Protest gegen Rentenreform: Macron meidet Geste der Versöhnung – Das birgt Gefahren

Frankreich Emmanuel Macron hat mit seinem Fernsehinterview die Gemüter nicht beruhigt, sondern eher Öl ins Feuer gegossen. Es hat den Anschein, als würden zwei Züge aufeinander zurasen und eine Kollision kaum mehr auszuschließen sein
Die Polizei geht in Paris mit Wasserwerfern gegen Demonstranten vor. Ein Schirm hilft da nur bei ausreichend großem Abstand
Die Polizei geht in Paris mit Wasserwerfern gegen Demonstranten vor. Ein Schirm hilft da nur bei ausreichend großem Abstand

Foto: Julien de Rosa/AFP/Getty Images

Sie waren viele. Wieder einmal. Immer noch. Und sie waren vor allem jung, ausgelassen und angriffslustig. Am nunmehr neuntem landesweiten Streik- und Aktionstag gegen die Rentenreform in Frankreich war am 23. März von Ermüdungserscheinungen keine Spur. Im Gegenteil: nachdem die meisten Prüfungen an den Schulen und Universitäten vorbei sind, hat sich die Straße verjüngt.

Und so sieht man nicht nur streikerprobte Gewerkschafter, Angestellte des öffentlichen Dienstes oder Familien, sondern eben auch Studierende und Schüler, selbst von den sonst zurückhaltenden, konservativ geprägten Wirtschaftsfakultäten. Je nach Schätzungen sollen es zwischen einer und dreieinhalb Millionen Menschen gewesen sein. Ein Hauch von „Jugendbewegung“ à la 68 greift um sich und dazu passend steht auf vielen Schildern: „Manu, tu nous mets 64, on te met Mai 68(Du drückst uns die 64 auf, wir Dir den Mai 68).

Macron: „Ich lebe nicht in Reue ...“

Nach den tumultartigen Szenen in der Assemblée Nationale vor einer Woche, nachdem die Reform durch den umstrittenen Verfassungsartikel 49.3., also ohne Abstimmung durch das Parlament, entschieden wurde, hatte Emmanuel Macron noch versucht, schnell zum daily business überzugehen. Als er Mitte dieser Woche in einem TV-Interview gefragt wurde, ob er irgendetwas bereue, etwas falsch gemacht habe, antwortet er erwartungsgemäß, er bereue nur, nicht überzeugend genug die Notwendigkeit der Reform vermittelt zu haben. Anders gesagt: Ihr rafft nicht, dass es nicht anders geht! „Ich lebe nicht in Reue, sondern mit Willen, Hartnäckigkeit und Pflichtbewusstsein“, fügte er hinzu.

Um jeden Preis will er sich den Nimbus des Reformers zum politischen Erbe machen. Allen Widerständen zum Trotz und sei es gegen das eigene (uneinsichtige) Volk, gegen die „störrischen Gallier“, wie er sie einst bezeichnete. Um den Protesten auf der Straße den Wind aus den Segeln zu nehmen, wäre er gerne schnell auf die internationale Bühne geflüchtet.

Aber weil die Distanz Macrons zu den Franzosen jetzt schon so unüberwindbar, hat der Élysée in letzter Minute die Notbremse gezogen und den für kommende Woche geplanten Besuch des britischen Königs in Versailles abgesagt. Zu viel Kritik war schon im Vorfeld laut geworden: Auf der einen Seite brennen Bushaltestellen und Müllberge, liefert sich die Polizei Straßenschlachten mit den Demonstrierenden in einer Wolke von Tränengas, bleiben Schienen, Schiffe und Schulen blockiert!

Wie in einem Guerilla-Krieg

Auf der anderen Seite hätte der Besuch Bilder erzeugt von einem Macron, der an der Seite von Charles III. im Garten von Versailles flaniert, als ginge ihn die Gewalt und die Wut auf den Straßen nichts an. Bislang schickte er für das operative Geschäft seine Premierministerin Élisabeth Borne an die Front, die vermutlich sehr schlecht schläft dieser Tage.

Und auf den Straßen spielen sich Nacht für Nacht Szenen wie aus einem Guerillakrieg ab. Die Gefahr nimmt zu, dass der heftige Zusammenprall von Polizei und Demonstranten Menschenleben kostet. Ein starker Präsident, der Emmanuel Macron so unbedingt seien will, müsste versuchen, zu beschwichtigen, Angebote auf den Tisch legen, wieder mit den Gewerkschaften reden, vor allem aber die jungen Leute ansprechen und ihnen Perspektiven geben, die mehr als hohle Floskeln sind.

Aber von all dem ist bislang nichts zu sehen. Und selbst wenn die Proteste in den kommenden Tagen doch an Dynamik einbüßen: das Feuer, das Macron durch seine Ignoranz und Arroganz selbst weiter anheizt, könnte jederzeit wieder aufflammen. Und was sich als, wenn auch noch diffuse, neue Jugendbewegung zusammenbraut, könnte seine größte Zeit noch vor sich haben.

Rentenreform in Frankreich

Die vor einer Woche ohne Beteiligung der Nationalversammlung beschlossene Rentenreform setzt das Renteneintrittsalter in Frankreich von 62 auf 64 Jahre hoch. Tatsächlich beginnt der Ruhestand im Schnitt aber ohnehin später: Wer für eine volle Rente nicht lange genug eingezahlt hat, arbeitet länger.

Mit 67 gibt es dann unabhängig von der Einzahldauer eine Pension ohne Abschlag. Gleichzeitig soll die monatliche Mindestrente auf gut 1.200 Euro erhöht werden, was die Gewerkschaften als unzureichend einstufen.

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Geschrieben von

Romy Strassenburg | Romy Straßenburg

Lebt als freie Journalistin in Paris. Ihr Buch "Adieu Liberté - Wie mein Frankreich verschwand" ist im Ullstein-Verlag erschienen.

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