Puhhh. Aufatmen! Seit Sonntagabend ist klar: Mir droht doch kein so baldiger Umzug oder besser: Rückzug aus Frankreich gen Deutschland. Am Ende ist Marine Le Pen auch dieses Mal nicht französische Präsidentin geworden und damit bleibt uns vorerst ein Brexit- oder Trump-Szenario erspart, und mir persönlich das Kistenpacken.
Denn ganz ehrlich: Hätten Sie Lust, in einem Land zu leben, in dem eine Rechtsextreme das Sagen hat? Ihres Zeichens originally aus dem Hause Le Pen, wo der olle Senior Jean-Marie sagte, dass die Gaskammern nur ein Detail der Geschichte seien. Marine kann noch so oft ihre Katzen in Instagram-Posts streicheln: Sie bleibt eine rechtspopulistische Hetzerin, die das Seelenheil der Nation in einem Rückzug auf sich selbst und in der Abschottung nach außen sieht.
Für einen selbst bleibt ein Déjà-vu-Gefühl. Hat man das alles nicht schon mal gefühlt, gedacht und geschrieben? Vor fünf Jahren, als sich Le Pen und Macron schon mal in der Stichwahl gegenüberstanden. Dieses Mal gab es zwar leichte Nervosität am Wahlsonntag, aber ansonsten das Credo: „Wird schon (wieder) schiefgehen!“ So kam es ja auch. Ich schaute im Fernsehen dann irgendwie angeekelt den feiernden, tanzenden Macron-Anhängern zu und rieb mir die Augen. Wie kann sich das wie ein Sieg anfühlen und wieso wird nur en passant erwähnt, wem man diesen Sieg zu verdanken hat? All jenen nämlich, die sich trotz ihres Hasses auf diesen Präsidenten an die Urnen begaben, um für ihn zu stimmen.
Aus Angst für Macron gestimmt
Für viele Linke ist das ein herber Verrat an sich selbst. Da hat man fünf Jahre lang auf allen möglichen Demos skandiert, dass Macron das Aller-Allerletzte ist, dass er den Sozialstaat beschneidet, die Reichen bevorteilt, die Demokratie mit Füßen tritt und die Polizei auf immer repressiver trimmt. Und dann ist man doch mit Kloß im Hals und Stein im Bauch zum Kreuzchen machen gegangen. Dass Macron als Inkarnation des elitären, vertikalen Systems gilt, durch das sich längst viele nicht mehr repräsentiert, schlimmer noch, verhöhnt und abgehängt fühlen, war den feiernden Macron-Anhängern offenbar schnuppe. „Zwischen Kapitalismus und Faschismus wähle ich den Kapitalismus, weil ich schwarz bin“, hat eine junge Frau in ein Fernsehmikro gesagt. Andere Linke dachten, dass unter Le Pen die Polizei noch härter vorgehen würde, und stimmten aus dieser Angst heraus für Macron. Diese Wähler aber werden in den kommenden Wochen und Monaten wieder auf die Straße gehen. Sie werden Macrons Politik bekämpfen und dabei die Internationale singen.
Ich stelle mir vor, wie schizophren es sich anfühlen muss, gegen jenen Präsidenten zu demonstrieren, den man selbst gewählt hat. Keine gute Basis, um vertrauensvoll in die Zukunft zu blicken. Viele Beobachter glauben, dass es 2027 klappen könnte für die Le-Pen-Partei. Wenn ich die letzten Jahre in Frankreich mit Adieu liberté überschrieben habe, dann könnten die kommenden Jahre unter Macron auch noch „Adieu fraternité et égalité“ bedeuten. Es sei denn, bei den Parlamentswahlen im Juni kommt es zu einer Wiedergeburt der Linken, die sich bemüht, Gleichheit und Brüderlichkeit vor noch mehr neoliberaler Politik zu schützen. Dann würde ich die Kisten vielleicht wieder hinten im Keller verstauen und un tout petit peu aufatmen.
Macrons Sieg ist nicht die Niederlage des Populismus
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Kommentare 3
Ein zwar kurzer, aber treffender Kommentar. (Ein "Kulturkommentar" muss schließlich nicht nicht immer 300 oder 400 Seiten bestehen.)
Die Wahl zwischen Macron und Le Pen ist wie die sprichwörtliche Wahl zwischen Pest und Cholera. Da vor allem die Pest aka der "Schwarze Tod" heutzutage in Europa nurmehr selten auftritt, sollte man das Sprichwort vielleicht aktualisieren bzw. modernisieren/reformieren: Wie die Wahl zwischen Lungenkrebs und Leberkrebs.
Bleibt die Frage: Wer ist die Pest und wer die Cholera bzw. wer von den beiden ist Lungenkrebs und wer ist Leberkrebs?
Das Risiko für den Lungenkrebs hätten Kettenraucher durch die Wahl von Mélenchon im 1. Wahlgang allerdings ganz stark minimieren können. Beim Leberkrebs ist das schon erheblich schwieriger.
"Denn ganz ehrlich: Hätten Sie Lust, in einem Land zu leben, in dem eine Rechtsextreme das Sagen hat?"
Und ebenso ehrlich: Haben Sie Lust, in einem Land zu leben, in dem ein rechter neoliberaler Schofel das Sagen hat, der nur gewählt wurde, weil eine Rechtsextreme in Frankreich Gott sei Dank keine Chance hat, der daraus aber die Legitimation für weitere soziale Grausamkeiten zieht? Fünf weitere Jahre Macronie!
Die "Wiedergeburt der Linke" bei den Législatives, sie wird stattfinden, ja, aber sie wird wohl nicht reichen. Ein Ministerpräsident Mélenchon als Gegenpower gegen die Finanzmacht, es ist schwer, daran zu glauben.
Yanis Varoufakis im Freitag: "Die Lehre aus Macrons Wiederwahl ist, dass in einer Klassengesellschaft die Spaltung zwischen links und rechts essenziell bleibt." --- Solange es der herrschenden Klasse gelingt, die Bevölkerung in links und rechts zu spalten, können ihre politischen Vertreter weiterregieren. Sie wird daher auf vielen Wegen alles mögliche tun, um diese Spaltung aufrecht zu erhalten. Dazu gehört das Schreckgespenst Le Pen zu hegen und zu pflegen. Hoffentlich fallen bei der nächsten Präsidentenwahl nicht wieder Hunderttausende auf den von der herrschenden Elite konstruierten Popanz der angeblich so gefährlichen Marine Le Pen herein. Eine reale Gefahr für die herrschende Klasse ist nur mit einem Bündnis aus rechter und linker Politik möglich. Konkret in Frankreich: Nur ein Bündnis von Le Pen und Melenchon wäre in der Lage gewesen, den Wahlsieg von Macron zu verhindern. Le Pen könnte jetzt Präsidentin sein, wenn Melenchon einen Bündnisvertrag mit ihr geschlossen hätte. Da die Linken (nicht die Rechten) dieses Bündnis nicht denken können, werden die politischen Vertreter der herrschenden Klasse in den nächsten Jahrzehnten weiter regieren. Einen Machtwechsel wird es in absehbarer Zeit nicht geben. Die Frage ist: Wollen die Linken überhaupt einen wirklichen Machtwechsel? Wollen sie konkret dafür sorgen, dass a) die Lohnabhängigen mehr bekommen oder wollen sie b) ihr eigenes Seelenheil pflegen? Bisher hängen sie bei b).