Die Weisheit der Alten

Negation Selten haben sich Zeitzeugen so eindeutig kritisch über Gegenwart geäußert. Was passiert mit einer Gesellschaft, die sich nicht mehr von Erfahrungen beeinflussen lässt?

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Es ist seltsam, in den meisten Kulturen wird „die Weisheit der Alten“ als Ratgeber für die Jungen hoch geschätzt, auch wenn sich anschließend die Jugend dem Rat der Weisen entgegen entscheidet. In unserer Zivilisation sind wir inzwischen einen Schritt weiter. Wir verlachen die Weisheit der „Alten“ und weisen ihnen geistige Unzurechnungsfähigkeit zu, wenn sie nicht mit der aktuellen Mainstream-Meinung übereinstimmen.

RÜCKBLICK

Diese Entwicklung begann, genau genommen, schon im vorigen Jahrtausend. Der höchstgeachtete und höchstdekorierte Soldat der USA, Smedley D. Butler, wurde nach dem aktiven Dienst zu einem aktiven Kriegsgegner, und er schrieb in dem Buche „War is a Racket!“:

“Es gibt keinen Gaunertrick, den die militärische Gang nicht auf Lager hat. Sie hat ihre Spitzel, die mit dem Finger auf die Feinde zeigen, sie hat ihre ‚Muskelmänner‘ zur Vernichtung der Feinde, sie hat ein Gehirn, das die Kriegsvorbereitungen trifft, und einen Big Boss, den supernationalistischen Kapitalismus. Es mag merkwürdig anmuten, dass ausgerechnet ich als Angehöriger des Militärs einen solchen Vergleich wage. Aber die Wahrhaftigkeit zwingt mich dazu. Ich habe dreiunddreißig Jahre und vier Monate als Mitglied der agilsten Militärmacht dieses Landes, der Marineinfanterie, im aktiven Dienst verbracht. Ich habe in allen Rängen gedient, vom Leutnant bis zum Generalmajor. Und einen Großteil dieser Zeit war ich ein erstklassiger Muskelmann für das Big Business, für die Wall Street und die Banker. Kurzum, ich war ein Gangster des Kapitalismus. Ich ahnte damals, dass ich nur ein Teil eines großen Gangsterplans war. Jetzt weiß ich es.”

Obwohl Butler vor einem Krieg gegen Japan warnte, führte die Regierung seines Landes Wirtschaftssanktionen gegen das Land ein, die ihm nur eine Wahl ließ: Krieg gegen die USA zu führen. Und damit das auch nicht schief ging, hing man Pearl Harbour und tausende Marines als Köder so auf, dass die Falle zuschnappen musste.

Auch der ehemalige US-Präsident Eisenhower machte nach seiner Amtszeit deutlich, wo er die größte Gefahr sah:

“Wir in den Regierungsgremien müssen uns vor unbefugtem Einfluss durch den militärisch-industriellen Komplex schützen. ... Wir dürfen es nie zulassen, dass die Macht dieser Kombination unsere Freiheiten, oder unsere demokratischen Prozesse gefährdet ... Nur wachsame und informierte Bürger können die angemessene Mischung der gigantischen industriellen und militärischen Verteidigungsmaschinerie mit unseren friedlichen Methoden und Zielen erzwingen, so dass Sicherheit und Freiheit zusammen wachsen und gedeihen können.“

Auch ihm hatte man nicht mehr zugehört, und dem Militärisch Industriellen Komplex zu einer Macht verholfen, die nur noch von den Protagonisten des Finanzsystems herausgefordert werden könnten. Bewiesen alleine durch die Tatsache, dass von den 10 welt-größten Rüstungsfirmen 6 aus den USA sind.

AKTUELLE SITUATION

Wie sieht es heute aus? Jimmy Carter, der unbeliebte, weil Krieg eher wenig zugeneigte Ex-US-Präsident, hatte schon vor der Veröffentlichung der Wissenschaftlichen Studien davor gewarnt, dass die USA seinen Status als Demokratie verloren hätte. Trotzdem hörten bei uns die Transatlantiker nicht auf von „gemeinsamen Werten“ zu faseln.

Auch die Warnungen von Ex-Bundeskanzler Helmut Kohl und von Ex-Kanzler Gerhard Schröder, die sicher als Personen der Zeitgeschichte wussten, was sie mit ihren politischen Freunden und Gegnern besprochen hatten, wurden mit Käuflichkeit (Schröder), oder Altersenilität (Kohl), oder sogar einer neuen Art von Querfront, diskreditiert. Der Aufruf, der sogar von 64 Prominenten, darunter auch einem ehemaligen Bundespräsidenten, unterzeichnet worden war, wurde einfach totgeschwiegen, oder lächerlich gemacht. Und dabei waren unter den Verfassern eine ganze Generation von Alten bzw. Weisen, auf die man gut hätte hören können, ohne sein Gesicht zu verlieren. Früher jedenfalls.

Ein Teil ihres Appells hatte sich auch an die Medien gerichtet. Jene Medien, von denen ich behaupte, dass sie der Demokratie in Deutschland den Todesstoß gegeben haben. Denn sie vorenthalten der Gesellschaft etwas, das für eine Demokratie essentiell ist: Eine ausgewogene, pluralistische, unvoreingenommene Berichterstattung.

Aber natürlich gibt es einige Alte, die genau dies auch bemängelten. Allen Voraus der letzte Welterklärer unserer Zeit, Peter Scholl-Latour. Er hatte mit 90 Jahren seinen jungen Kollegen die Leviten gelesen:

„Wir leben in einem Zeitalter der Massenverblödung, besonders der medialen Massenverblödung. … Wenn Sie sich einmal anschauen, wie einseitig die hiesigen Medien, von TAZ bis Welt, über die Ereignisse in der Ukraine berichten, dann kann man wirklich von einer Desinformation im großen Stil berichten, flankiert von den technischen Möglichkeiten des digitalen Zeitalters, dann kann man nur feststellen, die Globalisierung hat in der Medienwelt zu einer betrüblichen Provinzialisierung geführt. Ähnliches fand und findet ja bezüglich Syrien und anderen Krisenherden statt."

Hat es zum Anhalten und Nachdenken geführt? Nein. „Der ist alterssenil“ war die Erklärung. Und so rechnete er nach seinem Tod mit dem dann erschienen Buch „Der Fluch der bösen Tat – Das Scheitern des Westens im Orient“ erst richtig ab.

Aber auch das wird keinen Einfluss haben, denn die Weisheit des Alters ist in dieser Zivilisation zu einem Propaganda-Werkzeug geworden, um den Mainstream zu bestätigen, nicht um ihn zu hinterfragen.

Michail Gorbatschow war einer der beliebtesten Redner aus dem ehemaligen Ostblock im Westen. Zumindest so lange er die Politik Russlands und Wladimir Putins kritisierte. Sobald er aber begann, die NATO zu kritisieren, und sogar die USA für die Ukraine Krise verantwortlich zu machen, wurde auch er zu einem Dinosaurier des Kalten Krieges, der angeblich den Realitätssinn verloren hätte.

Mit Henry Kissinger, der von Kritikern ein zynischer macchiavellinischer Massenmörder genannt, von Bewunderern aber als größter Außenpolitiker der USA gefeiert wurde, reiht sich ein weiterer Spitzenpolitiker in die Liste der Menschen ein, die plötzlich ihren Einfluss aus Altersgründen verloren. Hatte er es doch gewagt, das Vorgehen des Westens in der Ukraine-Frage zu kritisieren.

Schon 91 Jahre alt, ist er Ex-Bundeskanzler Helmut Schmidt, der in 4 Jahren 100 wird, aber noch altersmäßig unterlegen. Aber auch vor einem solchen Alter zeigt der Zeitgeist keinen Respekt mehr. Und seine Kritik an der Ukraine-Politik der EU und der deutschen Regierung wird ebenfalls unter „Alterssenilität“ abgelegt.

WAS BEDEUTETE DAS FÜR DIE GESELLSCHAFT?

Die Liste könnte noch weiter geführt werden. Günter Verheugen, Andreas von Bülow, Willy Wimmer, Egon Bahr, Jürgen Todenhöfer, sind Beispiele von Alt-Politikern, die sich deutlich vom derzeitigen politischen Mainstream distanziert haben. Und eine erstaunlich ähnliche Einstellung entwickelten, die alle bestehenden weltanschaulichen bzw. ideologischen Unterschiede überbrückt. Aber wir wollen uns lieber darüber Gedanken machen, welche Folgen, diese Ignoranz der Erfahrung, in einer Gesellschaft, haben. Was passiert in einer Gesellschaft, in der die Erfahrung von Zeitzeugen missachtet wird, und nur die Auslegung der Geschichte durch eine kleine Gruppe, zum Mainstream wird.

Das ist relativ schnell begriffen. Die Fehler, die die Gesellschaft in ähnlicher Form bereits einmal begangen hatten, werden dann noch einmal begangen.

Ob das der gewünschte Effekt ist? Die Frage nach der Ursache für diese Entwicklung würde an dieser Stelle zu weit führen. Schauen wir uns stattdessen die Folgen etwas genauer an:

Die Vereinbarung, dass die NATO sich nicht nach Osten erweitern würde, als Beispiel, war von den verantwortlichen Zeitzeugen bestätigt worden. Aber die Dynamik der Entwicklung während des Zusammenbruchs der UDSSR hatte dazu geführt, dass es hierzu keine vertragliche Vereinbarung gab. Wenn nun deshalb heute gesagt wird: „Pech gehabt, wir haben nichts unterschrieben“ bedeutet das für die Menschen, dass man nun auch offiziell dem Wort von Politikern nicht vertrauen darf.

Eine weitere Lehre, die aus der Verweigerung der Übernahme von Erfahrungen entsteht, ist, dass man sich hinterfragt, wie die Vergangenheit denn überhaupt zu beurteilen ist. Jene Politik, die die alten Politiker jetzt zum Anlass nehmen, die neue zu kritisieren. Hatten die Kohls, Schröders, Schmidts, Carter, Verheugen, Bahr, Gorbatschows so viele Fehler gemacht, dass man sie jetzt nur noch peinlich findet? Oder interpretiert man die Politik der Vergangenheit losgelöst von seinen Haupt-Verantwortlichen?

Ich wäre froh, wenn wir den Alten zugestehen würden, dass sie aus ihrer eigenen Vergangenheit und Erfahrung gelernt haben. Ich wäre froh, wenn wir nicht überheblich „die Alten“ auf den Altenteil abschieben würden, weil uns ihre Äußerungen peinlich sind. Wenn wir uns vielmehr hinterfragen würden, was an der Kritik Bestand haben könnte, um dann daraus Schlüsse zu ziehen.

Wenn wir dazu nicht mehr in der Lage sind, fragt man sich, wie groß die Macht derjenigen geworden ist, die ein solches Hinterfragen verhindern. Wie groß ist die Macht der USA, die, wie der Vize-Präsident der Vereinigten Staaten erklärte „Europa dazu zwingen mussten die Sanktionen gegen Russland zu unterstützen, obwohl sie gegen ihre eigenen Interessen laufen". Und mit welchen Mitteln kann dieser Zwang wohl aufgebaut werden?

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

LinksPazi

Unter dem Pseudonym Linkspazi bloggt Jochen Mitschka. Links, engagiert und gegen Heuchelei und Krieg. Statt Mainstream wiederholen, ihm antworten.

LinksPazi

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