimani. Ob Le Monde, L’Express oder Le Point, überall wurden in Windeseile „Edelfedern“ angeworben, von denen viele längst aus Paris in ihre Landhäuser geflüchtet waren. So wie Leïla Slimani (Dann schlaf auch du, All das zu verlieren). In ihrem Tagebuch bietet sie romantisierende Innenansichten aus dem selbstgewählten Exil, wo sie im Morgennebel schon die ersten Knospen am Lindenbaum und die blühende Kamelie beobachtet. Doch das Leben als „Dornröschen“ ist für sie eigentlich exakt das gleiche sonst wie beim Romanschreiben. Daher ihr Resümee: „Ausgangssperre? Für den Schriftsteller ein Glücksfall!“ Zwar versuchte Slimani dann umzuschwenken und die eigenen Befindlichkeiten hintanzustellen, doch die Debatte über die Klassenunterschiede in der Literatur war bereits vom Zaun gebrochen. Der Schriftsteller Nicolas Mathieu (Wie später ihre Kinder) sagt: „Diese Art von Tagebuch war schon immer typisch für bürgerliche Literatur. Was jetzt an einigen Texten schockiert, ist der Exhibitionismus des privilegierten Lebensstils, die Manifestation der Brutalität von sozialen Unterschieden.“ Dennoch verweist er auch auf das Bedürfnis von Autoren, ihre Gedanken mitzuteilen und die freie Zeit zu nutzen, um das reduzierte kulturelle Angebot zu kompensieren. Nicht zuletzt suchten die Medien in dieser Ausnahmesituation händeringend nach Inhalten. Mathieu glaubt dennoch: „Es darf keine so solipsistische Haltung vorherrschen. Das Tagebuch muss ein Außen suchen, einen Leser, selbst wenn dieser fiktiv, theoretisch ist, dem es existenzielle oder spirituelle Nahrung liefert, eine Lebenslektion oder einen Pfad für Entscheidungen.“
Vielleicht muten einige Texte deshalb so befremdlich an, weil literarische Produktion Zeit braucht, weil ein Roman kein Tageswerk ist, anders als Blogs, deren Charme ja gerade in der Unmittelbarkeit und der Spontaneität liegt. Für diese Form hat sich die in Berlin lebende französische Journalistin und Buchautorin Prune Antoine entschieden. My Funny Quarantine ist humorvoll, abwegig, mitunter schweinisch, drastisch und zärtlich zugleich. „Ich glaube, Victor Hugo oder Émile Zola wären heute ganz sicher neben ihren Romanen auch Blogger geworden!“ Sie schätzt die große thematische Freiheit, die Möglichkeit, den eigenen Stil auszuloten. Pro Tag eine Seite. Darin sieht sie auch eine selbstauferlegte Disziplin, ein Anschreiben gegen das Vakuum. Denn was gibt es Schlimmeres für all jene, deren Lebensinhalt das Schreiben ist, als am Ende vor einem leeren Blatt zu sitzen?
Info
Prune Antoines Blog finden Sie unter plumaberlin.com
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