gestatten Sie mir, Ihnen zu Ihrem »Offenen Brief an Wolfgang Thierse« einige Anmerkungen zu schicken, nicht um Ihnen zu widersprechen, sondern um Ihnen ein paar Überlegungen mitzuteilen, die, durchaus in Ihrem Sinne, wie ich hoffe, die Kritik an der von Ihnen angesprochenen Barbarisierung der öffentlichen Sitten noch etwas weitertreiben wollen.
Als ich Thierses durchaus sympathisch einsetzenden Geburtstagsartikel für Wolfgang Ullmann las und mittendrin auf den von Ihnen herausgegriffenen Satz stieß, stockte ich zuerst, so als hätte ich in einem Konzert auf einmal ganz verkehrte Töne vernommen, etwa einen Takt aus dem Deutschlandlied in einem Stück von Erik Satie. Es kam mir danach vor, als sei Thierse plötzlich siedend heiß eingefallen, dass er zwecks Vermeidung von Missverständnissen in der Form ritueller Herabsetzung von Kritikern der Nato-Intervention eine Version 1999 jenes »Bekenntnisses zur freiheitlich-demokratischen Grundordnung« vortragen müßte, das uns aus der alten Bundesrepublik ja noch gut bekannt ist in seiner Funktion als Entréebillet zu höheren Diensten.
Da ich Thierse nicht kenne, möchte ich mich nicht an ihn, sondern an das halten, was er vertritt: Beim Anblick des Vertretenen packt mich ungläubiges Staunen, Staunen darüber, dass das, was man heute, Monate nach dem Ende von Bombardement und Nervenkrieg, mit ein klein wenig Umsicht an Fakten in Erfahrung bringen kann, in diesem Land offenbar niemanden interessiert. Es geht einzig um den Ausdruck von »Gesinnung« oder um, walsersch gesprochen, die Seele und ihren Frieden; Joschka Fischer kommt das Verdienst zu, dieses ätherische Organ, oder genauer, seine symbolisch profitable Verwertung, politikfähig gemacht zu haben. In der Freitag-Serie über den »Sonderweg« war als Variante der Seelenpolitik zu lesen, die Bundesrepublik hätte sich schon deshalb an der Intervention beteiligen müssen, damit jeder Anschein eines deutschen »Sonderwegs« vermieden werde. Was sind denn das für Argumente? Man rennt offenen Auges in die erkennbar falsche Richtung, um bloß nicht aus der Reihe zu tanzen. Der Ausverkauf jeder rationalen politischen Argumentation.
Gäbe es hier nur eine Spur jenes sonst bei uns doch hochgerühmten amerikanischen Tatsachensinns, der bei seinen dortigen Inhabern häufig den Sinn für Sarkasmus einschließt, dann müßte unseren Gesinnungs-Rhetorikern das Wort im Halse steckenbleiben. Um nur ein paar amerikanische Beispiele zu nennen, die mir unter die Augen kamen: mit Hohn und Spott fiel im Juli der Chefredakteur des traditionsreichen Magazins Harper's über den amerikanisch geführten Nato-Einsatz her, verglich ihn mit der Produktion eines hauptsächlich aus Werbeeinlagen zusammengestückelten Films, der natürlich zu keinem guten Ende kommen konnte, weil MilosÂevic´ mit keinem eigenen Film darauf antwortete, sondern mit wirklicher Kriegführung einschließlich Tarnen und Täuschen. Darauf waren die Nato-Filmproduzenten aber überhaupt nicht eingestellt. Im gleichen Magazin wird Madeleine Albright vorgehalten, ihre Obsession durch die Erfahrungen ihrer Familie mit Hitler (1938) und Stalin (1945) zum Massstab aussenpolitischen Handelns zu machen, mit der Folge, dass dann MilosÂevic´ die Rollen von Hitler und Stalin zugleich übernehmen muss, vorbei an jeder realistischen Lageeinschätzung. Ein weiteres Mal nichts aus dem Desaster des Vietnamkriegs gelernt, so eine andere amerikanische Stimme.
Der wohl recht konservative Strategie-Experte Edward N. Luttwack übte in einem noch vor dem Ende der Intervention verfass ten und dann in Foreign Affairs gedruckten Aufsatz - »Give war a chance« - Grundsatzkritik an derartigen »friedenserhaltenden« Interventionen. Seiner Auffassung nach verhindern solche Interventionen gerade einen dauerhaften Friedensschluss, der nur auf der durch Erschöpfung oder das wirkliche Kräfteverhältnis aufgezwungenen Einsicht in die Aussichtslosigkeit des Weitermachens beruhen kann, und zwar deshalb, weil Interventionen von außen beide Seiten im Zustand des larvierten Kriegs halten - wie in Bosnien. Die Rolle der bei uns gehätschelten NGOs schätzt Luttwack ganz besonders negativ ein: seinen Erkenntnissen zufolge tragen sie ihren Teil zur Verlängerung larvierter Kriege bei, weil sie nicht verhindern wollen oder können, dass sich beide Seiten zur Auffrischung der Kräfte bei ihnen bedienen. Man muss diese Einschätzung ja nicht teilen, könnte sich aber von ihr zu weiterem Nachdenken inspirieren lassen.
Aufschlussreich in den vergangenen Monaten auch die Lektüre der New York Times. Die Leitartikel waren fast genauso Nato-fromm wie die deutschen, viele Reportagen von Journalisten dagegen scheren sich nicht um die richtige Linie. Hashim Thaci wurde Ende Juni in einem auf Seite 1 der New York Times beginnenden langen Bericht als Meuchelmörder identifiziert - nicht an Serben, sondern an Rivalen aus dem eigenen Lager (er wird sicher weiter Albright-Küßchen bekommen, aber die Zyniker in der US-Administration werden sagen, wie sie es auch schon bei zentralamerikanischen Diktatoren sagten: for sure he is a son of a bitch. Aber es ist UNSER Hundesohn - wann und wo wird man dergleichen einmal hier vernehmen?).
Eine andere Reportage berichtete von Ereignissen in der Stadt Prizren, die ja unter der Obhut der Bundeswehr steht. Eine lokale Band veranstaltete ein erstes Rockkonzert nach dem Ende des Kriegs - während Bewohner auf dem Platz zuhörten, fiel eine aus Albanien kommende Bande in die Stadt ein, zündete serbische Häuser an, plünderte andere, auch albanische Häuser aus, klaute die Autos der Zuhörer, einschließlich des Autos des Veranstalters. Der fuhr am nächsten Tag über die Grenze ins albanische Kukes, wo er seinen Wagen wiederfand, allerdings zur Auslösung einen kräftigen Dollar-Aufpreis bezahlen musste, weil das Auto bereits umgespritzt war. Und das alles spielt sich unter den Augen des deutschen Kontingents der KFOR ab. Wozu wurde das eigentlich dorthin geschickt?
Le Monde berichtete gerade, dass die in Prishtina erscheinende Tageszeitung Kohat Ditore, die bei uns, als sie während des Kriegs nicht mehr erschien, als Heimstatt kosovo-albanischer Demokratie und Aufklärung gepriesen wurde, kein Wort über die täglichen Morde an Serben, über Plünderungen, Brandschatzungen, Vertreibung von Serben und Roma verlauten läßt - Journalisten, die etwas dazu schreiben wollten, würden als »Verräter« zum Schweigen gebracht. Wundern kann das eigentlich niemanden, nur gibt der Fall zu verstehen, dass es gar keines kommandierenden MilosÂevic´ bedarf, damit die Untaten der eigenen Leute verschwiegen werden. Ihnen muss ich, glaube ich, keine weiteren Details auflisten, Sie kennen gewiss solche und ähnliche Berichte und haben sich, wie ich Ihrem »Offenen Brief« entnehme, nie Illusionen über die Erfolgsaussichten der Nato-Operation hingegeben.
Sie haben sicher noch die Reden Minister Fischers und anderer Verantwortlicher im Ohr: Ziel der Intervention sei die Wiederherstellung einer »multiethnischen Gesellschaft« im Kosovo. Glauben konnten das auch damals eigentlich nicht einmal kleine Kinder, die sind vielfach cleverer, denn so wie absehbar war, dass der Bombenhagel auf Serbien die Vertreibung von Kosovo-Albanern auf Spitzengeschwindigkeit steigern und nicht aufhalten würde, sosehr war voraussehbar, dass dem Abzug der serbischen Armee der Exodus der meisten Serben und auch der Roma aus dem Kosovo folgen würde, mit tätiger Nachhilfe von UÇK und Bevölkerung und unter den Augen einer überforderten, teilweise vielleicht auch unfähigen und unwilligen KFOR. Immerhin kamen vor einigen Wochen die Stars des Films »Allied Force«, die im Frühjahr wochenlang am Bildschirm vorgeführten Wunderhelikopter mit dem romantischen Indianernamen »Apache«, noch einmal zu Ehren und dabei zum ersten balkanischen Einsatz, wie das amerikanische Fernsehen berichtete: Sie waren aufgestiegen, um den Auszug von 450 Serben aus einem gemischten Dorf im Kosovo aus der Luft zu begleiten, »vielleicht auch zu überwachen«, damit keiner aus der Reihe tanzt und dableibt. Die Bilder dieses denkwürdig heroischen alliierten Kampfeinsatzes, ein visuelles Festmahl für Zyniker.
Was geschieht unterdessen, nachdem viele Fakten dieser wahrhaft pataphysischen westlichen Intervention offen auf dem Tisch liegen, in der politischen Sphäre dieser Republik? Statt dass Abeordnete des Bundesparlaments die verantwortlichen Politiker all der Märchen wegen zur Rede stellen, die sie dem Parlament und der Öffentlichkeit erzählt haben, wobei Verteidigungsminister Scharping einen Sonderpreis für narrative Kreativität im Amt verdiente, warnt ein Abgeordneter (Thierse) einen Europa-Abgeordneten (Ullmann) ungefragt und prophylaktisch vor rein hypothetischem Mangel an Regierungslinientreue. Das scheint mir das Symptomatische an der Geschichte zu sein, über die Sie gestolpert sind: statt dass ein Abgeordneter Vertreter der von ihm zu kontrollierenden Regierung zum Reden bringt, will er widersprechenden Abgeordnetenkollegen das Maul stopfen.
Zur Entlastung Thierses würde ich allerdings einwerfen wollen, dass diejenigen, denen die Hände weit weniger gebunden sind als ihm, einem trotz seines Amts als Parla mentspräsident natürlich parteiabhängigen Abgeordneten, Leitartikelschreiber und Intellektuelle nämlich, keineswegs eine bessere Figur machen. Nach wie vor und ungeachtet sämtlicher verfügbarer Tatsachen werden in Deutschland Geisterkämpfe zwischen »Pazifismus« und »Bellizismus« ausgefochten - es wundert mich ein wenig, dass selbst Sie, wenn auch aus Distanz, mit Ihrem Bekenntnis, kein Pazifist zu sein, auf dieses Jahrmarktspektakel einsteigen. Den Sieg in dem nationalen Wettbewerb um die edelste Gesinnung im Land sollte man denen überlassen, die Übung im Siegen haben beziehungsweise in der Kunst, als einstmals selbsternannte Avantgarde auf dem Weg zum Sieg aus sämtlichen Linkskurven zu fliegen. Heute heißt ihre Partei USA-ML, doch aus den alten Zeiten wurde die Angewohnheit übernommen, den Machtinhabern (derzeit den USA) beflissen hinterherzulaufen und deren einheimische Kritiker als Störenfriede beiseitezuschieben.
»Westbindung« und Amerikafreundlichkeit stehen heute so hoch im Kurs wie noch nie, doch gehen Bindung und Freundlichkeit nicht so weit, sich auch auf nachdenkende Amerikaner zu erstrecken, die nicht in Regierungsdiensten stehen. Das sind ja nicht nur Noam Chomsky oder Edward Said (der in der Monde Diplomatique gerade dazu aufgefordert hat, nach MilosÂevic´ auch Clinton vors Kriegsverbrechertribunal zu bringen), das sind auch zahlreiche liberale und konservative Beobachter. Die hiesige Republik schert sich jedoch einen Dreck um deren faktengestützte Argumente, sie vergeht vielmehr vor Stolz, wenn ihr vor einiger Zeit als Nato-Generalsekretär ausersehener Minister Scharping von der US-Administration als großer westlicher »Demokrat« und »Patriot« gelobt wird, ohne dass jemand auch nur einen Augenblick die auf der Hand liegende verächtliche Herablassung in dieser Geste bemerkt - nach dem, was der Minister im Amt gemacht und zu verantworten hat, fragt erst recht keiner. Mit demokratischem Geist scheint mir solche Abhängigkeit von der Gunst der Mächtigsten wenig zu tun zu haben.
Ihre Geduld habe ich nun lange genug beansprucht, lieber Herr Gaus, verzeihen Sie mir bitte, dass ich mich von Stichworten Ihres Artikels dazu verleiten ließ, angesammelte Erbitterung zusammenzufassen und loszuwerden, in der Annahme, dass Sie ein offenes Ohr dafür haben. Gestatten Sie mir zum Schluss nur noch diese Anregung: wäre es nicht an der Zeit, eine Debatte über den, nicht allein von den Berufspolitikern, sondern auch von vielen anderen Akteuren mit zu verantwortenden miserablen Zustand der demokratischen Öffentlichkeit in Deutschland zu beginnen? Lassen wir Thierse aus dem Spiel, der vielleicht bloß den Wald vor lauter Parteibäumen nicht mehr sieht und vor allem das furchterregend mit den Blättern wedelnde PDS-Bäumchen strengstens fixiert.
Mit den besten Grüßen und Wünschen
Lothar Baier
Die Offenen Briefe:
Ausgabe 35: von Wolfgang Thierse an Günter Gaus.
Ausgabe 34: von Günter Gauss an Wolfgang Thierse
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