Karl-Ludwig Kley und das Wirtschaftswachstum

Wirtschaftswachstum Karl Ludwig Kley, Aufsichtsratsvorsitzender von e.on, fordert, bei Gasengpässen zuerst Privathaushalten und erst danach der Industrie die Versorgung zu kappen. Damit legt er die Probleme kapitalistischer Wachstumsfokussierung offen.

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In einem Interview mit dem Manager-Magazin, das mögliche Gasengpässe nur unter vielen anderen Themen behandelt, trifft Kley eine unmissverständliche Aussage: Er rät der Politik, „sehr ernsthaft darüber nach[zu]denken, ob sie die Reihenfolge nicht umdreht und erst bei Privaten abschaltet und dann bei der Industrie“. Zur Begründung dieser radikalen Forderung beruft Kley sich auf die Theorie des Wirtschaftswachstums: Wächst die Volkswirtschaft, schafft das Arbeitsplätze und Einkommen – und reduziert so, das ist das zentrale Argument hinter der sog. Sozialen Marktwirtschaft, soziale Probleme. Innerhalb dieser Ideologie, die hinter der derzeitigen Gesellschaftsordnung steht und auf die Kley sich beruft, ist das Wirtschaftswachstum folglich kein Selbstzweck. Als oberstes Ziel der Wirtschaftspolitik gewinnt es seine Legitimation vielmehr aus dem übergeordneten Ziel der Verringerung menschlichen Elends. Dieser Wert wiederum ist als solcher gesetzt.

Dass das Wirtschaftswachstum diese in der Sozialen Marktwirtschaft an es geknüpfte Erwartung nicht erfüllen kann, ist evident. So muss nicht nur darauf hingewiesen werden, dass der unendliche kapitalistische Wachstumszwang vor dem Hintergrund endlicher Ressourcen in letzter Konsequenz gerade eine Zerstörung der Lebensgrundlagen mit sich bringt, sondern auch auf die direkten Auswirkungen des Wachstumszwangs auf abhängig Arbeitende. Bei näherer Betrachtung des letztgenannten Aspekts zeigt sich, dass beständiges Wirtschaftswachstum die beständige Reproduktion von Herrschaftsverhältnissen impliziert. So erhalten abhängig Arbeitende zwar ein Einkommen, bleiben durch dessen Bemessung, die weitgehend losgelöst vom wirtschaftlichen oder gesellschaftlichen Nutzen ihrer Tätigkeit ist, in einer kapitalistisch organisierten Welt jedoch gerade daran gebunden, ihre Arbeitskraft weiterhin zur Verfügung stellen zu müssen – ergo: abhängig zu bleiben. Soziale Ziele werden in dieser Hinsicht durch Wirtschaftswachstum nur erreicht, insofern sie in der Produktion konsumfähiger, dabei jedoch faktisch unfreier Arbeitender ausgemacht werden. Hierin zeigt sich das im Wachstumsparadigma gefangene Wirtschaftssystem letztlich als auf Selbsterhalt gerichtet: Durch die Produktion weiterer abhängig Arbeitender wird weiteres Wachstum erzielt, das weitere abhängig Arbeitende schaffen kann usw. Bedeutend stabilisiert wird dieser Effekt – und hier zeigt sich die Mitverantwortlichkeit der Unterworfenen – in der postmaterialistischen Konsumgesellschaft durch die Doppelrolle von Arbeitenden als Konsument*innen, die dem System so gleichsam von außen zur Reproduktion verhelfen, indem sie das Wachstum nicht nur durch Produktivkraft, sondern auch durch direkten Eintrag ihres innerhalb des Systems akquirierten ökonomischen Kapitals in ebendieses befeuern.

Vor diesem Hintergrund erscheint der Charakter des Wirtschaftswachstums als sozialer Emanzipation dienend – trotz der unbestreitbaren positiven Auswirkungen auf Lebenserwartung, Zugang zu Nahrungsmitteln usw. – in höchstem Maße fraglich. Eine solche Betrachtungsweise, die nicht bloß oder zuvorderst die Verbesserung der monetären Situation fokussiert, korrespondiert im Übrigen dem OECD-Verständnis von Wohlstand, das etwa auch Jobqualität, Umweltqualität, die subjektive Lebenszufriedenheit (die, so das Easterlin-Paradox, ab einem bestimmten ökonomischen Level nicht mehr zusammen mit diesem steigt), Work-Life-Balance, soziale Kontakte oder die Möglichkeit politischer Partizipation einbezieht.

Neu oder bemerkenswert sind die angeführten Punkte indes nicht. Sie geben vielmehr einen breiten Konsens der Kapitalismuskritik wieder. Sehr wohl bemerkenswert hingegen ist die Deutlichkeit, mit der Kley in seiner Forderung offenlegt, wie stark abgekoppelt die heutige Auffassung des Wirtschaftswachstums von der Zeitigung bestimmter sozialer Effekte ist. Kley stellt zwar auf ebendiese ab, reflektiert jedoch nicht, dass im Winter zuhause frierende Arbeitende zugunsten einer Gasversorgung wohl gerne auf eine ungebremst wachsende Wirtschaft verzichten würden. Oder anders: Die positiven Effekte eines durch ungestörtes Weiterlaufen der Wirtschaft in bisheriger Höhe gesicherten Einkommens auf Arbeitende, die dieses Geld nicht ins Heizen stecken können, sind fraglich. Das gilt insbesondere, zumal soziale Sicherungssysteme, aus denen der Staat seinem Selbstverständnis nach seine Existenzberechtigung zieht, stärkere Einschnitte als die in Kleys Szenario gezeichneten auch bei Einbruch des Wirtschaftswachstums verhindern. Der zu erwartende Einwand, diese Sicherungssysteme ließen sich wiederum nur über Wirtschaftswachstum finanzieren, läuft dabei ins Leere, ist er doch nur innerhalb einer kapitalistischen Organisationsweise, die hier insgesamt infrage steht, haltbar.

De facto zeigt sich damit in Kleys Äußerung exemplarisch, dass das Wirtschaftswachstum im gegenwärtigen Kapitalismus auch gegen die Interessen und Bedürfnisse derjenigen, denen es der Theorie nach dienen soll, gefordert und beizeiten durchgesetzt wird. Sie legt damit die grundlegenden Probleme einer auf diesen Faktor fokussierten Wirtschaftspolitik offen.

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