Nur auf dem Monde sicher

Kommentar Antisemitismus global?

In Istanbul zwei Synagogen in die Luft gesprengt, bei Paris eine jüdische Schule in Flammen aufgegangen; antijüdische Äußerungen nicht nur eines deutschen CDU-Hinterbänklers, auch des griechischen Komponisten Mikis Theodorakis - läuft Ende 2003 eine neue antisemitische Welle um die Welt? Hat Hannah Arendt doch Recht behalten, als sie vor mehr als 50 Jahren prophezeite, dass man vor Antisemitismus "nur auf dem Monde" sicher sei?

Entsetzlich sind die Attentate von Istanbul, nicht zuletzt auch deshalb, weil sie auf demselben türkischen Boden begangen wurden, der zu osmanisch-islamischen Zeiten die aus dem katholischen Spanien verjagten Juden gastfreundlich aufnahm. Die kleinen Überbleibsel jener sephardischen Gemeinden der Türkei durch mörderische Anschläge für irgendetwas - etwa die türkisch-israelische Militärkooperation - haftbar machen zu wollen, verrät nur die paranoide Grundverfassung, die Antisemiten eigen ist: Für deren verdrehten Geist, der sich gegen jede Wahrnehmung der Realität abschottet, stecken alle Juden der Welt unter einer Decke, woraus sie die fantasierte Lizenz herleiten, sich an jedem beliebigen jüdischen Individuum für das schadlos zu halten, was ihnen an irgendetwas Jüdischem gegen den Strich geht.

Solange nicht zweifelsfrei feststeht, woher die Täter von Istanbul kamen, ist Vorsicht geboten gegenüber vorschnellen Zuschreibungen. Ein nahöstlicher Background darf allerdings vermutet werden. Einige arabische Länder werden seit Jahren von antisemitischer Propaganda überschwemmt. Das jämmerlichste, ins Arabische übersetzte negationistische Pamphlet findet dort Abnehmer; der zum Antisemitismus konvertierte frühere Kommunist Roger Garaudy gilt aufgrund von Übersetzungen als Star. Angesichts der Blockade zwischen Israelis und Palästinensern lässt sich psychologisch gewiss erklären, weshalb Nahostbewohner, die sich vage mit den bedrängten Palästinensern solidarisch fühlen, von imaginären Antworten angezogen werden, wie antisemitische Paranoia sie bereitstellt. Schlicht mit Fingern auf arabischen Antisemitismus zeigen, das greift aber viel zu kurz, weil dieser sich von eingeführtem Kraftfutter nährt, das vorwiegend westlicher Herkunft ist. Aus Frankreich, aber auch aus den USA stammen die importierten unsäglichen Pamphlete, die den Nazi-Genozid an den europäischen Juden als The Hoax of the XX. Century (Die Ente des 20. Jahrhunderts) lächerlich machen, wie ein Buch des Informatikprofessors Richard Butz aus Chicago überschrieben ist.

Eine antisemitische Welle neuer Art ist das nicht, was derzeit um die Welt läuft - um das zu behaupten, müsste man schon die Anschläge der zurückliegenden Jahre, ob in Buenos Aires, Düsseldorf oder Carpentras, von antisemitischen Politikersätzen ganz zu schweigen, aus der Erinnerung gestrichen haben. Die Welt wird lediglich ein weiteres Mal daran erinnert, dass auch der Antisemitismus, dieses langlebige europäische Kulturerbe, sich unaufhaltsam globalisiert.


Nur für kurze Zeit!

12 Monate lesen, nur 9 bezahlen

Geschrieben von

Freitag-Abo mit dem neuen Roman von Jakob Augstein Jetzt Ihr handsigniertes Exemplar sichern

Print

Erhalten Sie die Printausgabe zum rabattierten Preis inkl. dem Roman „Die Farbe des Feuers“.

Zur Print-Aktion

Digital

Lesen Sie den digitalen Freitag zum Vorteilspreis und entdecken Sie „Die Farbe des Feuers“.

Zur Digital-Aktion

Dieser Artikel ist für Sie kostenlos. Unabhängiger und kritischer Journalismus braucht aber Unterstützung. Wir freuen uns daher, wenn Sie den Freitag abonnieren und dabei mithelfen, eine vielfältige Medienlandschaft zu erhalten. Dafür bedanken wir uns schon jetzt bei Ihnen!

Jetzt kostenlos testen

Was ist Ihre Meinung?
Diskutieren Sie mit.

Kommentare einblenden