Der Ehrgeiz aufzusteigen

Sprachunterricht DaZ-Lehrer schaffen die Grundlage für eine erfolgreiche Integration – finanzielle Anreize für die wertvolle Arbeit fehlen. Eine Momentaufnahme aus einem Integrationskurs

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Der Ehrgeiz aufzusteigen

Foto: Carsten Koall/AFP/Getty Images

„Wer ist ehrgeizig?” Volkshochschullehrer Ulrich steht im U der Tische und schaut in erwartungsvolle, fragende Gesichter. Denkstille und stehende Luft, ein warmer Maitag in Berlin Neukölln, aus dem offenen Fenster strömt der süßliche Duft blühender Weißdornsträucher, die Nachmittagssonne taucht den Raum in ein warmes Gelb.

Verlegenes Lachen. Zögernd hebt sich die Hand der jungen Syrerin Asifa: “Als ich 18 war, habe ich das Abitur zu 80% geschafft.” Ulrich schreibt den Satz ans interaktive Whiteboard. Die Schrift in digitaler Tinte wirkt neben der teils abgeblätterten Tapete im Raum futuristisch. Ulrich trägt ein langes, weißes T-Shirt in brauner Kordhose und ähnelt mit seinem freundlichen Gesicht, eingerahmt von braun-grauen Locken, dem Jedimeister Obi-Wan Kenobi, der in seiner bescheidenen Wüstenhütte das Hologramm von Prinzessin Leia empfängt. “Du bist sehr ehrgeizig, du willst ein Ziel erreichen.” Der Stift kratzt übers Whiteboard. Der Ehrgeiz aufzusteigen.

16 Schüler lernen hier seit einem halben Jahr Deutsch, jeden Tag von 13-17 Uhr, 600 Stunden insgesamt. Es sind Syrer, Bulgaren, Spanier und Dänen, Geflüchtete, teilnahmeverpflichtete SGBII-Empfänger und Selbstzahler. Samir, Anfang 60, ist der Älteste in der Gruppe, Namika, 19 Jahre, die Jüngste.

Ulrich ist seit 40 Jahren DaZ-Lehrer, mit zunehmender Berufsgelassenheit erlaubt er sich den Luxus, seine eigene Methode der freien Assoziation in den Lehrplan zu integrieren. Bei ihm teilen die Schüler ihre Gedanken zu einem Thema mit und eignen sich für ihren Alltag nützliches Vokabular an. Der Unterricht wirkt wie ein Plausch unter Freunden. Eine gute Lernatmosphäre auf Augenhöhe zu schaffen, ist mit die wichtigste Aufgabe. „Mohammed, denkst du, ich bin ehrgeizig?“ Ulrichs glucksend-selbstironische Stimme unterbricht Mohammeds verlegenes Schweigen: “Volkshochschullehrer sind nicht ehrgeizig, wer weiß warum? Weil“, er schreibt ans Whiteboard: „Du kannst nicht viel verdienen. Du hast keine soziale Absicherung. Du bist in der Hierarchie nicht oben.“ Verständnisvolles, solidarisches Nicken aus den Reihen. Hier spricht ein Prekärer zu Prekären. Ein studierter Lehrer, der durch seine Arbeit hohen gesellschaftlichen Mehrwert schafft, dem allerdings die gleiche Wertschätzung verwehrt bleibt wie seinen festangestellten Kollegen an öffentlichen Schulen. Seine Schüler müssen sich die Wertschätzung in der Fremde überhaupt erst noch erarbeiten. Fatima, eine ältere syrische Frau lacht: “Ich mag reiche Frauen nicht. Geld ist im Kopf. Ich sage dann, du bist nicht mein Typ”. So wird der B1-Deutschunterricht zur Diskussion über Arbeitswerte.

Kenntnisse grundlegender Werte der Gesellschaft sowie Kenntnisse der Rechtsordnung, Geschichte und Kultur wie auch der politischen Institutionen in Deutschland erleichtern das Zurechtfinden in der neuen Gesellschaft und schaffen Identifikationsmöglichkeiten, so steht es auch im Konzept für den bundesweiten Integrationskurs vom Bamf.

Das Gehalt von VHS-Lehrern liegt mit 20-30 Euro pro Stunde im Niedriglohnsektor und, Sozialabgaben und Rentenversicherung abgezogen, kaum über HarzIV-Niveau, abgesehen von der unbezahlten Vor- und Nachbereitungszeit. An der VHS Neukölln unterrichtet auch Frau P. Mit ihren blondierten Haaren, den Perlenohrringen und der weißen Steppweste passt sie äußerlich nicht in das Bild eines typischen VHS-Lehrers. Sie gibt zusätzlich Abend- und Alphabetisierungskurse, gut 10 Stunden am Tag, da sie von ihrer Tätigkeit nicht nur sich, sondern auch ihren 14-jährigen Sohn ernähren muss.

Um 17 Uhr ist der 20-jährige Mohammed der Erste, der die Klasse verlässt in den warmen Neuköllner Frühlingsnachmittag. Er möchte jetzt mit seinen Kumpels ein Bier in der Hasenheide trinken gehen. Die Frage, inwiefern ihn die heutige Diskussion motiviert hat, sein Potential in Deutschland zu entfalten, hängt noch in der warmen Luft. Vielleicht gehört er zu dem 1/3, das beim ersten Anlauf den „Deutsch Test für Zuwanderer“ besteht. Dieser gilt als Türöffner für die Einbürgerung und den weiteren Bildungsweg. „Ellenbogen haben“ - steht jetzt am Whiteboard.

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