Eduard Schneemann

Ausspähen Das Absurde zeigt sich in der Allegorie. Was wäre, wenn die aktuelle Spionageaffäre 1983 zwischen Osten und Westen stattgefunden hätte? Eine fiktionale Zeitreise

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Eduard Schneemann

Foto: Gray Mortimore/ AFP/ Getty Images

Ostberlin, 01. Juni 1983

Der 27-jährige Eduard Schneemann, Oberst bei der Staatssicherheit, steht am Ende seiner Geheimdienstkarriere. Eduard Schneemann ist kurz davor Republikflucht zu begehen, schlimmer noch, er möchte im „Westen“ die Machenschaften des Inlandsgeheimdienstes der Deutschen Demokratischen Republik öffentlich machen. Nach Meinung der Berliner Machthaber begünstigt er dadurch den Feind. Für einen Staat, der „demokratisch“ im Namen trägt, ist es nicht schicklich, mit derartigen Geschehnissen, wie sie von Rostock bis Dresden vorkommen, in der Weltpresse in Verbindung gebracht zu werden. Da ist es egal, dass das feindliche Ausland dies sowieso seit jeher vermutet. Der unumstößliche Beweis für die moralische Unterlegenheit des angeblich so fortschrittlichen Demokratischen Sozialismus würde das Ansehen im Aus- und Inland und damit das Ergebnis mühsamer Propaganda endgültig zu Nichte machen. Dass politische Gegner in Gefängnissen gefoltert werden, ist längst bekannt, aber der große Stil der Überwachungsmaschinerie, die im verborgenen jeden Schritt der Bürger im real existierenden Sozialismus verfolgt, ist noch den Augen der Weltöffentlichkeit und insbesondere der eigenen Bevölkerung verschlossen. Das möchte Schneemann ändern. Was Schneemann plant ist Landesverrat. Auf Landesverrat steht mindestens fünf Jahre Haft. In besonders schweren Fällen lebenslange Haft oder Todesstrafe. Schneemann ist ein besonders schwerer Fall.

Westberlin, 02. Juni 1983

Schneemann sitzt in einem Straßencafé am Kurfürstendamm und betrachtet den stetigen Strom der vorbeifahrenden PKWs. Nichts deutet darauf hin, dass er heute sein Leben beendet hat. Eigentlich säße er jetzt in seinem Büro in der Normannenstraße, eigentlich würde er jetzt neue Informelle Mitarbeiter anwerben, eigentlich wäre er jetzt in der DDR, seinem Heimatland, dem er sich trotz Massenüberwachung verbundener fühlt als der grellen, arroganten Bundesrepublik. Doch trotzdem sitzt er hier in Westberlin, den bundesdeutschen Reisepass, den er von einer verdeckten Ermittlung in Bonn aufgehoben hatte, in der Jackettasche. Dieser Pass hatte ihm die Pforte in die Welt des Kapitalismus, des Klassenfeindes eröffnet. Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie, dass ihm die Flucht vor der Welt der Spionage ausgerechnet durch eine längst vergessene Spionagetätigkeit ermöglicht wurde.

Ein Taxi hält am Straßenrand, ein Mann steigt aus. Seine Augen blicken sich suchend um, dann erfassen sie Schneemann und bewegen sich auf ihn zu. Der Mann stellt sich als Georg Grünwald vor, er ist Redakteur beim Spiegel, jenem Hamburger Magazin, das für investigativen Journalismus bekannt ist. Er hört genau zu, als Schneemann seine Geschichte erzählt.

Hamburg, 06. Juni 1983

Der Spiegel bringt die Titelgeschichte: „Massenüberwachung in der DDR – Stasi spionierte auch Bundesbürger aus“. Die Öffentlichkeit ist in heller Aufregung, spontan finden sich Demonstrationen in mehreren bundesdeutschen Städten zusammen. In Leipzig schließen sich DDR-Bürger, die von dem Skandal aus dem Westfernsehen erfahren haben, zu „Montagsdemonstrationen“ zusammen. Die Stimmung in der Deutschen Demokratischen Republik ist angespannt, ein zweiter 17. Juni scheint unmittelbar bevorzustehen.

Ostberlin, 07. Juni 1983

Erich Honecker tritt vor die Kameras. Die „Aktuelle Kamera“ bringt eine Sondersendung: Die Staatsführung der DDR sei enttäuscht von diesen falschen Anschuldigungen, die über das Westfernsehen und andere Westmedien erhoben wurden, und die dazu geführt haben, dass sich in einigen ostdeutschen Städten eine konterrevolutionäre Stimmung breit gemacht hat. Diese Anschuldigungen gingen einer internen Untersuchung zufolge auf den Oberst der Staatssicherheit der DDR, Eduard Schneemann zurück. Dieser noch junge Mann sei offenbar von Geltungssucht befallen worden und hätte sich dadurch zu diesen aus der Luft gegriffenen Behauptungen hinreißen lassen. Die Staatsanwaltschaft Berlin bereite derzeit eine Anklage wegen Spionage und Staatsfeindlicher Hetze vor. Den Ermittlungen und damit dem Gesetz habe sich Schneemann durch eine feige Flucht vor dem Rechtstaat in die Bundesrepublik entzogen. Ein Auslieferungsersuchen wurde bereits gestellt.

Bonn, 29. Juli 1983

Bundesjustizminister Heiko Maas gibt folgende Presseerklärung heraus: „Wir sind Herrn Schneemann für seine Enthüllungen außerordentlich dankbar. Ein längerer Aufenthalt in der Bundesrepublik ist allerdings leider nicht denkbar, da wir unsere gerade verbesserten Beziehungen zum sogenannten Ostblock, insbesondere der Deutschen Demokratischen Republik, nicht aufs Spiel setzen wollen. Außerdem ist es zynisch als selbsternannter Kämpfer für den Rechtsstaat diesem davon zu laufen. Ich glaube auch, dass es für Herrn Schneemann das Beste ist, in die DDR zurückzukehren, wo er nach Beendigung seiner Haftstrafe, ein angenehmes Leben führen kann. Die DDR ist seine Heimat, er möchte sicherlich nicht sein Leben lang auf der Flucht sein vor den ostdeutschen Strafverfolgungsbehörden.“

// Edit: In einer früheren Version des Artikels war von der "West-Berliner Prachtstraße Unter den Linden" die Rede - gemeint war der Kurfürstendamm, Unter den Linden befand sich in Ostberlin. Danke an @Hermann_Mahl für den Hinweis.

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