Seit einem Dreivierteljahr gehört die Berichterstattung zu Corona nun dazu wie der Wetterbericht. Es ist normal geworden, dass in Nachrichtensendungen, Zeitungen und auf Websites die aktuellen Zahlen genannt und gezeigt werden. Daten-Dashboards, Diagramme und Karten finden sich allerorten. Sie sollen helfen, das Infektionsgeschehen abzubilden, Trends zu zeigen und politische Entscheidungen nachvollziehbar zu machen.
Dabei kommt diesen Diagrammen und Karten eine zweischneidige Rolle zu. Einerseits sind sie eben gut dafür geeignet, Verläufe sowie An- und Abstiege in Trends zu schildern: Die meisten Menschen sind mit einem auf Mustererkennung optimierten Sehapparat ausgestattet und können über solche Grafiken deutlich mehr Informationen aufnehmen als in der gleichen Zeit per Text oder gesprochenem Wort. Das Problem andererseits ist, dass die Informationen, die durch die Diagramme transportiert werden, schnell als wahr und aussagekräftig empfunden werden.
Marcel Pauly, der beim Spiegel den Bereich Datenjournalismus leitet, erläutert gegenüber dem Freitag die dortige Herangehensweise bei der Darstellung der Daten zu Covid-19 so: „In unseren Visualisierungen versuchen wir stets eine Balance aus Einfachheit und Kontextualität zu finden.“ Dabei müsse nicht zuletzt auch der eingeschränkte Platz bei der Darstellung auf mobilen Geräten mitgedacht werden. „Eine Erläuterung innerhalb der Grafikelemente zum Hintergrund der Fallzahlen und der Größenordnung der Dunkelziffer oder zusätzliche visuelle Elemente zur Darstellung von Unsicherheitsbereichen“, so der Datenjournalist, „würde die Grafiken nach unserer Ansicht überfrachten und die Verständlichkeit erheblich senken.“ Ein Text zu Häufigen Fragen (FAQ), der unter manchen Corona-Grafiken auf spiegel.de verlinkt ist, sei in den vergangenen Monaten von einer sechsstelligen Zahl von Lesern besucht worden, berichtet Pauly.
Angesichts von monatlichen Besucherzahlen von mehr als 20 Millionen auf spiegel.de interessiert sich also nur ein kleinerer Teil derjenigen, die dort Datenvisualisierungen sehen, für den FAQ-Text. Überhaupt ist schwer zu sagen, wie hoch die „data literacy“, die Datenkompetenz, in der Bevölkerung ist. Klar ist, dass nicht zuletzt das Robert-Koch-Institut (RKI) sie heben könnte. Dessen Datenveröffentlichungen sind die zentrale Autorität bei der Beurteilung des Infektionsgeschehens hierzulande.
So erklärt die Chefredakteurin Digitales von ARD-aktuell, Juliane Leopold, gegenüber dem Freitag die Darstellungen der Coronadaten in der TV-Ausgabe der Tagesschau und auf der Website tageschau.de: „Den Schwerpunkt unserer Berichterstattung legen wir darauf, die übersichtliche Darstellung der Zahlen zu liefern, welche der Bundesregierung und den Landesregierungen als Basis weitreichender Entscheidungen für den Alltag vieler Menschen in Deutschland dienen.“ Die Hauptrolle spiele dabei die Zahl der offiziell gemeldeten Infektionen in Deutschland, die beim RKI eingingen. Nach der nicht näher erläuterten Auffassung der ARD-aktuell-Redaktion würde die Dunkelziffer der Infektionen dabei keine wichtige Bedeutung zukommen.
Das Versäumnis des RKI
Tatsächlich erfährt man in den vom RKI täglich veröffentlichen Covid-19-Lageberichten zum Thema Unsicherheit der Aussagekraft seiner Daten oder gar zum Stellenwert der Dunkelziffer bei den Infektionen wenig bis gar nichts. Angesichts dessen, dass diese Berichte offensichtlich zentral für politische Entscheider und Journalisten sind, dürfte das ein Fehler sein.
Denn die Daten werden immer wieder fröhlich missverstanden. Beispielsweise spielte in der Debatte um den jüngsten Teil-Lockdown eine Lagebericht-Grafik des RKI eine Rolle; sie zeigte, wo sich erfasste Infizierte angesteckt hätten. Dass das Diagramm nur für ein Viertel der bekannten Infektionen galt, wurde gerne – wohl auch aufgrund der ungünstigen Präsentation durch das RKI – übersehen. Was aber völlig fehlte, war die Berücksichtigung der Dunkelziffer beim Infektionsgeschehen: Sie dürfte die Zahl der bekannten Orte noch um einiges weiter nach unten drücken.
Es scheint eine seltsame Logik zu greifen: Weil wir nichts über die Höhe der Dunkelziffer wissen, müssen wir sie auch nicht berücksichtigen. Dabei bildet sie eine unsichtbare Welle, die deutlich höher sein dürfte als die sichtbare: Symptomfrei Infizierte, die sich nicht im Klaren darüber sein können, dass sie ansteckend sind, verbreiten das Virus auf dem Weg zu Schule, Arbeit oder an diesen Orten selbst, beim Einkaufen, Spazieren oder Demonstrieren.
Eine jüngst veröffentlichte Studie der Ludwig-Maximilians-Universität München hatte fast 3.000 repräsentativ ausgewählte Haushalte der Stadt seit dem Frühjahr wiederholt untersucht und stellte fest: Gut viermal so viele der untersuchten Personen waren mit Covid-19-Antikörpern ausgestattet als verhältnismäßig im gleichen Zeitraum bei den lokalen Gesundheitsämtern als infiziert gemeldet worden waren. Dies lässt sich nicht eins zu eins auf die Situation heute und überall übertragen. Doch liegt der Studienfaktor im Rahmen der gängigen Schätzungen, die die Höhe der Dunkelziffer bei dem Zwei- bis Sechsfachen der bekannten Infektionen vermuten.
Auch wenn es jüngst Aussichten auf einen wirksamen Impfstoff gibt: Der Diskurs darüber, wie mit der Pandemie in den kommenden Monaten umzugehen ist, könnte gewinnen, würde deutlicher darüber gesprochen, was ungewiss ist. Dazu beitragen könnte, wenn die bekannte Unbekannte, die Dunkelziffer, in der Berichterstattung und in den Datenvisualisierungen sichtbarer würde.
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