Ich erinnere mich nur schwer an Fakten, Zahlen und politische Argumente. Das macht mich angreifbar dieser Tage, denn es bringt mich in dieselbe Position, die auch jene innehaben, die das Gegenteil von dem denken und aussprechen, wofür ich einstehe. Mein Argument ist ebenso ein Gefühl wie die Angst, die aus dem Hass hervorspringt.
Gefühle sind stets der irrationale Teil einer Diskussion, sie laden auf, versperren Wege zu Lösungen. Einen Konflikt beizulegen bedeutet immer auch einen Schritt hinter die eigenen Emotionen zurückzutreten und die Situation kühl zu betrachten, berechnend. Mit Fakten, Zahlen, politischen Argumenten. Dennoch ist das Gefühl die Grundlage meines Handelns. Und dieses Gefühl sagt mir, dass es am Ende das stärkste Argument sein wird, das ich besitze.
Nennt mich einen Hippie, nennt mich Gutmensch oder was auch immer ihr euch ausgedacht habt, um das Gefühl, das ich in mir trage, kleinzukriegen und lächerlich zu machen. Ich werde nicht davon ablassen, etwas zu empfinden, das mir helfen wird, gegen die Dinge zu kämpfen, die mir viel zu selbstverständlich jeden Tag entgegentreten. Ich werde das Mitgefühl nicht aufgeben, und schon gar nicht die Liebe.
Wenn wir uns über Hass wundern, über Angst und über Ignoranz, dann wundern wir uns immer darüber, was in jenen Köpfen vorgeht, die diesen Gefühlen so viel Platz geben. Doch während wir uns darüber wundern, merken wir nicht, dass wir unsere eigenen Gefühlen in Schranken halten. Stets befürchten wir das irrationale Handeln - und das Handeln ohne Vernunft, das haben wir doch längst überwunden! Wenn Gefühle ausbrechen, dann müssen wir uns irgendwie beruhigen, dann müssen wir tief durchatmen, an die Zukunft denken, das Leben sortieren. Wir lassen uns therapieren, damit es noch schneller gelingt oder überhaupt gelingt. Denn wir verlieren den Anschluss, wenn wir die Ordnung nicht wieder herstellen, wenn wir zu langsam sind, um Schritt zu halten. Und was wir wegsperren, das sind nicht nur die negativen Gefühle. Der Filter funktioniert ganzheitlich: Gefühl ja, aber von allem nur ein kleines bisschen. Wir haben uns abtrainiert, was andere jetzt zu ihrer stärksten Waffe gegen uns machen: irrationale Gefühlsausbrüche.
Wer Angst und Hass in die Mitte der Gesellschaft trägt, dem begegnen viele Menschen, die damit nicht übereinstimmen. Aber ihm begegnen wenige Menschen, die genauso irrational für das Gegenteil einstehen. Für Liebe und für Mitgefühl. Das klingt kitschig. Das klingt wie aus einem schlechten Roman, vielleicht auch religiös, verblendet, naiv. Viel zu oft wurde Liebe als Vehikel nur denen überlassen, die daraus ein Geschäft schlagen wollten. Doch allein die Tatsache, dass wir Hass sagen, ohne mit der Wimper zu zucken, und Liebe sagen, und uns irgendwie dafür schämen, zeigt schon, wie unausgewogen das Verhältnis ist. Hass ist ein Instrument, Liebe nur eine Spielerei.
Aber es ist eine Frage der Liebe. Mitgefühl ist eine Frage der Liebe. Zuversicht ist eine Frage der Liebe. Wir können nur das Gegenteil von Hass ausstrahlen, wenn wir das gegenteilige Gefühl in uns selbst zulassen. Man hört schon die ersten rufen: „Allein mit Liebe lässt sich die Welt nicht retten!“ Aber wieso sagen wir so oft, dass Hass die Welt zerstören kann? Weil Menschen aus dem Hass heraus handeln. Und genauso kann aus Liebe heraus gehandelt werden. Es sind immer Taten, die Gefühlen folgen müssen. Immer. Aber die Gefühle können die stärkste Antriebskraft sein, die wir besitzen.
Wir müssen beginnen, in den Gesichtern der Menschen, die zu uns kommen und auf ein besseres Leben hoffen, auch uns selbst zu sehen. Keine rationalen Fakten, keine rationalen Zahlen, keine rationalen politischen Argumente. Sondern uns selbst mit unseren eigenen Gefühlen. Denn mit jedem Menschen, der in ein winziges Boot steigt, um über das Mittelmeer dorthin zu gelangen, wo wir bereits sind, steigt auch ein Teil von uns selbst mit ein in dieses Boot. Zwei Seiten derselben Medaille. Zwei Orte derselben Welt. Ein Boot.
Zu dieser Erkenntnis gelangen wir nur durch Mitgefühl. Verschaffen wir dem Mitgefühl Platz, geben wir ihm den Raum, den es verdient. Lassen wir es zu, dass es uns irrational überkommt, dass uns die Liebe irrational überkommt und daraus Wut auf jene entsteht, die diese Liebe nicht empfinden können. Liebe ist nicht peinlich. Mitgefühl ist nicht peinlich. Euer Hass ist peinlich. Verdammt peinlich.
Kommentare 3
Sehr schöner Text!
Einen Einspruch will ich aber doch bringen: Angst entsteht nicht aus Hass, vielmehr liegt dem Hass Angst zugrunde, gemischt mit einem Unterlegenheitsgefühl. Diese Richtigstellung ist wichtig, denn auch die Menschen, von denen der Hass Besitz ergriffen hat, haben Mitgefühl verdient. Wem es gelingt, deren verschlossene Herzen zu öffnen, deren Ängste zu nehmen, wird ganz sicher einen Beitrag dazu leisten, die verschüttete Empathie, derer jeder Mensch fähig ist, wieder zum Vorschein zu bringen. Wut dagegen führt nur dazu, dass das Gegenüber abblockt. Damit ist nichts gewonnen.
Wobei Wut natürlich auch eine produktive Kraft entfalten kann, aber man muss damit sehr vorsichtig sein, denn wenn die Wut völlig von einem Besitz ergreift, ist das auch nicht grade gut für einen.
Davon mal abgesehen hoffe ich sehr, dass die Gemüter sich wieder abkühlen und die Lage nicht noch weiter eskaliert.
Soloto hat bereits im ersten Satz geschrieben, was ich auch hätte schreiben wollen: ein schöner Text, den ich mit positivem Gefühl gelesen habe.
Ob jetzt Hass aus Angst entsteht oder umgekehrt, da bin ich mir nicht ganz so sicher, naheliegend ist aber, dass Wut, die mit Gegen-Wut beantwortet wird, zu einer immer schneller kreisenden Negativspirale wird, mit der, das sehe ich genauso, nichts gewonnen werden kann.
Ein bisschen problematisch finde ich die Formulierung "Wir müssen beginnen, in den Gesichtern der Menschen, die zu uns kommen und auf ein besseres Leben hoffen, auch uns selbst zu sehen..." Und hierbei insbesondere das "wir m ü s s en". Vermutlich ist es als gut gemeinter Appell gedacht, aber gerade das kann aus meiner Sicht nicht klappen.
Wie soll jemand, der voller Ärger, Wut und uneingestandender Ängste ist (irrational oder rational, irgendwie hat Angst ja doch immer auch ihre Berechtigung) nun auf Knopfdruck Mitgefühl mit ihm völlig Fremden empfinden und sich selbst in ihnen erkennen, wenn er sich - ich spreche hier nur von einem Teil der Bevölkerung - selbst doch zutiefst unbekannt und fremd ist?
Sich selbst mit allen Tiefen und Gefühlsuntiefen zu erkunden oder gar zu akzeptieren, ist ja schon schwierig genug (bis auf einige vom Glück Begünstigte) und eigene Schwächen anzunehmen, wird uns in dieser konkurrenzbewussten Gesellschaft nicht nur abgewöhnt, sondern geradezu madig gemacht.
Möglichst stark sein, unabhängig (wenigstens finanziell, wenn schon nicht geistig) und auf keinen Fall schwach und bedürftig. Und dann "plötzlich" Mitgefühl empfinden oder zeigen, mit Menschen, die arm, schwach und bedürftig sind? Wo doch im bisherigen Lebenslauf möglichst alles getan und erkämpft wurde, um selbst nicht in so eine Lage zu kommen, - und viele Menschen erinnern sich mit Grausen daran, wie hilflos und ausgeliefert sie sich als Kinder und Jugendliche in der übermächtigen Erwachsenenwelt einst gefühlt haben - und da haben sie leider g a r nicht so oft an Leib und Seele Mitgefühl, Großzügigkeit und Liebe erlebt oder bekommen. Worauf sollen sie dann also zurückgreifen?
Grundsätzlich finde ich den Text aber ein mutiges Plädoyer für den Zugang zu eigenen und fremden Gefühlen, die ihren Schrecken verlieren, wenn man oder frau sich überwindet, sie ein wenig kennen zu lernen. Muss ja nicht gleich 100 % sein. Ein wenig Vertrauen, Liebe und Geduld - auch sich selbst gegenüber - würden in vielen Fällen schon reichen, oder?