Hinter der westlichen Pariser Stadtgrenze beginnt die Kleinstadt Nanterre. Ab und zu kommen Architekturstudenten her und besuchen die „Tours nuages“, die Wolkentürme. Sie sind das Wahrzeichen der „Cité Pablo Picasso“ und ein Vorzeigeprojekt des sozialen Wohnungsbaus aus den Siebzigern. Heute ist das Quartier heruntergekommen. Graublaue Mosaike zieren noch die gewölbten Fassaden mit Fenstern in Form von Wassertropfen. Wer herausschaut, sieht das angrenzende Pariser Viertel La Défense mit seinen gläsernen Wolkenkratzern. Zwischen dem sozialen Brennpunkt Nanterre und dem renommierten Geschäftsbezirk liegen kaum 200 Meter. Doch vergleicht man das Leben der Turmbewohner auf beiden Seiten, könnte man meinen, es fände in verschiedenen Ländern statt.
Tiefe gesellschaftliche Gräben sind nicht neu: 2005 brannten Hunderte Autos in den Vorstädten. Die Gewalt zwischen Jugendlichen und der Polizei eskalierte, die Banlieue wurde zum Synonym für eine gescheiterte Integration maghrebinischer Einwanderer. Doch hat auch die brüchige Moral der höheren Schichten die Gesellschaft nicht eben beglückt. Anfang des Jahres war viel vom sittlichen Verfall der Eliten die Rede, als Haushaltsminister Jérôme Cahuzac wegen wiederholter Lügen über ein Schweizer Bankkonto zurücktreten musste.
Furcht vor dem Fremden
Mit dem Antritt des Präsidenten François Hollande im Mai 2012 hatten sich manche Erwartungen verbunden. Sein Wahlkampfslogan hieß: „Der Wandel ist jetzt!“ Als er ein Jahr später auf Sommertour händeschüttelnd durchs Land tourte, fragten ihn enttäuschte Landsleute: „Wann ist ‚jetzt‘, Monsieur le Président?“ Der angekündigte Wandel, der große Wurf sind ausgeblieben. Die Franzosen empfinden ihren Staatschef als zu unentschlossen, als einen Hypnotiseur, der einschläfert statt aufzurütteln. Ein „normaler Präsident“ wolle er sein, hatte Hollande versprochen, ganz anders als sein omnipräsenter, hyperaktiver Vorgänger Sarkozy. Doch in Krisenzeiten sehnt sich das Volk nach starken Händen, die zupacken und soziale Gräben zuschütten helfen, wo es not tut.
Am Gare Nanterre-Université halten die Vorstadtzüge der Linie A. Vor der Bahnhofshalle im Café de l’Université lehnt Monsieur Gérard an seinem Tresen. Eine Handvoll Männer verfolgt mit Wettscheinen in der Hand ein Pferderennen im Fernsehen. Der Patron weiß Bescheid, worüber sie sprechen, die Menschen in seinem Bistro und im Rest des Landes. Er kennt die Reizworte, die für Aufregung sorgen, zum Beispiel Brignoles in Südfrankreich, wo Marine Le Pens Front National (FN) gerade die Kantonalwahl gewonnen hat, oder Leonarda, wie die 15-jährige Kosovarin heißt, die von der Polizei während eines Schulausfluges abgefangen und ausgewiesen wurde. „Zu Recht!“, findet Alain, der viel Zeit im Café verbringt, seit er seinen Job auf einer Baustelle verlor. „Ihre Familie hat gegen französisches Recht verstoßen, der Vater unsere Beamten bedroht und gelogen, um Asyl zu bekommen“, klagt der 36-Jährige. Umstehende nicken, andere schauen weg.
Durch die französische Öffentlichkeit geistern in diesen Tagen wieder einmal die Themen Einwanderung und innere Sicherheit. „Eine französische Obsession“, konstatiert das Onlinemagazin Slate. „Unsere Politiker tragen genauso zu dieser Hysterie bei wie die Medien. Eine verängstigte Gesellschaft fürchtet sich vor dem Fremden. Einige Zeitungen berichten aggressiv über den Islam oder die Roma-Minderheit. Das erweckt den Eindruck, das Land rücke nach rechts. Dabei glaube ich an die Weltoffenheit der Franzosen, an ihren Wunsch, Dinge zu verstehen, und an ihr politisches Bewusstsein“, meint Johan Hufnagel, der Chefredakteur von Slate.
Der Geist des Aufruhrs und der Sehnsucht nach einer humaneren Gesellschaft schwebt noch immer über dem weitläufigen Campus der Universität von Nanterre. Hier begann Frankreichs Mai 68, nachdem Studenten die Hörsäle besetzt hatten. Heute muss Universitätspräsident Jean-François Balaudé seine geisteswissenschaftlichen Semester auf einen Arbeitsmarkt vorbereiten, der nicht auf sie wartet. Politisch aktiv sei heute nur noch eine Minderheit, erzählt Balaudé. „Was unsere Studenten umtreibt, das ist die Frage, wie man sich mit Nebenjobs das Studium finanziert.“ Doch ließen sich die Werte des Humanismus mit den Realitäten des Kapitalismus versöhnen, glaubt Balaudé. Er setze große Hoffnungen auf ein soziales Unternehmertum. „Unsere Studenten sollen sich auch im Privatsektor integrieren, nicht nur in staatlich finanzierten, akademischen oder administrativen Arbeitsbereichen.“
Noch immer liegt die Staatsquote in Frankreich bei 57 Prozent, die sozialistische Regierung tut sich schwer, etwas daran zu ändern. Überzeugende Reformvorstellungen, wie die immens hohe Staatsverschuldung von mehr als 90 Prozent der jährlichen Wirtschaftsleistung gesenkt werden soll, ist Hollande bisher schuldig geblieben. Zu häufig schon haben er und sein Premier Jean-Marc Ayrault diesen oder jenen Schwenk angekündigt und kurz darauf erneut die Richtung gewechselt. „Ein Schritt nach vorn, zwei Schritte zurück: Das ist die Regierungspolitik!“, singt man in Frankreich auf Demonstrationen. Es hat den Anschein, als sei Hollande so unbeliebt wie kein Amtsvorgänger aus der Zeit der V. Republik. Doch nichts muss er mehr fürchten als das stetig stärker werdende „marineblaue“ Frankreich des Front National.
Avenue Vladimir Ilitch
Nanterre wird seit Jahrzehnten von kommunistischen Bürgermeistern regiert. Trotzdem hat hier der Front National vor fünf Jahren seine Parteizentrale bezogen, gleich neben der Avenue Vladimir Ilitch Lénine. In einer ruhigen Straße mit gutbürgerlichen Einfamilienhäusern steht der dreistöckige Neubau. Im Eingangsbereich liegen Prospekte aus. Zwölf Fragen soll man mit Ja oder Nein beantworten. Am Ende lassen sich zwei Felder frei rubbeln. „Sie sind Front National, treten Sie bei!“, verkündet das eine. „Noch sind Sie nicht Front National, aber es wird nicht mehr lange dauern!“, verspricht das andere. Hinter seinem sorgfältig aufgeräumten Schreibtisch plant Wallerand de Saint-Just die nächsten öffentlichen Auftritte. Im März kandidiert der 63-Jährige für das Amt des Pariser Bürgermeisters. Zudem vertritt er als Anwalt den FN in allen juristischen Fragen. Kürzlich drohte er den Medien, sie müssten mit Prozessen rechnen, sollten sie die Partei in die Nähe von Nazis, Rassisten und Antisemiten rücken.
Saint-Just sitzt vor einer Tapete im Bücherwand-Look. Alles an ihm wirkt gutmütig: das lichte graue Haar, der Schnauzbart, die randlose Brille, die sanfte Stimme. „Eines der wichtigsten aktuellen Phänomene in Frankreich ist die Bedeutung des Islam. Den Franzosen fällt es immer schwerer, das zu ertragen.“ Den islamischen Einfluss und „eine entfesselte Einwanderung“ zu stoppen, sei dringend geboten. Innenminister Manuel Valls habe das erkannt. Wenn heute auch die etablierten Parteien darüber debattieren, ob Abstammung oder Geburtsort über die französische Staatsbürgerschaft entscheidet, „dann legitimiert das doch nur unseren Standpunkt“, findet Saint-Just. Rassistisch sei die Partei deswegen „ganz und gar nicht“.
Unter Marine Le Pen habe sich der FN verbürgerlicht, nicht aber das Parteiprogramm, so der Politologe Jean-Yves Camus. Ein Dilemma für Hollandes Sozialisten, ebenso für die konservative UMP. Einerseits wollen sie ihre Wähler nicht an den Front verlieren, andererseits spielt jeder ihrer Schritte nach rechts den Marineblauen in die Hände. Umso mehr Verantwortung laste auf Manuel Valls, dem Ambitionen auf das Präsidentenamt nachgesagt werden. „Der Posten des Innenministers ist in unserem zentralisierten Land von strategischem Wert. Von Naturkatastrophen über Verkehrsunfälle bis zur Verbrechensbekämpfung – er ist ständig medial präsent. Viele Sozialisten kritisieren Valls für seinen sarkozystischen Stil der harten Hand, doch Hollande braucht seinen beliebtesten Minister. Solange die Politik nicht den Mut hat, offen zu sagen, dass sich die Welt verändert hat und daher auch Frankreich sich ändern muss, wird die Identitätsdebatte weitergehen.“
Präsident Hollande ermutigt seine Landsleute am liebsten mit Sätzen wie „Frankreich ist ein großes Land mit einer großen Geschichte.“ Er blendet die lange gehegten Privilegien der Eliten ebenso aus wie die Kritik an einem in sich geschlossenen Bildungswesen, das vielen den Weg nach oben versperrt und sie zwingt, zu den Turmbewohnern von Nanterre zu gehören. Aber solange noch nicht alles versucht wurde, die strukturellen Missstände zu überwinden, ist noch nicht alles verloren. Die Republik kann wieder zu sich selbst finden. Die Hölle sind nicht immer die anderen.
Romy Straßenburg lebt in Paris. Sie schrieb auf freitag.de zuletzt über die Ausweisung der kosovarischen Schülerin Leonarda.
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