Petit Chablis oder doch lieber ein Glas Sancerre? Diese Frage stellt sich Jonas Becker gefühlt gleich mehrere Male am Tag – ob beim postkoitalen Lunch mit seiner neuen französischen Bekanntschaft Christine oder bei einem der zahlreichen Treffen mit dem alternden Richard Stein, den er als junger Mann verehrt hat und über den er nun eine Biografie schreiben will. Dafür ist er ja extra nach Paris gezogen. Seine Berliner Agentur für die Vermittlung von allen denkbaren Experten hat er aufgegeben, ebenso seine sich seit langem ausschleichende Beziehung zu Corinna. Das Leben des zwar kommerziell nie erfolgreichen, aber irgendwie mythischen österreichischen Schriftstellers Stein aufzuarbeiten, das scheint immerhin ein Plan zu sein für den Neuankömmling, der in der Rue Oberkampf im 11. Arrondissement ein kleines Studio bezieht.
Neobistros, Boutiquen, Yoga
Hier beginnt Hilmar Klutes neuer Roman Oberkampf. In einem Pariser Stadtteil, fest in der Hand der zugezogenen Bourgeois-Boheme, einer Gesellschaftsschicht, die auf Französisch spöttisch als „bobo“ bezeichnet wird. Auf dieser Insel aus Neobistros, Boutiquen und Yoga-Studios geht es jenen am besten, die sich ganz ihrem Lebensstil widmen und sich auf die eigenen Befindlichkeiten konzentrieren können und diese möglichst kreativ verarbeiten wollen. Allein für die regelmäßigen Treffen mit dem Literaten Stein geht Jonas auch ein paar Schritte weiter in den Norden, ins Quartier de Belleville, wo es so schön angenehm „authentisch“ zugeht, weil man hier ein paar mittellose Proletarier und chinesische Einwanderer beobachten kann. Alles könnte so schön, so klischeehaft sein ....
Doch kaum hat Jonas seine Pariser Mansarde bezogen, stürmen islamistische Attentäter die Redaktion des Satiremagazins Charlie Hebdo und hinterlassen ein Blutbad, tags drauf trifft es einen jüdischen Supermarkt. Die Ereignisse treffen Frankreich ins Mark und trüben die Schlummerstunden mit Christine. Dabei reagiert der Neuankömmling Jonas Becker wie einer der mittelalten weißen Männerfiguren von Michel Houellebecq, nämlich gelassen bis gleichgültig. „Sein Gefühl war eine Art sensationelle Niedergeschlagenheit, eine exklusive, fast genussvolle Empfindung, fernem Leid auf relativ erträgliche Weise beizuwohnen. (...) mitten in Europa geschieht die Barbarei, als hätte es dergleichen zuvor nie gegeben. Aber Jonas konnte sich aussuchen, ob ihn der Schrecken etwas anging oder nicht.“
Den Protagonisten fasziniert die Gewalt der Attentäter weit mehr als die Lebensgeschichte von Cabu, Charb oder Wolinski, sie werden nicht einmal namentlich erwähnt. „Dass er nichts fühlte, dachte Jonas, hatte vielleicht auch mit seiner Fremdheit zu tun; es ging ihn alles hier im Grunde nichts an. Und weil er einer von außen war, durfte er sich ein bisschen Kälte leisten; er war Ausländer, und das berechtigte ihn dazu, die Mörder als Figuren in einem Spiel zu betrachten.“ Mehr noch, Jonas empfindet fast so etwas wie Anerkennung für die Brüder Kouachi, die zwei Tage nach dem Charlie-Attentat auf der Flucht von der Polizei erschossen wurden: „(...) gehörte nicht im Gegenteil sehr viel Mut dazu, aus einer der elenden Hochhausburgen der Banlieues in die Stadt zu fahren, (...) bis sie das Haus gefunden hatten, in dem die Leute saßen, die ihren Gott verhöhnt hatten? War es nicht ein Heldenstück, sich den Weg freizuschießen, die Tür zum kleinen Redaktionsbüro aufzustoßen und dann direkt in die überraschten, noch von der Wirkung eines Bonmots, einer satirischen Idee erfrischten, lachenden Gesichter zu feuern?“
Adieu liberté
Hilmar Klute, Jahrgang 1967, geboren in Bochum, lebt heute in Berlin. Klute ist „Streiflicht“-Redakteur der Süddeutschen Zeitung. Sein hochgelobtes Debüt Was dann nachher so schön fliegt erschien 2018. Zum Zeitpunkt der Anschläge lebte Klute in Paris und berichtete für die SZ. Sein Roman Oberkampf (320 S., 22 Euro) ist bei Galiani Berlin erschienen.
Freitag-Autorin Romy Straßenburg,Jahrgang 1983, stammt aus Berlin. Seit vielen Jahren lebt und arbeitet sie in Paris. Straßenburg berichtet für zahlreiche deutsche und deutsch-französische Medien sowohl vor als auch hinter der Kamera, für arte ist sie unterwegs für die Reihe Regards und Moderatorin beim Kulturmagazin Twist. Sie war kurz als Chefredakteurin der deutschen Charlie-Hebdo-Ausgabe tätig. 2019 erschien ihr erstes Buch Adieu liberté. Wie mein Frankreich verschwand im Ullstein Verlag.
Weltgeschehen als Dekor
Hilmar Klute, der 2015 selbst in Paris gelebt und die Ereignisse journalistisch begleitet hat, hat mit Jonas Becker eine Figur geschaffen, die absichtlich nur Beobachter bleiben will, statt sich betroffen zu fühlen. Er schafft zum Terror eine bisweilen unerträgliche Distanz, weil Jonas’ Interesse an den Anschlägen ausschließlich den Abgründen der menschlichen Natur gilt, nicht aber den gesellschaftlichen Verwerfungen der bröselnden französischen Republik. Dabei gäbe es in Jonas’ Biografie sogar Anlass, sich für die soziale Frage zu interessieren: „Jonas’ Eltern waren Arbeiter, der Vater Maurer, die Mutter das, was man damals Tippse nannte, eine Sekretärin also. Im Regal standen Porzellanfiguren, blau-weiße Pudel aus einer Familienerbschaft. Dazwischen der eine oder andere Schinken aus dem Bertelsmann Buchclub.“ Jonas’ Weg aus einfachen Verhältnissen heraus und zu sich selbst ist das Lesen. Seine Liebe zur Literatur beschreibt Klute in ausgeklügelten Sätzen, die man ob ihrer sprachlichen Eleganz mitunter zweimal lesen möchte. Kein Wunder, immerhin betreut der Redakteur bei der Süddeutschen Zeitung seit Jahren das „Streiflicht“, links oben auf Seite 1. Und welcher Leser hat keine diebische Freude an diesen mit Humor und Anspruch verfassten Glossen, die sich den kleinen und großen Absurditäten der Welt widmen?
Schon der Debüt-Roman des Autors, Was dann nachher so schön fliegt (Galiani Berlin 2018), wurde von der Kritik insbesondere für seine sprachliche Raffinesse gelobt. Auch darin ging es um das Werdenwollen eines Schriftstellers, allerdings im Berlin der 1980er Jahre. Auf welche Weise die Begegnung mit Literatur – ob als Lesender oder Schreibender – auf die eigene Biografie wirkt, ist das Leitmotiv beider Bücher. Der historische Kontext, das Weltgeschehen, ist eher Dekor als Sujet selbst. So überlegt sich auch Jonas, ob man, statt sich den Zumutungen von Geschichte und Wirklichkeit zu stellen, viel lieber sein eigener Roman werden und sich mit Steins egomanischer Literatur befassen sollte. Selbst ein Ausflug in die verwahrloste Banlieue an der Seite von Christine wird zum „Elendserlebnis“ für die beiden Bobos, das Jonas gewohnt pragmatisch kommentiert: „Sieh dich doch um. Sieh dir die Häuser an, die Menschen, den ganzen Müll hier. Du kommst aus so etwas nicht raus.“
Auch der Roman kommt selten raus aus dem 11. Pariser Arrondissement und auch nicht aus Jonas’ permanenter Selbstbefragung über den Sinn seines Paris-Plans, zumal Altschriftsteller Stein statt einer Biografie bald ein Interviewbuch vorschwebt und er Jonas zum Protokollanten seiner elend langen, egozentrischen Erkenntnisergüsse degradiert. Sogar seine jüngste Vergangenheit scheint Jonas zu entgleiten, als er Besuch von seinem erfrischend unkomplizierten Freund Fabian bekommt. Im letzten Drittel des Buches kommt hingegen ein bisschen Roadmovie-Feeling auf, als Jonas mit Stein eine Reise in die USA unternimmt, um dessen zum Junkie gewordenen Sohn aufzustöbern. Der alte Mann, der ihn so lange fasziniert hat, wird immer mehr zu einem bemitleidenswerten, abstoßenden Exzentriker. Das Jahr zieht ins Land, und als der Herbst beginnt und Christine Jonas unbedingt zu einem Konzert im Rockclub Bataclan schleppen will, schwant dem Leser, wie Jonas’ Paris-Aufenthalt zu Ende gehen wird. Das Terrorjahr 2015 ist noch nicht vorbei.
Klutes Roman ist immer dann am stärksten, wenn man in Jonas’ innerliche Verrohung, in seine Gewaltfantasien reinhorchen darf. Wenn er sich vorstellt, auch selbst so radikal-brutal-mutig gegen die Welt vorzugehen, wie es die Attentäter tun. Wenn es im nächsten Augenblick wieder zur fröhlich-verzückten Wein- und Speiseverkostung kommt, dann entsteht ebenjener Zynismus, der für die apolitische Dekadenz der Bobos so typisch ist, die Klute letztlich gekonnt vorführt. Bis auf Christine und den lässigen Hausmeister Frankie trifft Jonas nahezu keine Franzosen, außer jenen, die ihm den Wein servieren. Doch gerade weil Klute sich nicht zum Seismografen der französischen Gesellschaft im Terrorjahr macht, öffnet sich eine andere Lesart von Jonas’ Paris-Abenteuer: Denn die dunklen Flecken, die inneren Dämonen, die blutigsten Mordgelüste, sie befallen selbst die Glückseligen im schön durchgentrifizierten Bobo-Land, und so wird auch der kultivierteste Schöngeist eines Tages die hässliche Fratze seiner selbst im Spiegel erkennen müssen.
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