Une bonne personne

Am 8. April wird Christoph Hein 60 Jahre alt Mit kaum einer Gabe, glaube ich, hätte man Christoph Hein zur Feier seines 60. Geburtstags mehr erheitern und erfreuen können, als mit dem Verriss ...

Mit kaum einer Gabe, glaube ich, hätte man Christoph Hein zur Feier seines 60. Geburtstags mehr erheitern und erfreuen können, als mit dem Verriss seines jüngsten Romans Landnahme in der Neuen Zürcher Sonntagszeitung. Beweist dieses Papier doch, was auch Heins Roman durch die literarische Blume zu verstehen gibt - und der Rezensent Andreas Isenschmid selbstverständlich, wie so vieles andere, nicht kapiert -, nämlich dass sich trotz Mauerfall und Ende des Ostblocks an der alten deutschen Misere nichts geändert hat.

Hein wird von Isenschmid vorgeworfen, eine "antiliberale" Botschaft zu verkünden, und zwar dadurch, dass er neue ostdeutsche Unternehmer nicht als sehr positive Helden vorführt. Mit fast gleichlautenden Worten war Hein 1983 nach Erscheinen seiner Novelle Der fremde Freund (Drachenblut in der westdeutschen Lizenzausgabe) in der DDR hart rangenommen worden, bloß trug das Verdikt damals einen anderen Namen. "Antisozialistisch" sei die Tendenz der Novelle, hieß es damals in DDR-Organen. Die Weltanschauung der Ich-Erzählerin, schrieb der seinerzeitige Hallenser Germanistikprofessor Rüdiger Bernhardt in den Weimarer Beiträgen, sei eine "unhistorische". NZZ-Isenschmid und DDR-Bernhardt können sich also in die Arme fallen! Unter Ideologen der jeweiligen Herrschaft versteht man sich halt. Der einst linientreue Bernhardt ist inzwischen natürlich erfolgreich westlich recycled worden.

Was soll das Antiliberale an einer Geschichte sein, die ganz einfach beschreibt, was war und was ist: 1944 hielten Adorno und Horkheimer das in der Dialektik der Aufklärung unübertrefflich knapp fest: "Der Triumph des Riesenkonzerns über die Unternehmerinitiative wird von der Kulturindustrie als Ewigkeit der Unternehmerinitiative besungen". Isenschmid singt kräftig und in C-Dur mit im kulturindustriellen Chor.

Mit seiner literaturkritischen Rezeption hat Christoph Hein, einer der zweifellos besten und dazu verlässlichsten deutschsprachigen Prosaautoren der Gegenwart, irgendwie kein Glück, im Gegensatz zur Aufnahme durchs Publikum, sei es vor oder nach dem Mauerfall. Der fremde Freund war 1983 den DDR-Buchhändlern aus den Händen gerissen worden, obgleich es weder Werbung noch Rezensionen gab. Eine Nachauflage des den DDR-Behörden unheimlichen Buchs wurde nicht genehmigt. Heins erster Roman Horns Ende von 1986 musste durch die Zensur gekämpft werden; seinen frühen Theaterstücken war es noch schlechter ergangen. 1987 hielt Hein vor dem DDR-Schriftstellerverband eine Rede gegen die Zensur, die, dem Gesetzes-Wortlaut nach, gar nicht existierte, obgleich jedes Kind von ihr wusste.

Seinen Ruf als Oppositioneller, fand der Spiegel-Schreiber Volker Hage nach 1989 jedoch heraus, habe Hein zu Unrecht getragen: was habe der schon gewagt? (Was Herr Hage im Lauf seines Lebens gewagt hat, wollen wir lieber nicht untersuchen - den Grüninger-Preis für Zivilcourage wird er jedenfalls nie bekommen). Immerhin besann Hage sich etwas später eines Besseren und führte Hein opportunistisch-freundlich bei Lesungen in westdeutschen Literaturhäusern ein.

Nun ist Christoph Hein allerdings ein noch entsetzlicheres Unglück widerfahren: sein jüngster Roman Landnahme wird als deutsches Geschichtsepos gehandelt, Vertreibung und Flüchtlingsschicksale, Teilung des Landes, DDR-Sozialismus und das Leiden darunter bis zur Maueröffnung und staatlichen Vereinigung "gestaltend", wie die frühere DDR-Ästhetik das genannt hätte. Das deutsche Feuilleton hat seit Jahren derart sehnlich, aber vergebens den deutschen Nationalroman über West und Ost und Mauer und Vereinigung erwartet, dass es nun seine immer wieder frustrierten Erwartungen mangels des ausgebliebenen deutschen Krieg und Frieden in Landnahme hineinprojiziert. Außerdem ist dessen Held ein aus Schlesien Vertriebener, also ein geradezu ideales neues deutsches Identifikations-Objekt, dem die gesamte deutschnationale Empathie gelten darf. Von den jüdischen Opfern der Deutschen hat die Volksgemeinschaft zwischen Rhein und Elbe, bei allem im Blick aufs Ausland gebotenen Respekt vor ihnen, allmählich, scheint es, die Schnauze ziemlich voll. Aber natürlich sagt man das nicht laut.

Heins Roman handelt freilich von etwas ganz anderem als von deutschen Opfern. Der von ihm geschaffene Bernhard Haber scheint mir ein naher Verwandter jener Hein-Figuren zu sein, die man als die Gekränkten kennzeichnen könnte. Der Historiker Horn, Titelfigur von Horns Ende (1986), ist einer von ihnen: man hat ihm Unrecht getan, und etwas in ihm verwindet das nicht, bohrt und nagt. Dem Tangospieler ergeht es ähnlich. Auch in Willenbrock, dem ostberliner Nach-Wende-Autohändler, Hauptfigur des gleichnamigen Romans, ist etwas geplatzt, nachdem er einem Raubüberfall zum Opfer fiel. Die von Hein subtil geschilderten Kränkungen sind etwas ganz anderes als Verletzungen, die irgendwann ausgeheilt sind oder sich durch juristische und materielle Entschädigung aus der Welt schaffen lassen. Über ihre Kränkung wächst eben gerade kein Gras.

Das versteht ihre Umgebung jedoch nicht. In Heins Romanen und Erzählungen - etwa den in dem Band Exekution eines Kalbes (1994) gesammelten - tauchen immer wieder derart Gekränkte auf, die in einer Art Untröstlichkeit verharren. Es sind in der Regel nicht unangepasste Außenseiter, die unter ihnen zugefügten Kränkungen am meisten leiden, sondern eher unauffällige Zeitgenossen, die sich als Gekränkte wider Willen in Randständige verwandelt sehen und dann mit der ihnen aufgezwungenen, ihnen nicht auf den Leib geschriebenen Rolle, in Konflikt geraten. In Landnahme - diesem ähnlich wie Horns Ende mehrstimmig erzählten Roman - schildert Hein mit außerordentlichem psychologischen Feingefühl, wie sich im Kopf des sich gekränkt fühlenden Handwerkers Bernhard Haber allmählich ein Komplex der Unberechenbarkeit enwickelt.

Nach der Vertreibung aus Schlesien nach Sachsen verschlagen, hat die Flüchtlingsfamilie Haber die geballten Ressentiments der Ortsansässigen zu spüren bekommen, wie es gleichzeitig auch in den Westzonen gang und gäbe war. Dem Vater Haber wird die Werkstatt angezündet, der Hund des Sohns Bernhard wird getötet. Die Vergeltungsgedanken, die im Kopf des Jungen reifen, nehmen lange keine deutliche Form an. Er betätigt sich zwar einmal als Agitator, der Bauern in die LPG zu prügeln hat, aber das erweist sich nur als Intermezzo.

In der Kleinstadt Guldenberg, der gleichen, in der Horns Ende spielt, geht das Leben seinen Gang, einen nicht immer sozialistischen. Die regierende Partei SED mitsamt ihren Funktionären scheint nur eine Randexistenz zu führen: in der Kleinstadt mit ihrer Sozialstruktur gelten andere Regeln als die von der Partei ausgedachten. Wie nebenbei zeichnet sich in Heins Darstellungsweise die Kontur von etwas ab, was man "Zivilgesellschaft" nennen könnte, hingen an dem verbrauchten Begriff nicht so viele Missverständnisse. Das Zivile ist keineswegs immer zivil, Korruption und Kriminalität zählen zum Kitt dieser Gesellschaft, die ein Eigenleben führt, das mit Begriffen wie Diktatur oder Totalitarismus auf keinen Fall zu fassen ist.

Deshalb bilden die Öffnung der Berliner Mauer und die Vereinigung in der Guldenberger Welt auch keine radikale Zäsur. Nur für das Vergeltungsbedürfnis Bernhard Habers ergeben die neuen Verhältnisse ungeahnte Möglichkeiten. Der zum erfolgreichen Unternehmer aufgestiegene Haber kann nun die Leute, an denen er sich für einstige Drangsalierungen des Flüchtlings aus Schlesien rächen will, zu Tode konkurrieren, ganz legal. Die kapitalistische Normalität wird, so die ironische Wendung des Chronisten Hein, zur Verbündeten des an seinem Gekränktsein Erkrankten.

Am 8. April wird Christoph Hein 60 Jahre alt. In den neunziger Jahren ist er dem Tod nach einem Zerebralunfall gerade noch von der Schippe gesprungen. Im Januar 2002 erlag seine Frau Christiane, eine bedeutende Dokumentarfilmerin, einem elenden Krebsleiden: Christoph hatte Christiane bis zu ihrem Tod zuhause gepflegt und umsorgt. Nicht nur ein guter Schriftsteller, Christoph Hein, sondern auch, wie man französisch sagt, une bonne personne.

Mit den Worten Kurt Tucholskys, ein von Hein besonders geschätzter Autor, ausgesprochen zum 75. Geburtstag Sigmund Freuds im Jahr 1931, möge Christoph Hein geehrt sein: "Wir grüßen ihn voller Liebe und Respekt".


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