„Wir lieben es, Tabus zu brechen“

Interview Marion Messina wird in Frankreich gefeiert. Das akademische Prekariat hat eine Galionsfigur – und die Arbeiterklasse auch
Ausgabe 10/2020

Im Nieselregen übergibt Marion Messina ihrem Freund noch schnell den Kinderwagen samt Baby, bevor sie das Café betritt. An der beheizten Terrasse eilen die Leute im Feierabendstress vorbei, der Kellner serviert draußen schon mal einen Chardonnay. Die 29-jährige Messina wurde 2017 mit ihrem Debüt Faux départ (Fehlstart) bekannt, sie wurde mit Michel Houellebecq verglichen – gemeint war die schonunglos böse Beschreibung der Wirklichkeit. Was bei Houellebecq der in Literatur gegossene bourgeoise Ennui ist, sind bei Messina soziale Tristesse und Frustration, Messina schreibt über ein Frankreich am Stadtrand, das „morgens um acht Uhr vor dem Lidl in der Schlange steht“, über ein akademisches Prekariat, das zwar den Bildungsaufstieg geschafft hat, sich aber von seinen Diplomen nichts kaufen kann.

Ihre Familie lebt noch immer als Teil der unteren Mittelschicht im ostfranzösischen Grenoble. Hier beginnt ihre eigene Geschichte und die ihrer Romanfigur Aurélie, die nichts mehr ersehnt, als ihrem Milieu zu entkommen, und an der Realität scheitert.

Zur Person

Marion Messina wurde 1990 im ostfranzösischen Grenoble geboren. Nach dem Abitur studierte sie Politik- und Agrarwissenschaften und arbeitete als freie Journalistin. Messina engagierte sich auch in der Gelbwestenbewegung. Ihr Romandebüt Faux départ erschien in Frankreich 2017, im Januar 2020 auf Deutsch (Fehlstart) bei Hanser, aus dem Französischen übersetzt von Claudia Steinitz (168 Seiten, 18 Euro)

der Freitag: Frau Messina, wenn man in einem, wie man so sagt, „bildungsfernen“ Milieu aufgewachsen ist, wie wird man dann zu einer Schriftstellerin?

Marion Messina: Das Bedürfnis zu schreiben, hatte ich sehr früh. Es gab in meiner Kindheit vor allem Beschäftigungen, die meine Eltern nichts kosteten. Die Bibliothek gehörte dazu. Ich verbrachte meine Zeit in Büchern versunken, konnte mit drei oder vier Jahren lesen und begann mit sechs Jahren selbst Geschichten zu schreiben, über all das, was mich als Kind umgab. Als ich später Grenoble verließ, um in Paris zu leben, gab es diesen entscheidenden Augenblick, den ich noch vor mir sehe: Ich stehe in einer Buchhandlung und sage mir, was ist das alles für ein Mist? All diese selbstreferenziellen, historischen und schlecht geschriebenen Romane. Dieses Milieu, das an Jean-Paul Sartre und Simone de Beauvoir anknüpfen will, jedoch nur sich selbst bespiegelt und auf die Form fokussiert bleibt. Ich glaube, die Nachkriegsgeneration – in Frankreich nennen wir sie „les trente glorieuses“, die 30 boomenden Jahre – ist zwar materiell reicher geworden, aber die Literatur ist in dieser Zeit verarmt. Das war ein kleines Milieu in Saint-Germain-des-Prés, und mit dem Ende des Algerienkrieges gab es keine große soziale Frage mehr, über die man sprechen konnte, der Roman wurde zu einer reinen Stilübung.

Aber auf Ihrem Lebensweg gab es noch einen Umweg, und der führte Sie zur Landwirtschaft?

Ja, ich machte eine Ausbildung als Landwirtin und traf dann in meiner alten Heimat Grenoble auf einen Kreis sehr alternativer Menschen, die sich für Bioethik interessierten – da gab es dann weniger Bücher, aber eine Menge Ideen und ein anderes Verhältnis zur Zeit und zum Geld. Das war so meine alternative, ausschweifende Underground-Phase. Aber Landwirtschaft war so anders als in meiner Vorstellung. Ein unerträgliches Universum, das sich zwar wandelt, doch das braucht Zeit. Ich merkte, jetzt muss ich mich mal ins Leben werfen. Mein Gehirn schien zu explodieren. Um mich herum waren Menschen um die 30, die immer danach strebten, eine Prüfung zu bestehen, noch einen Abschluss zu machen. Die Angst vor Beziehungen haben, Angst vorm Kinderkriegen ...

Und dann erschien 2017 Ihr erster Roman „Fehlstart“. Wie war das Schreiben für Sie?

Ich hatte lange Zeit ständig Notizen gemacht. Dann aber sehr viel Zeit damit zugebracht, um mich zu entscheiden, ob ich nun in der ersten oder dritten Person schreibe, ob es eine männliche oder weibliche Figur wird und ob die Geschichte in Grenoble oder Paris beginnt ... das musste lange reifen. Es fühlte sich an wie eine geleugnete Schwangerschaft, aber als ich dann wusste, es wird die 17-jährige Aurélie aus Sicht eines unpersönlichen Erzählers, war kein Halten mehr – und plötzlich war das Baby da. Als es erschien, kam es mir wie eine Hommage vor, die ich dem Frankreich widmete, das bislang in der Literatur nicht vorkam.

Das war auch der Grund, warum Sie sich ein Jahr später an die Seite der Gelbwesten gestellt haben?

Als die Gelbwestenbewegung begann, war das geradezu eine Befreiung. Es war das Frankreich, das ich kenne, das sich plötzlich Gehör verschafft hat, nach Paris gereist ist, um auf die Straße zu gehen. Das war so erleichternd, dass sich endlich die Mehrheit zu Wort meldet. Diese Mehrheit wird verachtet von den wenigen, die sich auf ihre Kosten bereichern. Ich habe nie vergessen, wo ich herkomme, was für Scheißjobs ich gemacht habe, dass ich am Stadtrand von Paris lebe, wo jeden Morgen ab acht Uhr eine Schlange vor dem Lidl steht. Was meine Generation betrifft, so hat uns der Zugang zur Pornografie geprägt, durch den wir eine standardisierte Vorstellung vom Sex haben, gleichzeitig gibt es ultrafeministische Ansichten. Wir haben eine neue Prekarität erlebt, selbst wenn wir haufenweise Diplome vorweisen können, die aber nichts mehr wert sind. Wir sehen, wie unmöglich es ist, Eigentum zu erwerben, wenn die Familie keinen Beitrag leisten kann. Bei uns überlagern sich wirklich viele Nachteile, und dann fragt man sich, ob das alles noch Sinn hat.

Und was macht die Literatur einer solchen Zeit aus?

Emmanuel Todd hat gesagt, es gäbe eine Post-68er-Literatur, nun sei es an der Zeit für eine Post-Gelbwesten-Ära. Da erscheinen neue Filmemacher und Schriftsteller auf der Bildfläche, eine Avantgarde; und ich sehe mich als ein Teil dieser Bewegung, die gerade mehr und mehr an Bedeutung gewinnt. Die wirtschaftliche Situation Frankreichs führt dazu, dass Leute, die Talent haben, die schreiben könnten und Bücher lieben, bei McDonald’s an der Kasse stehen. Damit eröffnet sich aber der Weg einer neuen, geradezu proletarischen Literatur, die nun zu einer Strömung wird. Auch die Helden aus Houellebecqs Romanen sehen keinen Sinn mehr, aber sie sind zehn bis zwanzig Jahre älter als wir, gehören noch zum Bürgertum, kommen ganz gut über die Runden und langweilen sich einfach. Bei mir geht es um Menschen, die sinnfreie Jobs machen, die sich erniedrigt fühlen, müde und ausgebrannt.

Wieso schaffen es vor allem französische Autoren/innen, diesen Menschen eine Stimme zu geben?

Das klingt vielleicht prätentiös, aber ich glaube tatsächlich, dass das an der französischen Gesellschaft liegt, an einem sarkastischen Unterton, an einer großen Authentizität, um die Realität zu beschreiben, und an einer exzessiven Schreibweise. Wir haben in unserem Land Tabus, und umso mehr lieben wir es, sie kaputtzuschlagen. Seit Rabelais gibt es das Abarbeiten am Bürgertum und eine Sprache, die alles andere als puritanisch ist. Wenn wir „Scheiße!“ sagen wollen, tun wir das. Ich bin immer hellhörig, was die Sprache von Menschen am Rande der Gesellschaft, abseits von Paris, angeht. Ich achte auf sprachliche Veränderungen, auf Jargon, auf das Vokabular. Die unterschiedliche Ausdrucksweise hat heute nichts mehr mit Regionen oder Dialekten zu tun, sondern mit einem Französisch, das urban geprägt ist, vom Dienstleistungssektor, vom Management-Englisch. Der Sprachgebrauch ähnelt sich in Paris, Lyon und anderen Städten, aber schon 50 Kilometer von Paris entfernt sprechen die Menschen anders.

Und warum reüssieren Autoren wie Didier Eribon oder Édouard Louis gerade in Deutschland ?

Vom Erfolg französischer Autoren in Deutschland hatte ich lange keine Ahnung. Für mich ist Deutschland fast wie ein fernes Land, selbst wenn es unser Nachbar ist, ich habe keine Verbindung zu ihm. Klar, ich war zunächst unsicher, ob diese Geschichte über ein Mädchen aus Grenoble auch übersetzt funktioniert. Aber mit ein bisschen Abstand sagte ich mir, hier geht es ja um unsere Epoche, in der sich alles beschleunigt. Heute ist es schon schlimmer als 2015, und 2022 wird es noch etwas schlimmer sein. Deswegen braucht es die Literatur, aber auch das Kino, um diese Phänomene zu verstehen, sie kommen zu sehen. Die Menschen suchen immer mehr nach realistischen Darstellungen, sie haben genug von Geschichten, in denen es um Millionäre in Manhattan geht. Stattdessen kann man ihnen klarmachen, dass ihre Empfindungen kollektiv sind und dass sie strukturelle Ursachen haben. Nein, ihr habt euer Leben nicht versaut, weil ihr mal in der Schule keine exzellente Note bekommen habt. Literatur kann dieses Schuldgefühl sprengen, kann sagen, das Aufstiegsversprechen in der französischen Gesellschaft, das einige Zeit sogar funktioniert hat, wenn ich an Albert Camus denke, gibt es nicht mehr.

Wie versteht sich diese neue Schriftstellergeneration untereinander?

Wenn wir uns auf Büchermessen begegnen, dann gleicht das fast einem Gewerkschaftstreffen, einer Gilde. Wir hängen dann zusammen, reden ganze Nächte über Bücher, betrinken uns und hängen am nächsten Morgen bei der Signierstunde durch. Auch Freundschaften sind so entstanden. Ich durfte Nicolas Mathieu kennenlernen, der mein Buch begeistert gelesen hat. Ganz anders ist das auf Pariser Empfängen, für die man sich noch ein Abendkleid leihen muss. Dort lernt man schnell, dass ein Buch ein Produkt ist, das man verkaufen muss. Der Schriftsteller handelt mit seiner eigenen Persönlichkeit, und das fällt mir schwer. Andere gleichaltrige Intellektuelle, wie Teile des „Comité invisible“, dessen Traktat Der kommende Aufstand ich als Jugendliche verschlungen habe, rufen zwar zum zivilen Ungehorsam auf, leben aber völlig zurückgezogen irgendwo auf dem Land. Sie lieferten ein Konzept, aber was daraus wird, scheint sie nicht sonderlich zu kümmern. Für mich ist Crépuscule von Juan Branco das Buch zur Gelbwestenbewegung, weil er selbst aus den elitären Kreisen stammt, die er darin bloßstellt. Das verleiht ihm natürlich auf andere Art eine Legitimität, die wir Autoren aus ärmeren Milieus aus unserer Herkunft nehmen.

Wie hat sich das Land unter Macron verändert?

Frankreich ist paradoxerweise unter Macron wieder nach links gerückt. Einen Teil junger Wähler hat er enttäuscht. Die dachten, das klassische Angestelltendasein ist sowieso abgeschrieben, dann eben ein Start-up. Bis ihnen klarwurde, dass sie nun ununterbrochen arbeiten müssen, keine soziale Absicherung haben und selbst im Krankheitsfall weitermachen müssen. Andere, wie die Gelbwesten, haben oft zuvor nie demonstriert, waren nie politisch interessiert. Das hat sich geändert, nachdem sie gesehen haben, zu was der Staat in der Lage ist: abgerissene Hände, zerschossene Augen, Militärfahrzeuge als Antwort auf soziale Proteste. Das hat sie politisiert, wenn auch nicht im positiven Sinn. Unter Macron ist der Rückzug des Staates extrem konkret spürbar geworden. Aus heutiger Sicht fällt es mir sogar schwer, Jacques Chirac oder Nicolas Sarkozy noch als rechte Präsidenten zu bezeichnen, denn sie haben weitaus weniger Einschnitte in den Sozialsystemen und weniger Privatisierungen vorgenommen. In Deutschland herrscht der Eindruck, wir würden uns zu viele Beamte und öffentliche Ausgaben leisten. Und weil Deutschland die Europäische Union dominiert, sollen die anderen Länder an den Maastrichtkriterien festhalten, um die Neuverschuldung gering zu halten. Aber man kann doch für die Haushaltsdisziplin nicht mehrere Millionen Menschen auf der Straße verrecken lassen. Soziale Bewegungen und Aufstände haben in Frankreich eine lange Geschichte, die kulturell verankert ist. Immerhin: Die Gesellschaft, die Macron vorschwebt, ist ein Geschenk für die Literatur, man kann jede Menge darüber schreiben.

Der digitale Freitag

Mit Lust am guten Argument

Geschrieben von

Romy Straßenburg

Lebt als freie Journalistin in Paris. Ihr Buch "Adieu Liberté - Wie mein Frankreich verschwand" ist im Ullstein-Verlag erschienen.

Romy Straßenburg

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