Mythos im Fluss

Ausstellung Zeitgenössische chinesische Fotografie zitiert das Bildarsenal der Kulturrevolution
Ausgabe 37/2017

Als Kunstgenre etablierte sich die Fotografie in China erst nach der Kulturrevolution. Vor 1976 wurde sie hauptsächlich dokumentarisch eingesetzt und nicht als Form künstlerischen Ausdrucks verstanden. Während der zehn Revolutionsjahre galten die Pressebilder in den Medien neben Maos Zitatsammlung als das wirksamste Propagandamittel. Die Ausstellung Arbeiten in Geschichte im Berliner Museum für Fotografie untersucht nun die Auswirkungen dieser Zeit auf die zeitgenössische chinesische Fotografie.

Viele Künstler setzen Maos Antlitz in ihren Werken symbolisch ein. Zhang Kechun ist mit 37 Jahren der jüngste Fotograf. Er hat die Kulturrevolution selbst nicht miterlebt, sein Werk ist jedoch unmittelbar von ihr beeinflusst. Das Titelfoto der Ausstellung stammt von ihm: Menschen queren den Gelben Fluss mit einem Foto von Mao Zedong (2012). Zu sehen sind Männer und Frauen, die sich mit orangefarbenen Schwimmhilfen durch den Gelben Fluss bewegen. Auf einer Boje schieben sie ein riesiges Mao-Porträt vor sich her. Die Vorlage ist offensichtlich: Mao Zedongs gewaltige Inszenierung seiner Flussüberquerung im Jahr 1966. Das Foto des „Großen Vorsitzenden“ im Bademantel vor dem Sprung in den Jangtse galt als Beweis seiner Fitness und Stärke. Auch wenn Zhangs Foto einen anderen Fluss zeigt, entzaubert seine Fotografie den Mythos von damals: Sieht man genauer hin, so fällt auf, dass die Schwimmer nicht zielstrebig in eine Richtung treiben – sie halten sich eher orientierungslos über Wasser.

Geheimnistuerei

Anders als Zhang ist der chinesische Kurator Wang Huangsheng ein Zeitzeuge der Kulturrevolution. Deshalb ist ihm die Ausstellung auch ein persönliches Anliegen. In den 1970er Jahren war Wang ein Teenager, auf dem Land hatte er durch seinen Vater die ersten Kontakte zu traditioneller chinesischer Poesie und Malerei. Am Ende der Revolution zog er nach Peking und schloss sich in dieser Aufbruchszeit der Intellektuellenszene an. Es war der Beginn seiner Profession als Künstler, Kurator und Direktor des Kunstmuseums der Central Academy of Fine Arts in Peking. Die Kunsthochschule ist direkt dem Ministerium für Bildung unterstellt und die renommierteste der Volksrepublik, das zugehörige Museum eröffnete 2008. Es zeigt Sonderausstellungen und verfügt über eine umfangreiche Sammlung, deren Werke bis in die Zeit der Ming-Dynastie datieren. Heute gilt Wang als eine der einflussreichsten Figuren der modernen Kunstszene Chinas. Er denkt, dass Ausländern der Zugang zu einem Diskurs über die Kulturrevolution in China und deren Einfluss auf die zeitgenössische Kunstszene fehlt. Der Westen, so Wang, nehme die moderne chinesische Kunst noch immer als „etwas Geheimnisvolles“ wahr.

Und es stimmt ja: Es besteht im Westen eine gewisse Skepsis und Distanz gegenüber zeitgenössischer Kunst aus China. Ai Weiwei kennt hierzulande jeder, aber wer könnte den Namen eines chinesischen Fotografen nennen? Anders als Ai wollen die Kuratoren der Berliner Ausstellung, Ludger Derenthal, Wang Huangsheng und Guo Xiaoyan, jedoch kein politisches Statement setzen. Entsprechend ausweichend antwortet Wang, wenn man nach den Bedingungen fragt, unter denen die Künstler arbeiten. Obwohl die Kulturrevolution als Thema per se politisch ist, möchten die Kuratoren die künstlerische Darstellung beleuchten. Zwar gebe es in China bereits eine wissenschaftliche Auseinandersetzung mit der Kulturrevolution, problematisch sei jedoch, dass davon bisher nur wenig in der chinesischen Gesellschaft angekommen sei. Die Beschäftigung mit der Kulturrevolution aus Künstlersicht ist für Wang deshalb ein relativ neuer Ansatz. Künstler aus unterschiedlichen Generationen würden die Geschichte sehr persönlich aufarbeiten, sagt er, und den Besuchern somit einen klareren Blick auf das Geschehene, aber auch auf aktuelle Vorkommnisse geben.

So fällt im Kaisersaal des Museums auch zuerst das riesige Bild von Wang Qingsong auf, einem der prominentesten chinesischen Fotografen. Konkurrenz (2004) ist sein Kommentar auf die Entwicklungen in der chinesischen Wirtschaft. Er inszenierte dafür Arbeiter vor meterhohen, mit Werbung beklebten Wänden. Statt Propagandaplakaten aus der Zeit der Kulturrevolution benutzt er Werbeslogans und Markenlogos von Apple, McDonald’s oder Marlboro. Die etwa 900 Plakate in der Kulisse malte er selbst.

Euphorie über McDonald’s

Zur Kamera griff Wang Qingsong erstmals nach einem sehr speziellen, einschneidenden Erlebnis. Er ist 1966 in einem kleinen Ort im Nordosten Chinas geboren, 1992 verließ er ihn, um die chinesische Hauptstadt zu sehen. Damals brachte Maos Nachfolger Deng Xiaoping die sozialistische Marktwirtschaft nach China. Als Wang Qingsong die Hysterie und grenzenlose Begeisterung bei der Eröffnung der ersten McDonald’s-Filiale in der Stadt beobachtete, beschloss er, seine Arbeitsweise zu ändern. „Das erste halbe Jahr in Peking malte ich noch auf Leinwand. Ich hatte aber immer mehr das Gefühl, dass ich den gesellschaftlichen Wandel anders darstellen sollte – mit einer künstlichen Methode. So kam ich zur Fotografie“, sagt er.

Der Bezug zur Kulturrevolution ist für Wang Qingsong offensichtlich. „Die westlichen Marken und ihre Verehrung sind für mich eine neue Kulturrevolution. Das Aufstreben der westlichen Kultur in China ist nicht natürlich – es wird extrem durch die Fantasie der Chinesen beeinflusst, die den Marken einen ideellen Wert zusprechen. So war es auch in der Kulturrevolution. Es war ein Massendenken, das nicht viel mit der Realität zu tun hatte“, erklärt er. Mit dieser Einsicht behandelt er nicht nur ein nationales Problem. Er spricht so auch direkt zu den westlichen Besuchern in der Berliner Ausstellung.

Info

Arbeiten in Geschichte. Zeitgenössische Fotografie und die Kulturrevolution Museum für Fotografie Berlin, bis 7. Januar 2018

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Geschrieben von

Lorina Speder

Freie Autorin, Künstlerin und Musikerin aus Berlin

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