Allied Force - Allied Farce

BILANZ EINES KRIEGES Flucht in die Moral ersparte die Abwägung der Zwecke

Eine Fernsehkamera war dabei und sollte wohl auch dabeisein, als der Oberkommandierende der NATO, General Wesley Clark, kurz nach Beginn der Intervention gegen Jugoslawien im Flur des Brüsseler NATO-Hauptquartiers einen merkwürdigen Hüpftanz aufführte. Mit hinter dem Rücken verschränkten Händen und aneinandergepreßten Knöcheln hüpfte der drahtige General munter umher und erklärte dann dem Reporter, was er damit ausdrücken wollte: als Befehlshaber der NATO komme er sich vor wie ein Soldat, der den Auftrag erhalten hat, mit zusammengebundenen Füßen und hinter dem Rücken gefesselten Händen dem Feind entgegenzustürmen. Wer ihm Hände und Füße gefesselt habe, verriet der General allerdings nicht.

Andere nehmen kein Blatt vor den Mund. Seit es ein offenes Geheimnis ist, daß die Operation Allied Force, gemessen an dem Ziel, das sie sich gesetzt hatte, nämlich die Vertreibung der Kosovo-Albaner durch jugoslawische Streitkräfte zu verhindern, ein totaler Fehlschlag war, werden emsig Schuldige gesucht. Die Politik sei schuld, weil sie den militärischen Apparat der NATO daran gehindert habe, seine ganze Schlagkraft gegen Milosevics Armee zu entfalten, geben Militärs zu verstehen. Was meinen sie mit »Politik«? Daß es mehr darauf angekommen sei, die 19 NATO-Staaten politisch zusammenzuhalten, und sei es um den Preis militärischer Selbstfesselung, als darauf, alle verfügbaren Kräfte und Waffen zielgerichtet einzusetzen, ist dann von ihnen zu hören.

Statt von »Politik« sprachen manche Beobachter, wenn auch meistens hinter vorgehaltener Hand, von »Demokratie«. Unter der Überschrift »Die Verlegenheit der Demokratie im Krieg« hatte der Militärexperte Jean-Pierre Langellier in Le Monde (20. 5. 1999) Überlegungen angestellt, die sich ebenso auf die umgekehrte Formel bringen ließen: »Die Verlegenheit des Krieges in der Demokratie«. »Die Demokratien«, schrieb Langellier, »bleiben Zweifeln, Skrupeln und Bedenken ausgesetzt. Sie befragen sich ständig selbst - was ihnen zur Ehre gereicht - hinsichtlich der Wirksamkeit und der Gerechtigkeit ihres Kampfes. Dieses bedächtige Hinterfragen schränkt zwangsläufig die Freiheit ihres Handelns ein.«

Eine bemerkenswerte Aussage, von Le Monde an prominenter Stelle, auf Seite eins, zur Diskussion gestellt. Es wurde also diskret darüber geklagt, daß der Krieg, der im Namen demokratischer Prinzipien, des Selbstbestimmungsrechts und der Menschenrechte geführt wurde, unter Einschränkungen litt, die - bedauerlicherweise - von der Demokratie auferlegt wurden. Nichts gegen die Demokratie - Ehre, wem Ehre gebührt! -, aber man wird doch einmal fragen dürfen, ob sie sich in militärischer Hinsicht nicht als Hemmschuh erwies.

Außerordentlich effizient im Unterschied zur demokratischen NATO-Intervention war, woran gelegentlich erinnert wird, die militärische Operation, die dem mörderischen Regime der Khmer Rouge in Kambodscha 1979 ein Ende setzte - doch wurde sie eben nicht von einem demokratisch verfaßten Land, sondern vom kommunistischen Viet nam ins Werk gesetzt. Diktaturen müssen sich nicht ständig selbst befragen - das ist beim Kriegführen offenbar von Vorteil. Doch Diktaturen sind selbstverständlich aus Prinzip abzulehnen: schließlich führte die militärische Allianz des demokratischen Westens, wie sie nicht müde wurde zu betonen, Krieg gegen einen Diktator.

Es war aufschlußreich zu beobachten, daß die Suche nach der Verantwortung für den Fehlschlag der ersten großen NATO-Operation »out of area« sehr rasch bei der Staatsform fündig wurde, die den NATO-Mitgliedsländern gemeinsam ist, es aber unterließ, den Zustand der Gesellschaften dieser Länder in näheren Augenschein zu nehmen. Man stellte also lieber die Demokratie theoretisch ein bißchen zur Disposition, als sich der Anstrengung genauen Hinschauens und folgenden Nachfragens zu unterziehen. Selbst der Sozialwissenschaftler Jürgen Habermas zog es angesichts dieses Kriegsverlaufs vor, abstrakt über Normen, Prinzipien, Wertekataloge zu reflektieren, statt über den möglichen Zusammenhang zwischen Art der Kriegführung und Gesellschaftszustand nachzudenken. Allein der Göttinger Soziologe Wolfgang Sofsky, Autor einer unter dem Titel Die Ordnung des Terrors erschienenen vielbeachteten soziologischen Analyse der nationalsozialistischen Konzentrationslager, hat sich auf dieses Terrain vorgewagt.

In seinem Kurzessay Krieg und Illusion (Die Zeit, 20. 5. 1999) schrieb er: »Die Allianz hat dem Getriebe des Terrors keinen Einhalt geboten. Ginge es tatsächlich um einen Akt humanitärer Nothilfe, dann hätte man nicht nur Feldlazarette vorbereitet, sondern auch sofort Brückenköpfe, Schutzzonen und Fluchtkorridore freigekämpft. Für diesen Einsatz fehlten der politische Entschluß, die militärische Vorbereitung und die gesellschaftliche Unterstützung. Statt dessen reagiert man auf die Fehlschläge des Luftkriegs mit dessen Verstetigung, ..., mit der Raserei der Destruktivkräfte.«

Warum fehlte die gesellschaftliche Unterstützung für die, von Sofsky angedeuteten Maßnahmen effektiver Nothilfe, während die gleichen Gesellschaften den rund um die Uhr geführten und zahlreiche Zivilopfer fordernden Bombenkrieg gegen Jugoslawien erstaunlich gleichgültig hinnahmen? An schierer Uninformiertheit konnte es nicht liegen, da die Medien der westlichen Hemisphäre die Öffentlichkeit lange und bilderreich über den in Terror gegen die Bevölkerung umgeschlagenen Anti-Guerillakrieg im Kosovo unterrichtet hatten. Die Parole vom gegen das Belgrader Regime geführten »moralischen Krieg«, die der Generalsekretär der NATO ausgab und bei jeder Gelegenheit wiederholte, schien im Großen und Ganzen mit Zustimmung aufgenommen worden zu sein. Die Idee, etwas im Namen der Moral und nicht für materielle, gar territoriale Interessen zu tun, kam gut an. Zu viel mehr schien es aber nicht zu reichen.

Das wiederum kann nicht verwundern, wenn man sich vergegenwärtigt, wie sich Angehörige unserer Gesellschaften in Situationen des Alltags verhalten, die nach einem Eingreifen zur Abwehr einer Gefahr für Leib und Leben anderer rufen. In aller Regel unternehmen sie nichts. Gewalttäter wissen das, sie müssen gar nicht mehr abwarten, bis der Platz um sie herum menschenleer ist, ehe sie sich auf ihr Opfer stürzen. Oft genug werden Ausländer, Behinderte oder andere als Objekt der Aggression ausgewählte Individuen in Sichtweite von Passanten angegriffen und zusammengeschlagen. Immer wieder wird von Vergewaltigungen berichtet, die sich in einer U-Bahn oder einem Vorortzug abspielen konnten, obwohl andere Fahrgäste zugegen waren; die Hilfeschreie des Opfers veranlaßten die Augenzeugen des Verbrechens höchstens dazu, einen anderen Waggon aufzusuchen. Bis dann jemand aussteigt und von der Station aus die Polizei alarmiert, ist es für ein Eingreifen oft zu spät.

Zeitgenossen, die eigene Hilfeleistungen unterlassen und sie an dafür amtlich Zuständige wie Polizisten delegieren, sind nicht überdurchschnittlich gefühllos oder gleichgültig. Sie sind nur die durchschnittlichen Produkte von Gesellschaften, die ihren Angehörigen beigebracht haben, spontane Regungen zu unterdrücken, bei Auseinandersetzungen sogleich das eigene Risiko gegen andere Risiken abzuwägen und im Zweifelsfall Experten für Konfliktregelung zu Rate zu ziehen.

Wollen nun solche Gesellschaften einen Krieg führen, der erklärtermaßen Nothilfe für die bedrohte Bevölkerung des Kosovo zum Ziel hatte, ist der Fehlschlag absehbar. Die Art der NATO-Kriegführung entsprach dem erwähnten Verhalten in der U-Bahn angesichts einer Gewalttat: eigene Risiken noch mehr scheuend als den Anblick des Verbrechens, rief man - diesmal in Gestalt von Luftflotten - Ordnungskräfte herbei, die wiederum unter Vermeidung eigener Risiken aus sicherer Distanz ihre Waffen einsetzten. Als die NATO sich aufgefordert sah, aus Transportmaschinen Lebensmittel für ausgehungert im Land umherirrende Kosovo-Albaner abzuwerfen, lehnte sie das unter Hinweis auf die Gefährdung der Besatzungen der zum Zweck des gezielten Abwurfs niedrigfliegenden Maschinen kategorisch ab.

»Wer sich an einem Krieg zur Nothilfe beteiligt, ohne den Sieg erkämpfen zu wollen«, schrieb Wolfgang Sofsky, »handelt naiv, fahrlässig und verantwortungslos. Der Krieg setzt nicht nur die Bereitschaft zum Töten voraus, sondern auch den physischen Mut, für andere das eigene Leben zu riskieren, zu leiden und notfalls zu sterben. Gesellschaften, welche diese Tugend nicht aufbringen, sollten schleunigst den Rückzug antreten.«

Das ist zwar etwas altväterlich-pathetisch ausgedrückt, der Kern der Aussage benennt aber die Achillesferse, an der die mächtigste Militärallianz der gegenwärtigen Welt verwundbar ist und die sie deshalb mit allen Mitteln abschirmt: um keinen Preis das Leben der eigenen Leute riskieren. Der absolute Imperativ der »Eigensicherung«, wie der deutsche Verteidigungsminister Scharping betont, umgibt sich zugleich mit einem Strahlenkranz moralischer Empörung über die Untaten des Gegners, in dessen Widerschein der Anteil eigener Risikoscheu dann verschwindet.

Solche Flucht in die Moral, schrieb Sofsky, »erspart die Abwägung der Zwecke und den Einsatz der erforderlichen Mittel. Die bestürzte Rhetorik vom Völkermord und plötzlichem Zivilisationsbruch entspricht spiegelbildlich der militanten Rhetorik der Gewaltlosigkeit um jeden Preis, auch um den Preis eigener Unterlassungsschuld.« Der Hinweis auf die »militante Rhetorik der Gewaltlosigkeit« war in diesem Zusammenhang nicht ohne Belang, da sie daran erinnerte, daß die für die NATO-Intervention politisch Verantwortlichen fast allesamt deren Tradi tion verpflichtet waren: vom Kriegsdienstverweigerer Clinton über den NATO-Gegner Solana bis zum Anti-Raketen-Demonstranten Scharping. Zwar betonen diese Politiker ohne Unterlaß, daß sie sich seit ihren Jugendtagen verändert und daß sie unter dem Eindruck der Gewaltexplosion im Bosnien-Krieg und anderswo von ihren einstigen pazifistischen Überzeugungen Abschied genommen hätten, wobei sie mit dem Pfund ihrer Bekehrung propagandistisch auch noch ausgiebig wucherten, doch brachten gerade Konzeption und Verlauf der von ihnen mitgetragenen NATO-Intervention zum Vorschein, daß dieser Abschied nur partiell stattgefunden hatte.

Ein Tabu, das Anhängern der Gewaltlosigkeit heilig ist, das Tabu des Tötens anderer - »ich bin nicht auf der Welt, um arme Schlucker umzubringen«, sang Boris Vian zur Zeit des Indochina-Krieges in seinem vom damaligen Innenminister Mitterrand verbotenen Chanson Le déserteur -, das haben alle diese ehemaligen 68er und Baby-Boomer à la Clinton in der Tat erfolgreich beiseite geräumt: Sie töteten nicht schlecht (aus der Luft), Jung und Alt, Mann und Frau, Freund und Feind, Militärs und Zivilpersonen, und zwar ohne sichtbaren Zusammenhang mit der Absicht der Nothilfe. Wenn sich herausstellte, daß ihre Bomben Schminkerinnen und Serviererinnen der Caféteria des Belgrader Fernsehens zerfetzt hatten, dann erklärten sie aufgeräumt vor der Kamera, daß solche Leute nichts als Rädchen in der jugoslawischen Militärmaschine seien, somit freigegeben zum Abschuß. Die Tötungshemmung oder - wie der modische Ausdruck lautet - die »Berührungsangst« gegenüber der Idee des Tötens wurde also erfolgreich überwunden. Doch die andere, aus pazifistischen Vorzeiten geerbte Hemmung, diejenige nämlich, unter Umständen auch das eigene Leben aufs Spiel zu setzen, sie war nach wie vor in Kraft und sogar ins Denken der Militärs eingedrungen.

Solange diese Hemmung nicht angetastet wurde, was der Abschaffung der Tötungshemmung eine unverkennbar sadistische Komponente hinzufügte, konnten die Führer der tonangebenden NATO-Staaten sich der Unterstützung durch ihre jeweiligen Öffentlichkeiten sicher sein. Denn Bürger westlicher Länder, die angesichts einer in ihrer Nähe verübten Gewalttat lieber wegsehen und allenfalls hinterher zum Handy greifen, um amtliche Hilfe herbeizuholen, sie erkannten sich in Präsident Clinton wieder, der Woche um Woche zögerte, die Apache-Kampfhubschrauber in einen riskanten Einsatz zu schicken. Solange die Hemmung, eigene Risiken einzugehen, intakt bleibt - und es ist nichts zu sehen, was sie abbauen könnte -, wissen die Herrscher von Ländern, mit denen die westliche Allianz künftig in einen bewaffneten Konflikt geraten könnte, ganz genau, was sie von dem Bündnis westlicher Staaten zu befürchten haben - und vor allem, was nicht.

Die NATO-Operation Allied Force - im Jargon der Journalisten in Allied Farce umgetauft - war unübersehbar das Produkt der Epoche, die auch den Telefonsex hervorgebracht hat. Die an der Strippe empfundene Lust überwältigt zwar nicht, aber man geht kein Ansteckungsrisiko ein. So wie es hier mehr die Idee der Sexualität ist, die erregt, als die Sexualität selbst, so war es im Fall der NATO-Intervention die ihr vorangetragene Idee der Moral, was den westlichen Gesellschaften gefiel, nicht die Moral der Nothilfe selbst, aus der, würde sie ernstgenommen, weniger gefällige Verpflichtungen folgten. Diese wurden ihnen einerseits von NATO-Kommandanten abgenommen, die ihre Piloten von hoch oben bomben ließen, was das Zeug hielt, und wen auch immer es traf. Und andererseits vom Kriegsverbrechertribunal in Den Haag, dessen der nordamerikanischen Baby-Boomer-Generation entstammende Chefermittlerin Louise Arbour den Kriegsherren Clinton, Solana, Blair, Scharping et cetera in der Neigung zum risikolosen moralischen overkill durchaus das Wasser reichen kann.

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