„Liebes Arschloch“ von Frankreichs Starautorin Virginie Despentes: Kaputt de luxe
Roman Virginie Despentes' neues Buch „Liebes Arschloch“ ist ein Roman aus E-Mails zwischen Boomern. Es geht um #Metoo, Corona, das Altern und die Drogen
„Liebes Arschloch“ – erst beleidigen sie sich, dann wird der Ton versöhnlicher
Foto: Lucia Buricelli
Nach der berauschenden Romantrilogie Vernon Subutex, die entlang der Geschichte eines abgerockten Außenseiters ein Seelenporträt des zeitgenössischen Frankreichs zeichnete, war man gespannt. Was schreibt eine Virginie Despentes, die zu den erfolgreichsten französischen Schriftsteller:innen gehört, nach so einem Gesellschaftsroman Balzac’scher Dimension, einem Gesamtkunstwerk, das schon von Thomas Ostermeier auf die Theaterbühne gebracht und als erfolgreiche Comicversion aus der Feder des ehemaligen Charlie-Hebdo-Zeichners Luz gefeiert wurde? Despentes’ Antwort lautet: das genaue Gegenteil.
In Liebes Arschloch treffen die alternde Schauspielerin Rebecca (als Vorbild für die Figur diente Catherine Deneuve, sagte Despentes der FAS) und der gefeier
te Despentes der FAS) und der gefeierte Bohemien-Autor Oscar virtuell via Mailverkehr aufeinander. Die beiden bewegen sich irgendwo zwischen narzisstischer Störung, Drogensucht und Melancholie in einer zu Ende gegangenen Epoche, nach #MeToo, während der Corona-Pandemie. Zuvor hat Oscar über Rebecca wenig schmeichelhaft gepostet: „(…) diese göttliche Frau, die zu ihren besten Zeiten so viele Teenies in die Faszination der weiblichen Verführung eingeführt hat – heute zu einer Schlampe verkommen.“ Rebeccas Konter an das „liebe Arschloch“ gerät dann ebenso aggressiv-knackig: „Du bist wie eine Taube, die mir im Vorbeifliegen auf die Schulter kackt. Das ist dreckig und sehr unangenehm.“Einsamkeit und LockdownWas als Twitter-Tirade beginnt, entwickelt sich nach und nach zu einer veritablen (Brief-)Freundschaft. Oscars Karriere gerät nach Vorwürfen seiner ehemaligen Assistentin Zoé Kantana wegen sexueller Belästigung ins Wanken, während Zoé, deren Posts lose ins Buch gestreut sind, zu einer feministischen Märtyrerin avanciert. Hier sind wir mit Despentes also doch wieder mitten in einer gesellschaftlichen Debatte, die sie als feministische Aktivistin natürlich umtreibt: die Folgen der #MeToo-Bewegung, die Wirkungsmacht des neuen Feminismus, das Ganze nunmehr aus der Perspektive eines gecancelten Mannes.Die beiden Schreibenden kennen sich flüchtig aus den Kindheitstagen in Nancy, Despentes’ Heimatstadt. Genau wie die Autorin haben es die beiden aus der Provinz in die Pariser Kulturelite geschafft. Partys, Drogen, Abstürze inklusive. Nach und nach teilen sie sich ihre Abgründe mit, Oscars zerrüttetes Verhältnis zu seiner Tochter, die Einsamkeit Rebeccas während des Corona-Lockdowns und Sitzungen bei den Anonymen Suchtkranken, in die sich beide flüchten. Mehr und mehr ändert sich ihre Beziehung, wird versöhnlicher, vertrauter, verliert das Toxische. Das Einander-Schreiben entwickelt sich für beide zur Therapie, zur Überlebensstrategie.Doch der Briefroman, besser gesagt Mailroman, entfaltet nicht die gleiche Dynamik wie Despentes’ so genial lebendige Dialog-Sprache, mit der sie in Vernon Subutex treffend die Persönlichkeit ihrer Figuren formt. Die beiden eigentlich als Antagonisten angelegten Figuren schreiben so ähnlich, dass man mitunter gar nicht mehr weiß, wer gerade „spricht“. Das führt zu fehlender Eindringlichkeit, einem Mangel an Plastizität, der keineswegs der Übersetzung geschuldet ist, da es auch im französischen Original kein Buch ist, das durchrockt wie andere Despentes-Werke. Vielmehr liegt es an der gewählten Form, dass Liebes Arschloch streckenweise doch stark den Eindruck macht, als hätte Despentes Oscar und Rebecca ihre eigenen Reflexionen in den Mund gelegt: über den neuen Cyber-Feminismus, über die Macht der sozialen Netzwerke, unsere gestörten Beziehungen, über Einsamkeit, über das Älterwerden.Nun ist Despentes älter geworden, und während sie bei ihren öffentlichen Auftritten und Interviews an der Seite der jungen Feministinnen steht, hadern andere Künstler:innen ihrer Generation, die ihre Jugend in den 1980er und 1990er Jahren erlebt haben, mit dem neuen Wokismus, weil sie, die einstige rebellische Avantgarde, plötzlich selbst nach Bürgertum riechen. Das ist wiederum das Geschickte an Despentes’ Botschaft: In der Depression, dem Kaputtsein der Schreibenden steckt natürlich auch Kritik an jenen, die sich beschweren, man könne heute „nichts mehr sagen“. Hier treffen Boomer mit ihren Wehwehchen auf die Welt einer neueren Generation, von der sie sich vor allem deshalb unterscheiden, weil die Jüngeren ihre Befindlichkeiten und Anliegen aufmerksamkeitswirksam in Szene setzen können und noch angriffslustig sind. Weil sie die Methoden dafür verstanden haben, ihre Gegner shitstormend in die Wüste zu schicken. Autsch. Jeder Hashtag direkt in die Fresse!Da bleibt den Boomern also nur noch das Lamentieren auf der Tastatur, über eine „Epoche, die den Bach runtergeht“ (Oscar). Oder sich der jungen Generation, die am Ist-Zustand der Welt verzweifelt, anzunehmen, so wie Rebecca, die sich um Zoé kümmert, als die Shitstormerin selbst vom Shitstorm eingeholt wird. Dahinter steckt dann wieder das, was viele an Despentes so lieben: sich literarisch mit den Machtverhältnissen, mit (verbaler) Gewalt, mit dem Kampf der Geschlechter und der Generationen auseinanderzusetzen.Vielleicht muss man die Verzweiflung an unserer Zeit nicht mit Oscar und Rebecca teilen, um sich ganz und gar auf den Text einzulassen, oder ihre Liebe zu Drogen, ihre Einsamkeit, ihre Suche nach Liebe. Das Austarieren zwischen dem Innenleben der Figuren im Verhältnis zum herrschenden Zeitgeist bleibt Despentes’ Stärke, ob man nun Gefallen an der Form findet oder nicht. Was nachhallt, ist das absurd Anrührende, die Selbstironie, wenn Oscar oder Rebecca sich ihre Schwächen offenbaren, klug über Drogen referieren, das Schöne am Clean-Sein preisen. Dann will man sie tröstend in den Arm nehmen und ermutigend flüstern: OK Boomer. Alles wird gut!
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