Trauungen fanden statt im Lager Auschwitz? Diese Nachricht, meinte ein Bekannter, als er vom neuen Buch Erich Hackls erfuhr, werde all denen willkommen sein, die schon immer der Meinung waren, dass es in den Nazilagern - von einigen Härten und Exzessen abgesehen - eigentlich recht normal und zivilisiert zugegangen sei. Ungehalten angesichts der Idee eines solchen Fests im KZ war er vor allem deshalb, weil er sich seit langem mit den Auschwitz-Leugnern herumschlägt und auf alle Anzeichen von Banalisierung des Verbrechens empfindlich reagiert. Hatte nicht der französische Gründungsvater der Negationismus-Sekte, Paul Rassinier, von dem "schönen Leben" geschwärmt, das er im Lager Dora-Mittelbau als zur SS-Wachmannschaft kommandierter Häftling hatte führen dürfen? Falls der Bekannte trotz allem zu Hackls Buch greift, wird er entdecken, dass diese Geschichte der "Hochzeit von Auschwitz" nichts schönredet, sondern ganz im Gegenteil den Nazihorror von einer weiteren entsetzlichen Seite zeigt.
Neun Monate nach der von oben gnädig erlaubten Trauung mit der spanischen Mutter seines Söhnchens war der aus Wien stammende politische Auschwitz-Häftling Rudi Friemel, die zentrale Figur bei Hackl, nicht mehr am Leben: Das gleiche Reichssicherheitshauptamt in Berlin, das im März 1944 die Genehmigung zur Trauung des Paars im Standesamt des Stammlagers Auschwitz erteilt hatte, übermittelte im Dezember 1944 Himmlers Befehl, den Häftling Friemel zusammen mit vier anderen wegen eines Fluchtversuchs zu hängen. Zu diesem Zeitpunkt waren die Krematorien von Auschwitz-Birkenau bereits gesprengt; einen Monat später erreichte die Rote Armee das von den Nazis geräumte Lager. Bis dahin jedoch hatte notfalls der Galgen die Ordnung des Terrors zum Sieg zu führen.
Weder Hochzeit noch Hängen in Auschwitz hat Erich Hackl erfunden. Wie der Autor im Anhang mitteilt, war er durch den linken Publizisten und ehemaligen Spanien-Kämpfer Leopold Spira auf die ihm unbekannte Episode hingewiesen worden. Der gesammelte dokumentarische Rohstoff wurde dann aber nicht im Fluidum einer gefälligen Erzählform aufgelöst: Hackls genuin literarische Leistung besteht im Erarbeiten einer eigenwilligen, montageartigen Darstellungsform, die das Material nicht, wie etwa in Biografien üblich, narrativ abschleift und glättet, sondern ihm seine Widerstandsfähigkeit lässt.
Lesern mag das Verfahren zunächst die Lektüre erschweren, da sie zu Beginn eines neuen Abschnitts nicht gleich wissen, wer nun spricht und von welchen Personen aus welchem Land und in welcher Situation die Rede ist. Es wird ihnen eine erhöhte Aufmerksamkeit für Einzelne und Einzelheiten abverlangt, denen sich unter Umständen Hinweise auf Ort und Zeit entnehmen lassen. In solcher Lesearbeit bildet sich etwas von den Mühen ab, die es kostet, extrem verwickelte Verhältnisse, wie sie für das 20. Jahrhundert kennzeichnend sind, zu begreifen und Zusammenhänge zwischen den Fragmenten herzustellen, in die zahllose Lebensgeschichten dieses Jahrhunderts aufgesprengt wurden. Es ist ja das Unwahrscheinliche, das in der Epoche der Diktaturen, der Kriege, Fluchten und Deportationen zur Regel wurde
Anzug aus der SS-Kleiderkammer
Unwahrscheinlich ist schon das Paar, das im März 1944 im gewöhnlich mit Totenregistratur beschäftigten Lagerstandesamt getraut wird und die Hochzeitsnacht in den Räumen des Lagerbordells verbringen darf. Wie ist die Spanierin Margarita Ferrer y Rey, Tochter eines anarchistischen Mediziners, mit dem sozialistischen Wiener Automechaniker Rudi Friemel zusammengekommen, der - bevor er in den dreißiger Jahren arbeitslos wird - bei der Productiv-Gesellschaft der Wiener Fleischselcher beschäftigt ist?
Friemel zieht als Freiwilliger in den Spanischen Bürgerkrieg, und Margarita Ferrer schließt sich einer Gruppe junger republikanischer Frauen an, die von Zeit zu Zeit den Interbrigadisten aus aller Welt ein wenig Unterhaltung bringt. Bei einer solchen Gelegenheit verlieben sich beide ineinander. Ein weiterer Entwurf einer Liebe auf den ersten Blick, wie Hackls 1999 erschienene letzte Erzählung heißt, die in einem Hospital in Valencia ihren Ausgang nimmt.
Doch lässt Francos Sieg dem Paar kaum Zeit. Friemel flieht wie die meisten Angehörigen der geschlagenen republikanischen Armee nach Frankreich und wird dort von jener stolzen III. Republik, die jede Intervention zugunsten der spanischen Demokratie verweigert hat, zusammen mit anderen Spanienkämpfern interniert. Ferrer, die es ihrerseits nach Frankreich verschlägt, wird arbeitsverpflichtet. Friemel gelingt es schließlich, aus dem Lager Gurs zu entkommen und sich im - nach dem deutschen Einmarsch 1940 - unbesetzten Süden mit seiner Geliebten zu treffen. 1941 gebärt Margarita einen Sohn. Der Kindsvater hat jedoch kaum Zeit, sich an seinem Spross zu erfreuen. Eine Reise zurück in die Heimatstadt Wien, wo sich Friemel wieder legal niederlassen will, endet bei der Gestapo - Anfang 1942 wird er als Schutzhäftling im ehemals österreichischen Kasernenkomplex in Auschwitz interniert, den die SS in ein KZ umgewandelt hat. Margarita Ferrer wird unterdessen zum Arbeitsdienst in Deutschland zwangsverpflichtet.
Im Laufe des Jahres 1943 setzt sich der Häftling Friemel, der als Mechaniker bei der SS-Fahrbereitschaft in Auschwitz Verwendung findet, in den Kopf, die Mutter seines Kindes zu heiraten, um sie damit - da er insgeheim ihre Rückkehr nach Spanien fürchtet - enger an sich zu binden und gleichzeitig seinen Sohn zu legalisieren. Er spricht beim Lagerkommandanten vor und wendet sich mit Eingaben an das Reichssicherheitshauptamt. Schließlich wird der spanischen Zivilistin Margarita Ferrer sowie Friemels Vater und Bruder als Trauzeugen ausnahmsweise der Zutritt zum Stammlager gestattet. Der Bräutigam lässt sich mit Anzug und Schuhen aus der SS-Kleiderkammer für die standesamtliche Trauung festlich herrichten. Festmusik gibt es allerdings nicht, da es Friemel versäumt hat, sich mit dem für die Häftlingskapelle verantwortlichen Oberkapo ins Benehmen zu setzen.
Hinrichtung auf Befehl Himmlers
Bemerkenswert die Reaktion der größtenteils politischen Mithäftlinge auf die Trauung ihres Kameraden, die als Ergebnis zähen Aushandelns mit der SS-Hierarchie zustande gekommen ist. Es hätte nicht überrascht, wenn sie danach - Friemels Anbiederung bei den Nazis verurteilend - auf Distanz zu ihm gegangen wären. Solche Erwartungen jedoch - und das ist die vielleicht historisch gewichtigste Lektion - sind nachträgliche Fabrikationen, die an der psychologischen Situation der damals Eingesperrten vorbei zielen.
Die Hochzeit von Auschwitz gewinnt die Wirkung eines Aufbruchssignals, das den Widerstandswillen von Friemels Schicksalsgenossen wachruft. "Die Hochzeit war wie das Eintauchen in eine Normalität, die uns längst abhanden gekommen war", lässt Erich Hackl einen von ihnen erklären. "Wir verbuchten sie auch als patriotischen Gewinn, als Akt der Selbstbehauptung, vielleicht sogar als nachträgliche Korrektur unserer Niederlage ... Wir würden fliehen, denn wir wussten jetzt, dass wir lebten."
Ein Fluchtplan der kleinen Gruppe österreichischer und polnischer Häftlinge, zu der auch Friemel gehört, sieht nach dem Entweichen ein erstes Unterkommen bei der zuvor alarmierten polnischen Widerstandsbewegung vor. Aus dem Lager kommt die Gruppe jedoch erst gar nicht heraus, da der scheinbar nazifeindliche SS-Fahrer, dem sie vertraut, den Plan an die Gestapo verraten hat. Einige der Gefangenen nehmen gleich bei ihrer Entdeckung Gift, die anderen - darunter Friemel - wandern in den gefürchteten "Bunker" des Stammlagers. Kompetenzgerangel zwischen den verschiedenen hierarchischen Ebenen der Nazis verzögert die mehrfach angesetzte Hinrichtung - bis Himmler per Machtspruch im Dezember 1944 das Hängen befiehlt.
Der Anstoß zur befreienden Tat, den die Hochzeit von Auschwitz gegeben hat, ist in den Auftakt zum Untergang des Häftlings Friemel umgeschlagen. Diese grausige Realdialektik der Geschichte streicht Hackl in seiner Darstellung nicht heraus. Er überlässt es dem Leser seines Buches, dem er anstelle der üblichen Genrebezeichnung schlicht den Untertitel Eine Begebenheit mitgab, hinter die Doppelbödigkeit dieser Hochzeit zu kommen. Wie Christoph Hein versteht sich Hackl als "Chronist", der es nicht als seine Aufgabe ansieht, das schnörkellos Berichtete auszuschmücken und mit Deutungen auszupolstern.
Gespür für das leidende Einzelwesen
Dieses still aufwühlende Buch gibt ein weiteres Mal zu erkennen, was den 1954 geborenen Wiener Autor und gelernten Historiker Erich Hackl als intellektuellen Zeitgenossen unter seinesgleichen unverwechselbar macht. Es ist nicht, wie ihm oft herablassend nachgesagt wird, linke Nostalgie gegenüber der Epoche des Spanischen Bürgerkrieges und des antifaschistischen Widerstandes, sondern Respekt vor leidenden Individuen, die - gerade wenn sie in den Strudel entfesselter Gewalt geraten, eigensinnig an ihrer Wahl des Neinsagens zur Übermacht der Verhältnisse festhalten.
Vor 70 Jahren warf Kurt Tucholsky dem Literaten Oswald Spengler, dem Verfasser von Der Untergang des Abendlands, vor, überhaupt kein "Gefühl für das Einzelwesen" zu haben, dafür ständig "mit dem Kosmos herumzuwirtschaften". Seit das Herumfuchteln mit dem "Ende der Geschichte", mit dem "clash of civilizations" und anderen Totschlagworten wieder schwer in Mode kommt, ist Erich Hackl leises Schreiben, das vom Gespür für das leidende Einzelwesen lebt, erst recht ein Lichtblick in der verödenden geistigen Landschaft.
Erich Hackl, Die Hochzeit von Auschwitz. Eine Begebenheit. Diogenes-Verlag, Zürich 2002.
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