An der Zeitenwende

Lothar Bisky Der ehemalige Vorsitzende der Linken beschrieb einst für den "Freitag", wie er den Mauerfall erlebte. Gestern ist er im Alter von 71 Jahren verstorben
An der Zeitenwende

Foto: AFP/ Getty Images

Selbstverständlich ging ich zur Premiere von Coming out am 9. November 1989. Das Drehbuch kannte ich, das halbe Drehteam sowieso. Und Heiner Carow, der Regisseur, hatte auch noch meinen Arbeitsraum als „typisches Intellektuellenzimmer“ – wie er meinte – zum Drehort erklärt. Das wurde durchaus schwierig, zumal dicke Stromkabel in das alte Haus in Oberschöneweide in den vierten Stock gelegt werden mussten, um die erforderliche Helligkeit zu erzeugen. Warum mein Arbeitszimmer ein typisches Intellektuellenzimmer sein sollte, hat Heiner Carow mir nie begründet. Vielleicht beeindruckten ihn der Mut zur Unordnung und die großen Papierstöße, die alle noch abgearbeitet sollten, sobald dazu mehr Zeit war. Leider war nie mehr Zeit, schon gar nicht im Herbst 1989.

Explosive Widersprüchlichkeit

Heiner Carow trug damals noch schwer an der Enttäuschung, die beiden Stoffe Paule Panke und Simplizissimus bei der DEFA nicht drehen zu können. Zu Recht verwandt er das schwer. Der Schrifsteller Franz Fühmann hatte das Drehbuch zum Simplizissimus geschrieben. Zweifellos wäre es ein großes Friedens-Filmepos geworden, voll von jener Leidenschaft, die Heiner Carow in filmischer Kommunikation zu vermitteln verstand. In jenen Jahren, in denen ich an der Filmhochschule Potsdam-Babelsberg war, übte er auf mich einen wohltuenden Druck aus: Da das DEFA-Studi0 ihn nicht alles drehen ließ, mussten die von ihm betreuten Studenten selbstverständlich alles drehen dürfen. Er half aber auch, das durchzusetzen, was er wollte, und warf seine ganze Persönlichkeit in die Waagschale, um ideologische Ängstlichkeiten zu verdrängen und mit seinen Filmen brisante, ungewöhnliche Geschichten zu erzählen. Er drängte zur Ermutigungspädagogik.

Ich wusste, wie sehr ihm Coming out ans Herz gewachsen war. Ein offener Film über Homosexualität, in dem auch gezeigt und gestaltet wird, war keinesfalls selbstverständlich. Ein Hauch von Spießertum durchzog die DDR. Wie würde der Film beim Publikum ankommen? Da gab es durchaus Ungewissheiten. Natürlich gab man sich weltläufig und offen. Dennoch verrät ein kleiner Dokumentarstreifen von Andreas Dresen, der Präservative in Drogerien kaufen ging, anhand der Druckserei und kindlichen Unsicherheiten viel von der leicht verklemmten Erotik, die allenthalben spürbar war. Die Bilder, die Dresen dokumentierte, umfassen die ganze hochexplosive Widersprüchlichkeit, der erst recht Homosexualität ausgesetzt war. Wer, wenn nicht Heiner Carow, der große Frauen-Versteher, hatte das Zeug, eine homosexuelle Beziehung sensibel zu gestalten!

Mein alter Freund Horst Hartwig hatte wie stets umsichtig die Produktion betreut. Ein Ensemble begabter Schauspieler mit Dagmar Manzel, Matthias Freihof, Werner Dissel und Michael Gwisdek war gefunden – und das Land in Aufruhr. Am 4. November hatten sich in der Nähe des Premierenkinos International an der Berliner Karl-Marx-Allee Hunderttausende zur größten Demonstration der DDR-Geschichte für Presse- und Versammlungsfreiheit, also für die Einhaltung der DDR-Verfassung, zusammen gefunden. Tausende hochintelligenter Plakate dokumentierten die Implosion der SED-Autorität.

Scheinbar nur oberflächlich lassen sich beide Ereignisse aufeinander beziehen: In der DDR-Verfassung waren Presse- und Versammlungsfreiheit garantiert. Dennoch war die Praxis eine andere, und Hunderttausende klagten demonstrativ ein, was ihnen laut Verfassung zustand. Das Verbot der Homosexualität war in der DDR längst aufgehoben, sie war erlaubt, aber vielleicht erging es ihr ähnlich wie der Presse- und Versammlungsfreiheit. So ganz traute keiner dem widersprüchlichen Frieden, deshalb war Carows Film so wichtig.

In jeder Hinsicht perfekt

Natürlich war das Kino International voll. Die Atmosphäre knisterte. Nicht wenige eilten von den vielen Diskussionen in der Stadt und im Lande zur Premiere. Obwohl es angesichts der Situation draußen schwer war, sich voll auf den Film zu konzentrieren, herrschte gespannte Aufmerksamkeit. Der Film wurde begeistert aufgenommen. Carow hatte erneut den Nerv des Publikums getroffen.

Für mich wurde der Abend zur Tortur. Ich hatte Zahnschmerzen, die kontinuierlich schlimmer wurden. Zur Premierenfeier im Lokal Zum Burgfrieden ging ich deshalb nicht, weil ich anderen nicht die Laune verderben wollte. Also ab nach Hause. Ein guter Freund hatte mir geraten, einen doppelten Cognac über den schmerzenden Zahn zu kippen. Das half leider nicht. Im Gegenteil. So versuchte ich es mit einem Zweiten, schlief schließlich ein und erfuhr erst am nächsten Morgen: die Mauer ist offen. Das Coming out war in jeder Hinsicht perfekt. Die Wirklichkeit hatte die Kunst überholt.

Die wirklichen Ereignisse, die in atemberaubenden Tempo das Land veränderten, beanspruchten eine alles andere verdrängende Aufmerksamkeit. Der Film wurde durch den Strudel der Ereignisse ungerechtfertigt zur Seite gedrängt. Während der Streifen Die Legende von Paul und Paula, ebenfalls von Heiner Carow gedreht, zu einer Art von „modernem Volksmärchen“ aufstieg und in Ostdeutschland zum im Gedächtnis haftenden kulturellen Erbe mehrerer Generationen gehört, gelang Coming out eine derart nachhaltige Wirkung nicht.

Lothar Bisky war ab 1986 Rektor der Hochschule für Film und Fernsehen in Potsdam. Er war einer der beiden Vorsitzenden der Linkspartei und Europa-Abgeordneter.Er ist am 13.08.2013 verstorben

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