Die Rückkehr der Autorität

Kommentar In der Pandemie- wie in der Terrorismusbekämpfung erlebt der Autoritarismus eine Renaissance. Kritische Resonanz fehlt, was fragwürdigen Gruppierungen Räume eröffnet.

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Viel wurde gesprochen über die Zäsur, die die Pandemie in der Ordnung von Mensch und Welt markieren könnte. Weitgehend unbemerkt und ohne größeres öffentliches Aufsehen vollzieht sich indes eine völlig andere Zeitenwende, deren Folgen einen radikalen Einschnitt im Selbstverständnis der Gesellschaft markieren werden: Das Bundeskabinett, das bereits in den vergangenen Monaten mit Forderungen nach weitreichender Überwachung und Disziplinierung an die Öffentlichkeit trat, einigte sich nun auf gleich zwei Gesetze, die sich dezidiert gegen Selbstbestimmung, gegen grundlegende Freiheitsrechte wenden und markiert damit einmal mehr den regressiven Übertritt in eine Zeit neuer Definitionen staatlicher Macht.

Neben dem auf EU-Ebene geforderten Verbot sicherer Ende-zu-Ende-Kommunikation, das in letzter Konsequenz den Schutz privater Kommunikationsräume zugunsten nachrichtendienstlicher Kompetenzen umfassend aufheben wird, wurde eine Legalisierung diverser Überwachungspraktiken des BND beschlossen. Die Annahme der Kabinettsbeschlüsse im Bundestag und -rat steht zwar noch aus, stellt letztlich jedoch eine reine Formsache dar. Einmal mehr wird damit unter dem Deckmantel der Sicherheit die Freiheit der Menschen beschnitten. Der paternalistische Gedanke, unmündige Bürger*innen vor Zugriffen schützen zu müssen, rechtfertigt, so die Devise, den Zugriff auf sie.

Die Beschlüsse des Kabinetts reihen sich ein in zahlreiche weitere Hinwirkungen auf den Abbau freiheitlicher Grundrechte. Zu nennen sind hier etwa die von Jens Spahn zu Beginn der Pandemie gestellte Forderung nach verpflichtendem Tracking zur Kontaktüberwachung oder mittlerweile in einigen Bundesländern ausgesprochene Ausgangssperren, die das grundlegende Recht auf Bewegungsfreiheit in stärkstem Maße beschneiden. Besonders bizarr ist indes die Tatsache, dass die von Edward Snowden vor wenigen Jahren aufgedeckten Überwachungspraktiken, die die Bundesregierung verurteilte, mit der Novellierung des BND-Gesetzes nun endgültig als legal festgeschrieben werden sollen. Interessant ist insgesamt jedoch weniger die Frage nach konkreten Maßnahmen, sondern eher diejenige nach der übermittelten Botschaft und den grundlegenden Implikationen.

Demokratie und Freiheit als Gimmick

Vor allem das Handeln in der Pandemie, die – wie bereits Michel Foucault am Beispiel der Peststadt des 17. Jahrhunderts zeigt – einen idealen Raum für „Intensivierung und Verzweigung der Macht“ bietet, offenbart die grundlegende Haltung der Herrschenden demokratisch-freiheitlicher Gesellschaftsorganisation gegenüber. Wer im Angesichte einer durchaus ernstzunehmenden Bedrohung grundlegende Stützpfeiler der bisherigen Gesellschaftsorganisation, die in der Vergangenheit als Grundwerte propagiert wurden, aufzuheben bereit ist, offenbart, dass Freiheit, Grundrechte und demokratische Mitbestimmung in letzter Konsequenz gerade nicht als unumstößliche Grundlagen der westlichen Welt, sondern bestenfalls als Gimmicks verstanden werden. Die Botschaft hinter der Forderung nach verpflichtenden Tracing-Apps und digitalen Immunitätsausweisen wie hinter der weitgehenden Ausschaltung des Bundestags durch ein Regieren, das sich größtenteils auf Verordnungen stützt, ist diejenige, dass parlamentarische Kontrolle, Freiheitsrechte und eine Debattenkultur im Ernstfall der Autorität eines absolutistischen Souveräns zu weichen haben. Eine solche Haltung wiederum entzieht einer freiheitlichen Gesellschaftsorganisation ganz grundsätzlich den Boden: Kehrt eine Regierung, die im Katastrophenfall zur Autorität aufruft, nach Überwindung der Krise in den demokratischen Modus zurück, so ist das nicht mehr als Bekenntnis zu zentralen Werten, sondern als bloßer Akt der Gnade, der jederzeit widerrufen werden kann, zu verstehen.

Gleiches offenbart sich bei genauerer Betrachtung der nun vom Kabinett beschlossenen Gesetze, die aller Wahrscheinlichkeit nach in nächster Zukunft den Bundestag passieren werden: Moralische wie juristische Grundrechte und grundlegende Freiheiten werden angesichts – anders als im Pandemiefall – weitestgehend bloß imaginiert-abstrakter Gefahren wie der des Terrorismus aufgehoben. Einmal mehr offenbart sich darin die grundlegende Haltung diesen Rechten gegenüber, die gerade nicht als zentral, sondern als in höchstem Maße und situativ begrenzt verstanden werden.

Die Selbstreferentialität des Staates

Darüber hinaus zeigt sich in den nun beschlossenen Gesetzen wie in der Verteidigung dieser Vorstöße das grundlegende Problem der Selbstreferentialität staatlicher Institutionen und staatlicher Organisation, das diese als in letzter Konsequenz nicht legitimierbar erkennen lässt. Begründet werden die Überwachungsmaßnahmen mit Verweis auf drohende Gefahren, verteidigt werden sie unter Verweis darauf, dass braven Bürger*innen keine greifbaren Nachteile drohten. Darüber hinaus ist auffällig, dass der BND die Praktiken, die ihm nun zugestanden werden sollen, in der Praxis längst ausübt. In all diesen Momenten wird ersichtlich, dass jegliche staatliche Institution auf den Staat selbst verweist, der sich wiederum über diese Institutionen konstituiert.

Was eine Gefahr ist, wird definiert durch den Staat, der mit dieser Definition etwa im Falle des BND-Gesetzes die Grundlage für seine Gesetzgebung schafft. Diese Gesetzgebung wiederum bildet die legitimierende Grundlage für das Handeln einer staatlichen Organisation, die sich damit in ihrer Legitimierung wiederum auf den Staat beruft. Ähnliche Zirkelschlüsse lassen sich in der Argumentation für staatliche Kompetenzen nachweisen. Werden diese etwa damit verteidigt, dass eine Überwachung nur denjenigen schade, die kriminell handelten, so kann nicht nur eingewendet werden, dass daraus noch lange kein Recht auf den Zugriff auf Individuen abzuleiten ist, sondern auch, dass die Definition kriminellen Handelns dem Staat obliegt und von diesem beliebig geändert werden kann. Dass der Staat sich selbst darauf beschränkt, nur bei kriminellem Handeln die Möglichkeiten der Disziplinierung voll auszuspielen, bedeutet letztlich, dass er sich nicht beschränkt, da er die Definition kriminellen Handelns nach Belieben setzen und seinen Einflussbereich damit beliebig ausdehnen kann. Zeigen lässt sich das am konkreten Beispiel des BND, dessen Überwachungstätigkeiten sich derzeit bestenfalls in einem juristischen Graubereich bewegen. Qua staatlicher Gesetzgebung wird dieses Handeln einer staatlichen Institution nun schlicht legalisiert, womit der Staat sich, beinahe unkenntlich gemacht durch das Netz an beteiligten Institutionen, selbst grünes Licht gibt – was auch, wenngleich meist weniger offensichtlich, für alle anderen staatlichen Handlungen gilt. Die grundlegende Selbstreferentialität staatlicher Organisation, die ihre Legitimität aus sich selbst zieht und in einem kaum durchdringbaren Netz aus verschiedensten Institutionen immer nur auf sich selbst verweist, stellt die Grundlage dieser Möglichkeit willkürlichen Legitimierens und Delegitimierens dar.

Zu lösen ist dieses Problem indes weder durch Verweis auf Gewaltenteilung noch durch Verweis auf das sog. Volk, von dem dem Grundgesetz zufolge alle Macht ausgeht. Eine Gewaltenteilung löst dieses grundsätzliche Problem nicht, da sie notwendigerweise eine partikuläre ist. Die einzelnen Gewalten, die gemeinsam den Staat bilden, berufen sich aufeinander und sind darüber hinaus in Teilen kongruent. Die Individuen, die das sog. Volk bilden, wiederum werden vom sich vor ihm konstituierenden Staat in diese Rolle gedrängt, ohne sich ihr entziehen zu können, womit die eigentliche Macht vom abstrakten Gebilde ausgeht.

Konsequenzen für die Gesellschaft

Beide Faktoren stellen für die westliche Gesellschaft in ihrer heutigen Ausformung eine existentielle Bedrohung dar, konstituiert sie sich doch seit der Überwindung absolutistisch-klerikaler Herrschaft überwiegend durch den Verweis auf Selbstbestimmung, individuelle Freiheit und demokratischer Organisation. Diesen Grundfaktoren wird unter dem Brennglas der pandemischen Situation wie unter dem weltweit tatsächlich zunehmender Terrorismusfälle der Boden entzogen, indem die Herrschenden ihre Einstellung diesen Grundkonstituenten gegenüber als beliebig offenbaren und die Selbstreferentialität staatlicher Organisation damit ebenso wie grundsätzliche Probleme menschlicher Herrschaft stärker als bisher zutage treten lassen.

Diese eindeutige Regression in den Autoritarismus stößt erstaunlicherweise jedoch nicht auf Protest durch Individuen, die ihre vorgeblichen Grundwerte zu verteidigen suchen, sondern auf eine postpanoptische Gesellschaft, die aus konformen Bürger*innen, die ihr Individualsein weitgehend aufgegeben haben, besteht. Die von Foucault beschriebene Internalisierung der von den Überwachenden propagierten Werte durch die Überwachten in einer umfassend von Macht durchzogenen Welt ist ganz offensichtlich zentrales Moment der derzeitigen westlichen Gesellschaft: Selbstkontrolle und -unterwerfung finden nicht mehr aus Angst vor Strafe statt, sondern werden vollzogen in einem Modus der Gleichgültigkeit, der das Propagierte als Notwendiges versteht und kein Wissen mehr um die Kontingenz repressiver Praktiken hat. Überwachung, Disziplinierung und Kontrolle werden nicht mehr als prinzipiell zu kritisierende, kontingente Fakten verstanden, sondern als dem Sein inhärente Notwendigkeiten, von denen eine Emanzipation schlechterdings unmöglich ist.

In einem solchen Klima des weitestgehenden Schulterzuckens bleibt der Raum der Opposition und des Protests, der besetzt werden könnte durch sachlich orientierte Kritik, frei, was wiederum die Möglichkeit zur Besetzung der Leerstelle durch laute, höchst fragwürdige Gruppierungen, die auf haltlosen Radikalprotest setzen und jede Rationalität negieren, eröffnet. In der Folge wird der Begriff der Kritik neu besetzt und assoziiert mit derartigen Formen irrationalen Verschwörungsdenkens. Dieses Neubesetzen des Kritikbegriffs wiederum drängt letztlich auch die noch verbliebene sachlich-rationale Kritik, die nicht auf das Umstoßen von Fakten, sondern etwa auf die Analyse machttheoretischer und ethischer Probleme zielt, aus dem öffentlichen Raum, da es der Unterstellung, Kritik sei prinzipiell haltlos und undifferenziert, den Boden bereitet. Einer Debatten- und Diskussionskultur, die das wohl größte Hindernis für autoritäres Herrschen darstellt, wird damit auf Dauer die Grundlage entzogen, was dem Fortschreiten der Autoritarisierung folglich dienlich ist.

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