Neujahrsansprache des Bundespräsidenten -fast

Siegen abschaffen! Liebe Mitbürger, liebe Gäste Deutschlands, liebe Partner in aller Welt!

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Das vergangene Jahr 2014 war ein verlorenes Jahr. Denn die Menschen haben, wie seinerzeit beim Turmbau zu Babel, die Sprache des jeweils Anderen vergessen. Und wer den anderen nicht versteht, empfindet das Unbekannte als gefährlich, und dann begangen wir den größten Fehler überhaupt, das Unbekannte mit Gewalt zu bekämpfen, weil es das einzige war, was uns einfiel. Statt nach den Ursachen zu suchen und die Zivilisation weiter zu entwickeln, haben wir zu den Rezepten des Mittelalters gegriffen, die aber immer noch nicht funktionieren. Deshalb ist das Jahr 2014 ein verlorenes Jahr für die Menschheit.

Wir sollten das im neuen Jahr 2015 ändern. Statt wie Aliens von Mars und Venus miteinander zu verkehren, um den Vergleich eines US-amerikanischen Eheberaters zu benutzen, müssen wir 2015 endlich einen Weg finden, uns gegenseitig zuzuhören, und was noch wichtiger ist, zu verstehen.

Da ist zunächst die Vertrauenskrise einiger früherer Ostblockländer mit Russland. Diese Länder, die beim Zusammenbruch der UDSSR ihre Unabhängigkeit erhielten, müssen ihre Angst vor Gebietsansprüchen Russlands artikulieren, und dies Russland nicht durch Aufrüstung, sondern durch Konferenzen deutlich machen. Und Russland wird in diesen Konferenzen seine Sorgen um das Wohlergehen und die Rechte ethnischer Russen ausdrücken. Und am Ende der Konferenz muss es möglich sein, wenn man sich zuhört, und versteht, was den anderen berührt, zu einer Einigung zu kommen, die NICHT auf Drohungen, Gewalt oder Waffen basiert.

Dann muss es endlich zu Gesprächen zwischen der NATO und Russland kommen. In diesen muss Russland seine Besorgnis artikulieren können, über das immer nähere Heranrücken von Waffen der NATO an das Herz Russlands, sowie der Aufbau eines Raketenschirms, der aus Sicht Russlands nur die Absicht haben kann, Russlands Abschreckungspotential zu neutralisieren, also einen atomaren Zweitschlag unmöglich zu machen. Und die NATO muss zuhören und verstehen. Und seinerseits ihre Besorgnis deutlich machen, dass Russland Grenzen verschieben könnte, so wie die NATO durch die Zerschlagung Jugoslawiens die Nach-UDSSR-Grenzen veränderte. Und wenn sich die Partner zugehört haben, wenn sie verstanden haben, was den anderen bewegt, muss die babylonische Sprachverwirrung ein Ende haben, und eine gemeinsame Basis gefunden werden, um ohne weitere Aufrüstung, Spannungen ab-, und Vertrauen aufzubauen.

Natürlich müssen die Ukraine und jene Mächte, die sich als Quasi-Schutzmächte erklärt haben, mit Russland über die Krise im Osten des Landes und auf der Krim reden. Aber hierbei gibt es ein Gesetz, das über allen anderen stehen muss. Nämlich das Selbstbestimmungsrecht der Völker. D.h. keine Entscheidung darf über die Köpfe der Menschen in diesen Gebieten einfach hinweggehen. Alle Interessen müssen berücksichtigt werden. Und die Mächte, die die Ukraine in die heutige Situation gebracht haben, müssen die Verantwortung für die Situation übernehmen. Sie müssen die Ukraine wirtschaftlich stützen, bis die Krise überwunden ist, und das Land wieder auf eigenen Beinen stehen kann. Und das ohne seine Notlage auszunutzen und das Land auszubeuten. Am Ende des Prozesses sollte die Erkenntnis stehen, dass Grenzen überholt sind, und Lösungen gefunden wurden, von der alle Menschen der Region profitieren.

Im Krieg gegen den Terror sollten wir unseren ganzen Einfluss dafür geltend machen, dass ein Moratorium begonnen wird. Dass sich der Kampf gegen den Terror nur auf Abwehr, ohne so genannte Präventivmaßnahmen, beschränkt. Gleichzeitig müssen wir beginnen, die wahren Ursachen für Terrorismus zu ergründen. Und zwar indem wir ernsthaft und willens zu verstehen, uns damit auseinandersetzen. Nur wenn wir die wahren Gründe kennen, werden wir in der Lage sein, eine nachhaltige Lösung zu entwickeln. Denn über 13 Jahre „Krieg gegen den Terror“ haben das Gegenteil von dem gebracht, was versprochen worden war, als wir mit den Lösungen des Mittelalters loszogen. Resultat sind hundertausende von Toten, Millionen Vertriebene, auf Dauer verseuchte Landstriche, und in Generationen gepflanzter Hass.

Aber es gibt eine Herausforderung, die die genau so groß ist, wie die Kommunikation zwischen verfeindeten Lagern. Nämlich den Überfluss eines kleinen Teils der Welt, so auf den Rest der Welt zu verteilen, dass Hunger und Seuchen endlich wirksam bekämpft werden. Den Besitzenden muss die Angst genommen werden, etwas zu verlieren, und den Leidenden die Möglichkeit eröffnet, ihr Schicksal selbst in die Hand zu nehmen. Der allererste Schritt wird der sein, eine faire und gerechte Wirtschaftsordnung mit Entwicklungs- und Schwellenländern zu vereinbaren.

Deutschland muss endlich wieder eine Rolle in der Welt spielen.

Eine Rolle, die derzeit kein anderes Land ausfüllt. Wir sollten unsere Rüstungsproduktion mit Hilfe des Staates in eine zivile Produktion umstellen. Die Konversion sollte eines der vorrangigen Ziele unserer Wirtschaftspolitik sein. Denn erst wenn wir nicht mehr einer der größten Waffenproduzenten der Welt sind, werden wir in der Lage sein, die neue, wirklich große und anspruchsvolle Rolle auszufüllen. Wir sollten die Lücke ausfüllen, die entstanden ist, nachdem immer mehr Menschen an der Unparteilichkeit der UNO zweifeln. Wir sollten das Ziel haben, ein Makler zwischen befeindeten Partnern zu sein. Ein Partner, dem jeder vertraut, da er glaubhaft weder imperiale Interessen verfolgt, politisch und wirtschaftlich unabhängig ist, und seine wirtschaftlichen Interessen und Handelswege nicht mit Waffengewalt verteidigt, sondern durch fairen Interessenausgleich vertritt.

Natürlich kann ich bei einer Neujahrsansprache nicht alle Baustellen unserer Gesellschaft ansprechen. Und natürlich lässt sich nicht alles im nächsten Jahr realisieren.

Aber wenn wir wieder eine Rolle in der Welt spielen wollen, die unserer Geschichte und dem Willen der Menschen in diesem Land angemessen ist, dann kann das nur die Rolle eines Vermittlers und Maklers sein.

Deutschland kann Geschichte schreiben, wenn wir den Mut haben, die ausgetretenen Pfade von Machtdenken und Gewalt zu verlassen. „Deutschland“ soll aber nicht bedeuten, dass wir als Nation diesen Weg gehen wollen, um Lorbeeren für unser Land zu sammeln. „Deutschland“ muss zum Synonym werden für alle, die Fairness, Interessenausgleich, Vermittlung und Gewaltlosigkeit anstreben. Und daran teilzunehmen, werden alle Länder und Organisationen eingeladen.

Wir müssen den Versuchen entgegentreten, Interessen durch Macht und Gewalt durchzusetzen. Es darf keine Sieger und Verlierer mehr geben. Das Ziel muss sein, Konfliktpotential so zu entschärfen, so dass jede Partei die Lösung akzeptiert. Und dass keiner sich als Sieger fühlt, und auch niemand als Verlierer. Nur wenn es keine Verlierer mehr gibt, gibt es keine Kriege mehr. Nur wenn das „Siegen“ geächtet wird, wird es keine Bemühungen mehr geben, andere zu besiegen.

Wir müssen der Welt nicht weniger als eine neue Philosophie vermitteln. Nämlich dass nicht gewonnene Schlachten, getötete Feinde und besiegte gegnerische Unternehmungen Helden erzeugen. Die Helden des 21. Jahrhunderts müssen jene sein, die gerade verhindern, dass es zu Heldentaten kommt. Die Helden des 21. Jahrhunderts müssen die sein, die Krisen verhindern oder auflösen, und nicht jene, die durch Gewalt, Erpressung und wirtschaftlichen Druck, "siegen".

Liebe Mitbürger, liebe Gäste, liebe Partner in aller Welt. Deutschland ist bereit, die Federführung in dieser neuen und schwierigen Rolle zu übernehmen. Bitte helfen Sie mit, dass dieser historische Schritt ein Erfolg wird, und wir in 20 Jahren ein Neujahr feiern können, in dem wir eine neue Weltordnung einläuten können, die auf Fairness, Ausgleich der Interessen und friedlicher Kooperation aller Menschen dieser Erde basieren. Naja, es wird vielleicht nie „Aller Menschen“ sein. Aber zumindest des überwiegenden Teils der Menschheit. In diesem Sinne wünsche ich uns allen eine nachdenkliche Neujahrsnacht.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

LinksPazi

Unter dem Pseudonym Linkspazi bloggt Jochen Mitschka. Links, engagiert und gegen Heuchelei und Krieg. Statt Mainstream wiederholen, ihm antworten.

LinksPazi

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