Kritische Masse

SMITH & WESSON ALS VERFASSUNGSERSATZ Christoph Heins neuer Roman"Willenbrock"zielt ins Herz der grassierenden Sicherheitshysterie

Alles was ich erreichen konnte, habe ich erreicht. Ich wüßte nichts, was mir fehlt. Ich habe es geschafft. Mir geht es gut", heißt es am Ende der 1982 in der DDR erschienenen Novelle Der fremde Freund, die den Dramatiker Christoph Hein mit einem Mal auch als beachtlichen Erzähler bekanntmachte, zuerst im Osten, dann auch im Westen. Die triumphalen Sätze, die der Autor seiner Ich-Erzählerin am Schluss in den Mund legt, klingen nach allem, was vorher von ihrem eingefrorenen Leben zu erfahren war, wie reiner Hohn und passen dennoch zu der Theorie, die sich die Ärztin Claudia zurechtgelegt hatte: "Die gesamte Zivilisation ist eine Verdrängung", lautet ihre Devise; wem es gelingt, sich damit abzufinden, dem geht es gut in dieser Zivilisation. Aber der dafür in Gestalt emotionaler Selbstverstümmelung zu zahlende individuelle Preis, zeigt Heins Novelle, ist ungeheuer hoch. Diese subtile Form erzählter Gesellschaftskritik, die über DDR-Kritik weit hinausging, honorierten damals sehr viele Leser, auch außerhalb Deutschlands, nachdem zahlreiche Übersetzungen erschienen waren.

Gut geht es, wenn auch auf andere Weise, dem Ingenieur Willenbrock, der Titelfigur von Heins neuem, seinem fünften Roman, mit dem der Autor nach achtzehn Jahren beim Berliner Aufbau-Verlag zu Suhrkamp nach Frankfurt wechselt. Die "Wende" liegt in der erzählten Zeit dieses Romans bereits so lange zurück, daß sie als Datum schon keine Rolle mehr spielt. Mit der DDR hatte der Ingenieur Willenbrock zwar seinen Arbeitsplatz verloren, doch danach hat er rasch gelernt, aus den neuen Verhältnissen das Beste herauszuholen. Auf dem Gelände einer stillgelegten Gärtnerei hat er einen Gebrauchtwagenhandel eröffnet, den eine sich bald einstellende osteuropäische Stammkundschaft in eine Goldgrube verwandelt. Ein Haus am Rande Berlins und ein Landhaus in Vorpommern nennt er bald sein eigen. Seiner Frau hat er in der Stadt eine Modeboutique einrichten können, die zwar keinen Gewinn abwirft, sich mit Zuschüssen aus dem florierenden Autohandel aber über Wasser halten läßt. Willenbrock hat sich daneben einen kleinen Harem von Freundinnen zugelegt, der die Ehe jedoch eher stabilisiert als in Gefahr bringt, da die Seitensprünge den Ehemann Willenbrock dazu veranlassen, sich jeweils neu von den Reizen und Vorzügen seiner Frau zu überzeugen. Ein vorzügliches Lebensarrangement.

Mit seinem gegenwärtigen oder vergangenen Schicksal zu hadern, kommt dem vielbeschäftigten Autohändler nicht in den Sinn. Als er erfährt, daß ihm zu DDR-Zeiten eine Dienstreise ins westliche Ausland gestrichen worden war, weil ein Kollege ihn als unzuverlässig verpfiffen hatte, kann er sich darüber nicht einmal richtig aufregen. In der Gegenwart hat er es geschafft, die Vergangenheit geht ihn nichts mehr an. Und doch gibt es etwas, was den ausgeglichenen Techniker Willenbrock aus dem Gleichgewicht bringen kann und schließlich aus dem Gleichgewicht bringt. Ganz unauffällig schleicht es sich heran, in Form banaler Zwischenfälle, die nichts Ungewöhnliches sind in einem am Stadtrand eingerichteten Autohandel. Nachts werden Wagen aufgebrochen und gestohlen, ein extra eingestellter Nachtwächter wird überwältigt, sein Hund wird erschlagen. Die von Willenbrock alarmierte Polizei nimmt ein Protokoll auf und läßt es dabei bewenden.

Als eines Nachts auch das Landhaus Besuch von Einbrechern erhält und kriminelle Gewalt Willenbrock unmittelbar auf den Leib rückt, beschleunigt sich ein unmerklich angelaufener innerer Erosionsprozeß. Der nachfolgende Ausbau des Landhauses zur elektronisch gesicherten Festung vermag ihm nicht Einhalt zu gebieten. Was Hein in seiner Figur Willenbrock zerfallen läßt, ist weit mehr als das narzißtische Gefühl der Unverletzlichkeit, das ihn wie viele andere Tag für Tag über die Runden bringt. Die Angriffe auf sein Eigentum allein werfen den technisch versierten, rational denkenden und seiner Einkünfte sicheren, gelernten Ingenieur nicht aus der Bahn. Was in diesem Mann aus den Fugen gerät, ist das Vertrauen in eine Grundübereinkunft, die zu den historischen Errungenschaften der neuzeitlichen Zivilisation gehört.

Diese dem Rechtsstaat zugrunde liegende Übereinkunft besteht darin, daß der Einzelne, der ein Unrecht erlitten hat, auf die Erfüllung des Bedürfnisses nach individueller Rache verzichtet und im Gegenzug die Garantie erhält, daß der Staat den Rechtsbruch ahndet, dadurch die Interessen des Geschädigten vertritt und die verletzte Ordnung wiederherstellt. Heins großartige erzählerische Leistung besteht darin, in der Modellierung seiner Figur Willenbrock einen gesellschaftlich schwer greifbaren Prozeß sichtbar zu machen, der über viele Zwischenschritte zur Aufkündigung dieser zivilisatorischen Grundübereinkunft führt.

Nichts hat Willenbrock individuell dazu prädestiniert, eines Tages zum Anhänger gewalttätiger Vergeltung zu werden. Er wird als ein Mann vorgestellt, der es in der DDR vorgezogen hatte, als Bausoldat zu dienen, statt eine Waffe in die Hand zu nehmen. Wenn sein bester russischer Kunde, ein Mann mit guten Verbindungen zur Unterwelt, ihm vorschlägt, einen seiner Jungs das Problem mit dem früheren Denunzianten regeln zu lassen, lehnt er kategorisch ab. Auch die Einbrecher, die die Polizei hat laufen lassen, will er nicht von schlagkräftigen Beauftragten seines russischen Geschäftspartners gejagt sehen.

Eine fabrikneue Smith Wesson, die ihm für 300 Mark angeboten wird, weist er erst zurück, erwirbt sie dann aber doch nach einigem Zögern. Je länger Willenbrock die Waffe mit sich herumträgt, desto mehr entwickelt dieses Objekt ein merkwürdiges Eigenleben, macht sich in seinen Gedanken breit, steuert auch seltsame Tagträume, in denen etwa ein vermeintlicher Liebhaber von Willenbrocks Frau dran glauben muß.

Der Bann, mit dem die um den Rechtsstaat herum entwickelte westliche Zivilisation die Versuchung zur Lynchjustiz belegt, verliert im Bewußtsein der Figur Willenbrock Stück für Stück an Geltung. Dieses Bewusstsein mit seiner gefährdeten Balance steht in der erzählten Welt des Romans nicht für sich, es verweist auf das komplizierte Beziehungsgeflecht, das im Innern moderner Gesellschaften für die Aufrechterhaltung gesellschaftlicher Loyalität sorgt, ohne dass mit Gewalt gedroht werden muß. Was Christoph Hein am Beispiel seiner Romanfigur erzählend entfaltet, ist nichts weniger als das scharf gezeichnete Bild des Erosionsprozesses, der die zivilisatorische Errungenschaft Rechtsordnung im Zeichen allseits geschürter Kriminalitätshysterie zu erfassen beginnt. Ein Zusammentreffen realer wie fiktiver Bedrohungen genügt, um eine explosive kritische Masse hervorzubringen, der dann das verinnerlichte Beziehungsgeflecht der Zivilisation zum Opfer zu fallen droht. In der erzählerisch außerordentlich gelungenen Ausgestaltung dieser Möglichkeit liegt die eminent politische Bedeutung des neuen Romans von Christoph Hein. Es geht nicht mehr um Deutschland mit seinen Ost-West-Verwerfungen, es geht um Verwerfungen innerhalb der gesamten westlichen Zivilisation.

Der Autor lässt alles noch einmal glimpflich ausgehen, lässt Willenbrock ungeschoren davonkommen, nachdem er einen Mann, der sich an seinem Auto zu schaffen machte, mit einem Schuss niedergestreckt hatte. Durch den thrillermäßig vielleicht unbefriedigend undramatischen Ausgang lenkt Hein die Aufmerksamkeit jedoch umso mehr auf das, was sich im Innern seiner Figur abspielt und was doch in inniger Verbindung mit Verschiebungen in der gesellschaftlichen Umgebung steht. Mit atemberaubender erzählerischer Intensität schildert der Roman einen inneren Umbau, den Willenbrock eher über sich ergehen lässt, als dass er ihn bewusst in die Wege leitet. Der einstige Bausoldat, der in der DDR keine Waffe in die Hand nehmen wollte, ist am Ende so weit neu hergerichtet, dass es ihm sogar Spaß macht, "eine richtige Waffe zu besitzen."

Mit diesem Spaß ist er schließlich ganz in der westlichen Welt angekommen, der ehemalige DDR-Ingenieur. Insoweit erzählt Hein, wenn auch ironisierend, von einer Erfolgsgeschichte: der Autohändler Willenbrock hat es in jeder Weise geschafft. Jetzt kann er sich einer Leserin des amerikanischen Magazins Harper's zugesellen, Rebecca Tolley-Stokes aus Johnson City, Tennessee, die jüngst in einem Leserbrief offen aussprach, was Willenbrock noch für sich behält, wenn er vom Spaß an der Waffe spricht: "Meine Smith Wesson schützt mich besser als die Verfassung".

Christoph Hein: Willenbrock, Roman. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2000, 319 S., 39, 80 DM

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