„Männer dürfen von Natur aus autoritär sein“

Porträt Anne Hidalgo will Paris zur Hauptstadt der Fahrradfahrer machen, fördert Start-ups und nennt sich Feministin. Quel scandale!
Ausgabe 12/2020
Anne Hidalgo wurde als Migrantentochter zur ersten Bürgermeisterin von Frankreichs Metropole. Sie kämpft für eine grüne und soziale Stadt
Anne Hidalgo wurde als Migrantentochter zur ersten Bürgermeisterin von Frankreichs Metropole. Sie kämpft für eine grüne und soziale Stadt

Foto: Andreas B. Krueger für der Freitag

Regionalwahlen in Zeiten von Corona, die Franzosen verzichten auf „la bise“, das Wangenküsschen. Ein nationales Kulturgut, dem Virus zum Opfer gefallen. Auch Anne Hidalgo ändert ihre Gewohnheiten, grüßt mit dem Ellenbogen.

An einem verregneten Märztag will sie über die digitale Zukunft der Stadt reden. Sie tritt auf eine kleine Bühne auf dem Gelände des größten Start-up-Campus der Welt. Hidalgo braucht weder auffälliges Make-up noch einen glamourösen Auftritt, ihre Strahlkraft wirkt auch so.

Sie lässt erst mal die anderen reden, ein Moment Pause – am Vorabend hat sich die 60-Jährige in einer TV-Debatte ihren politischen Herausforderern gestellt.

Der Termin in der „Station F“ ist ein Heimspiel; in dem zum Digitallabor umgebauten ehemaligen Güterbahnhof im Schatten der imposanten Nationalbibliothek empfängt man Hidalgo mit offenen Armen. Dieser sogenannte Inkubator der internationalen Start-up-Szene ist eines der „Babys“ ihrer Amtszeit. Kein Geringerer als der milliardenschwere Telekommunikationsunternehmer Xavier Niel ist hier Hausherr und spendabler Investor. Er gibt sich an diesem Tag höchstpersönlich die Ehre und hat gleich seinen Sohn mitgebracht: jung, dynamisch und technologisch soll es zugehen. Auf Flachbildschirme werden Grafiken projiziert, die Farbe Grün überwiegt. Hidalgo hat sich den Ruf als ökologische Vorreiterin selbst verordnet.

Paris soll zur Stadt der kurzen Wege werden, einem Mekka für Radler und Flaneure. Dafür sollen Parkplätze massiv reduziert werden. Seit ihrem Amtsantritt vor fünf Jahren sind rund 40 Hektar zusätzliche Parks und Grünbereiche entstanden.

„Es gibt jene, die Paris weiter verändern wollen, weil es eine Stadt ist, die uns zwingt, die Zukunft zu denken und nicht nur Fragen des Alltags zu lösen. Und es gibt jene, die einen Rückschritt wollen, die all das beenden wollen, was für die Energiewende und die soziale Mischung angeschoben wurde.“ So sagt es Hidalgo, politische Rhetorik.

Es ist ein personalisierter Wahlkampf, die drei aussichtsreichsten Bewerberinnen sind Frauen. Neben Hidalgo tritt einerseits die Konservative Rachida Dati an, ehemalige Justizministerin unter Sarkozy, dann Europaabgeordnete und jetzt Bürgermeisterin des vornehmen 7. Arrondissements. Zum anderen Agnès Buzyn, die bis vor wenigen Wochen noch Gesundheitsministerin war, sie musste quasi über Nacht für Benjamin Griveaux in die Bresche springen. Der Kandidat für Macrons Partei La République en marche (LRem) trat zurück, nachdem der russische Künstler Pjotr Pawlenski Videos veröffentlicht hatte, die Griveaux beim Masturbieren zeigten – es tauchten zudem intime Chatnachrichten von Griveaux auf, Hinweise auf eine außereheliche Beziehung. Der Pariser Wahlkampf hatte sein Erdbeben. Es mussten eiligst Plakate mit der neuen Kandidatin gedruckt werden, der zwar kaum Chancen auf den Sieg vorausgesagt werden, die allerdings tapfere Miene zu diesem politischen Spiel machen musste, als habe sie nie etwas anderes gewollt als das Pariser Rathaus.

Dabei hat sich auch ohne den Griveaux-Skandal die politische Landschaft in Frankreich drastisch verändert, seit Anne Hidalgo 2014 in die Mairie einzog und damit nach 13 Jahren ihren Mentor Bertrand Delanoë beerbte, dessen Stellvertreterin sie mehrere Jahre war.

Ihre Kameraden der Parti socialiste (PS) dürften sich wenig gefreut haben, dass Hidalgo den Exodus ihrer Partei bequem aus ihrem prachtvollen Büro im Pariser Rathaus beobachten konnte und jetzt statt für den PS unter dem Slogan Paris en commun – gemeinsam in Paris – antritt. Es stehen kaum noch PS-Mitglieder auf Hidalgos Wahlliste.

Sie setzt, wie im Moment viele andere Politiker im Land, auf Kandidaten der Zivilgesellschaft und vermeidet alle Bezüge zu den ehemals stolzen französischen Sozialisten, denen sie bei den letzten Wahlen 2014 noch als Hoffnungsträgerin galt. Damals hieß der französische Präsident François Hollande, mit dem ihr lange Zeit ein Verhältnis nachgesagt wurde. Es ging bis hin zur Behauptung, Hollande sei der Vater von Hidalgos jüngstem Sohn Arthur, was für einige Unruhe in ihrer fünfköpfigen Patchworkfamilie gesorgt haben soll – und für ein Dauerfeuer in der People-Presse. Ihr Ehemann Jean-Marc Germain, ebenso Mitglied der französischen Sozialisten, der bereits verschiedene politische Ämter innehatte, bleibt diskret im Hintergrund. Sie wolle ihr Privatleben, ihre Kinder so weit es geht schützen, sagt Hidalgo immer wieder in Interviews. Als sie vor einigen Wochen zum zweiten Mal Großmutter wurde, ging auch das natürlich durch die Presse.

Sie ist das Kind spanischer Einwanderer, die 1959 nach Frankreich siedelten, ohne die Sprache zu beherrschen, ihr Leben erzählt eine klassische Aufsteigergeschichte.

Doppeltes Handicap

Ana, die erst in Frankreich zu „Anne“ wird, nachdem sie als 14-Jährige die französische Staatsbürgerschaft angenommen hat, stammt aus bescheidenen Verhältnissen, die Mutter ist Schneiderin, der Vater Elektriker. Anne studiert dennoch Sozial- und Gewerkschaftsrecht und besteht die äußerst schwierige Aufnahmeprüfung für die Arbeitsrecht-Aufsichtsbehörde. Als eine von wenigen Frauen und noch weniger Personen mit Migrationshintergrund fällt sie schnell als politisches Talent auf. Mit diesen beiden „Handicaps“, so sagt sie es, musste sie doppelt so hart für ihren beruflichen Erfolg arbeiten. Sie zog als erste Frau ins Pariser Rathaus ein.

In einem zentralistischen Land wie Frankreich, in dem Paris immer die erste Geige spielt, dekoriert sie die Bühne für das politische, wirtschaftliche und kulturelle Leben im gesamten Land und repräsentiert die Stadt auf ihren Auslandsreisen. Sie nennt sich „Feministin“, was sie in den Augen konservativer Kritiker noch unausstehlicher macht. Hidalgo sagt zum Beispiel dem Frauenmagazin Marie Claire: „Frauen werden oft mit Mutterschaft in Verbindung gebracht, mit Milde, Zurückhaltung. ‚Drängel dich bloß nicht in den Vordergrund!‘, lernt man als kleines Mädchen. Bei Männern gehört Autorität von Natur aus dazu.“

Während sich an diesem Wahlkampftag ein Mann bemüht, neue Apps vorzustellen, mithilfe derer die Pariser in Zukunft alle administrativen Vorgänge leichter abwickeln sollen, versuchen Fotografen und Kameraleute in der „Station F“ wieder einmal Hidalgos Gesichtsausdrücke und Gesten einzufangen. „Madame la Maire“ muss auf der Bühne fast zwei Stunden dauerlächeln und Selbstbeherrschung zeigen: bloß nicht gelangweilt wirken, möglichst wenig aufs Handy schauen. Sie weiß, wie sehr ihr Charakter die Meinungen spaltet. Nicht nur seitens der Pariser, auch bei ihren Mitarbeitern, von denen einige sie als „grundsympathisch“ und „charmant“ beschreiben, andere ihr einen „Hang zu Autorität“ und „fehlende Führungsstärke“ attestieren.

Seine Chefin habe ein „ineffizientes Vorgehen mit Alleingängen und fehlender Konstanz“, damit begründete Hidalgos engster Mitarbeiter und Stellvertreter Bruno Juillard seinen Rückzug aus dem Rathaus 2018. Sein Nachfolger Ian Brossart, Mitglied der französischen Kommunisten, verteidigt hingegen Hidalgos Politik, er fordert wie sie mehr Restriktionen auf dem Wohnungsmarkt.

Wie schafft es Hidalgo, die Sympathien von einem Kommunisten und Leuten wie dem Milliardär Xavier Niel zu vereinen? Es hat ihr geholfen, dass sie während ihrer Amtszeit weniger als Politikerin, mehr als Krisenmanagerin jenseits von Parteigrenzen agieren musste: nach den Anschlägen auf Charlie Hebdo und einen jüdischen Supermarkt im Januar 2015, nach der Terrornacht vom November wenige Monate später mit mehr als 130 Toten. Nach zwei bedeutenden Überschwemmungen, mehreren Hitzewellen und schließlich der brennenden Kathedrale Notre-Dame 2019.

Immer eilte sie sofort an den Ort des Geschehens, fand tröstende Worte, behielt die Contenance – sie war besonnen, wenn andere in Panik verfielen oder voreilige Schlüsse zogen. Sie handelte nach der Devise, die schon auf mittelalterlichen Stadtwappen von Paris eingeschrieben war: Fluctuat nec mergitur – Sie schwankt, aber sie geht nicht unter.

Als François Hollande sie mit der Olympia-Bewerbung von Paris für die Spiele 2024 überrumpelte, machte sie sich das Projekt zu eigen, deklarierte es zur Chance für sozialen Wohnungsbau und ist bislang auf nur wenig Widerstand für die damit verbundenen großen Umbauten der Stadt gestoßen.

Wer in den letzten Jahren den Wandel von Paris miterlebt hat, konnte sehen, wie Hidalgo das Gesicht der Stadt verändert hat. Sie sorgte für die Verdrängung von Autos zugunsten neu gebauter Fahrradwege. Zuletzt stiegen im Zuge der wochenlangen Streiks gegen die Rentenreform noch mehr Pariser aufs Rad um, auch wenn die Stadt mit Berlin oder Amsterdam längst nicht mithalten kann. Sie öffnete die Seine-Ufer für Fußgänger, ein weiteres Vorzeigeprojekt ihrer Amtszeit, es war von vehementem Widerstand begleitet, befeuert von Konservativen aus den westlichen Stadtvierteln, die darin geradezu eine Gängelung ihrer meist besser situierten Klientel witterten, die meist mit privatem Pkw in der Stadt unterwegs ist.

Schutz vor Airbnb

Hidalgo hält dagegen, die Stadt der Zukunft lebe von grünen Mobilitätsformen, und betont: „Im Kontext des Klimanotstands und in einem zersplitterten Land muss man fest stehen, aufrichtig, engagiert sein und sich nicht beeinflussen lassen.“ Klingt sehr präsidial.

Als Bürgermeisterin kann sie durchaus Konkretes vorweisen; in Paris haben sich viel befahrene Kreisverkehre, wie die Place de la Bastille, in fußgängerfreundliche Zonen verwandelt. Vor allen Dingen will sie die Stadt vor dem Ausverkauf schützen, sei es von Uber oder Airbnb. Das Leben in einer der teuersten Metropolen der Welt will sie für jene erschwinglich halten, die hier arbeiten. Touristen und ausländischen Spekulanten will sie härter begegnen.

Als auf der Veranstaltung eine Frage aus dem Publikum zu diesem Thema kommt, lässt sie ihren Wahlkampfberater antworten, der dann noch ein bisschen über die Netzabdeckung mit 5G schwadroniert, was die Start-up-Klientel hier zu freuen scheint.

Hidalgo will (in einer möglichen zweiten Amtszeit) den Spagat schaffen, Paris für Investoren reizvoll machen und weiter das Prinzip der inklusiven Stadt angehen, die einen menschlichen Umgang mit Flüchtlingen findet.

Sicherheit und Sauberkeit, die sie als „Lieblingsthemen“ ihrer Herausforderinnen identifiziert, seien dafür nicht ausreichend – selbst wenn gerade die hygienischen Zustände in den Flüchtlingszeltlagern im Norden der Stadt viele Pariser gegen ihre Bürgermeisterin aufbrachten.

Wie sie ihren TV-Auftritt empfunden habe?, fragt das französische Fernsehen. „Das ist hier nicht das Thema, jetzt geht es um Digitales. Fragen Sie das doch zu einem anderen Zeitpunkt“, weist sie die Journalistin zurecht. Genauso wenig schätzt sie Fragen zu ihrer politischen Zukunft oder gar zu Ambitionen auf das Präsidentenamt.

Schließlich gilt der Bürgermeisterposten als Sprungbrett für höhere Ämter, Jacques Chirac hat es vorgemacht. Hidalgo ist es immerhin zu verdanken, dass man für die Strecke vom Pariser Rathaus bis zum Élysée-Palast nur noch 14 Minuten braucht – auf einem neuen Fahrradweg.

Sonderfall an der Seine

In Frankreich, mit seinen drei Mal mehr Gemeinden als in Deutschland, haben Bürgermeister eine klar stärkere Position. Das geht noch zurück auf die Zeit der Französischen Revolution. Paris ist ein Sonderfall unter den Gemeinden, allein schon wegen seiner Größe und mehr als zwei Millionen Einwohnern hat es seine Bedeutung im Machtgefüge des Landes.

Erst seit 1977 werden die Geschicke der Stadt aus dem Hôtel de Ville heraus gelenkt, zuvor wurde sie von der Zentralregierung, also dem Präsidenten mitregiert. Im zentralistischen Staat sollten Hauptstadt und Regierung prinzipiell vereint agieren. Der erste Bürgermeister war der konservative, spätere Präsident Jacques Chirac. Seit Beginn des neuen Jahrtausends wird Paris hingegen durchgehend von Sozialisten regiert. Das französische Wahlrecht belohnt die stärkste Partei überproportional. Wer es bei den Gemeindewahlen schafft, die Zehn-Prozent-Hürde zu überwinden, kommt in den zweiten Wahlgang. Weil die nationalen Politiker und Parteien bei Franzosen gerade ziemlich unpopulär sind, treten viele Kandidaten als Unabhängige an und betonen, dass sie mit den etablierten Politikern nichts zu tun hätten. Sie fürchten, sonst nicht gewählt zu werden. Anne Hidalgo setzt auf E-Mobilität. Alles, was im Alltag gebraucht wird, soll zu Fuß erreichbar sein. Nicht mehr „Métro, Boulot, Dodo“ – Pendeln, Arbeiten, Schlafen.

Am letzten Sonntag fand die erste Runde der Kommunalwahlen statt. In Paris landete Anne Hidalgo mit 30 Prozent klar vorne. Ob die zweite Wahlrunde am 22. März stattfinden wird, war wegen der Coronakrise bei Redaktionsschluss noch unklar.

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Geschrieben von

Romy Straßenburg

Lebt als freie Journalistin in Paris. Ihr Buch "Adieu Liberté - Wie mein Frankreich verschwand" ist im Ullstein-Verlag erschienen.

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