Die letzte Volkskammer der DDR hat sich schon früh mit der Frage der Rehabilitierung und der Wiedergutmachung erlittener Schäden befaßt. Dabei warfen sich sehr bald zwei grundsätzliche Fragen auf. Zum einen - wieviel Kontinuität braucht man auch in Zeiten des Umbruchs, um eine totale Implosion der Gesellschaft zu verhindern, und zum anderen - wie hebt man Unrecht auf, ohne zugleich neues Unrecht zu begehen?
Im wesentlichen haben wir uns für die Kontinuität und die Beschreibung der Ausnahmen entschieden. So haben wir in Artikel 18 des Einigungsvertrages die Fortgeltung von gerichtlichen Urteilen der DDR und in Artikel 19 des Einigungsvertrages die Fortgeltung von Verwaltungsakten der DDR vertraglich vereinbart und zugleich festgelegt, daß aber eine
r eine Überprüfung unter rechtsstaatlichen Aspekten möglich sein soll.Den diametral entgegengesetzten Weg gingen wir, auch auf Drängen der Bundesregierung, in der Eigentumsfrage. Durch die Favorisierung des Rückgabeprinzips wurden de facto fast alle Enteignungsakte der DDR, wohlgemerkt der DDR, nicht der sowjetischen Besatzungsmacht, aufgehoben und lediglich die Ausnahmen beschrieben, bei denen das Rückgabeprinzip nicht greifen sollte.Die gemeinsame politische Erklärung beider deutscher Regierungen vom 15. Juni 1990 zur Eigentumsfrage, später Anlage III des Einigungsvertrages, war die Grundlage des Vermögensgesetzes, das nach der Einigung eine Reihe von Novellierungen und Ergänzungen durch weitere Gesetze und Verordnungen erfahren hat...Der Auftrag des Vermögensgesetzes, das Helmut Schmidt einmal zynisch als die größte ABM-Maßnahme für die deutsche Anwaltschaft bezeichnete, ist noch nicht abgearbeitet und wird die Vermögensämter und Verwaltungsgerichte noch eine Weile beschäftigen. Ob wir mit einem Entschädigungsprinzip und der dann ebenfalls notwendigen Beschreibung von Ausnahmen mehr Gerechtigkeit erzielt hätten, vermag ich nicht zu entscheiden.Erreicht haben wir so aber insbesondere für viele Ostdeutsche eine hohe Rechtsunsicherheit und einen gewaltigen Vermögenstransfer von Ost nach West, was sich daraus ergibt, daß die Mehrzahl der seinerzeit Enteigneten nach Westdeutschland gingen und dort ihren Lebensmittelpunkt fanden und nun auch nach Restitution ihres Eigentums behalten.Viel Mühe, um nicht zu sagen Herzblut, verwandten die Volkskammerabgeordneten auf das Rehabilitationsgesetz vom 6. September 1990, das sehr umfangreiche Rehabilitierungs- und Entschädigungsmaßnahmen für erlittenes strafrechtliches, verwaltungsrechtliches und arbeitsrechtliches Unrecht vorsah.Leider, wenn auch für mich verständlich, konnte sich die bundesdeutsche Seite nicht entschließen, dieses Gesetz über den Einigungsvertrag ins fortgeltende Recht zu bringen. Der Grund war, daß wir damals nicht einschätzen konnten, welche finanziellen Lasten sich aus den vorgesehenen Entschädigungen ergeben würden.So blieb es zunächst bei der in Artikel 17 des Einigungsvertrages bekräftigten Absicht, unverzüglich die entsprechenden gesetzlichen Grundlagen für Rehabilitierung und Entschädigung zu schaffen.Leider haben wir damals verabsäumt, den Begriff »unverzüglich« zu definieren und vertraglich zu vereinbaren, so daß es dazu kam, daß das 1. SED-Unrechtsbereinigungsgesetz, das die strafrechtliche Rehabilitierung regelt, erst am 29. Oktober 1992 und das 2. SED-Unrechtsbereinigungsgesetz, das die verwaltungsrechtliche, die berufsrechtliche und die rentenrechtliche Rehabilitierung regelt, gar erst am 23. Juni 1994 beschlossen wurde.Die zu rehabilitierenden Tatbestände sind deutlich weniger, als sie das Volkskammergesetz vorsah, und die Entschädigungen sind, soweit sie im Einzelfall diesen Namen überhaupt verdienen, geringer als die Beträge, die Frau Kenzler von der PDS jetzt für die ehemaligen SED-Hoheitsträger als Haftentschädigung forderte. Erlassen Sie mir, dies zu kommentieren.Weniger durch die relativ geringen Entschädigungen als vielmehr durch die lange Dauer bis zur Gesetzgebung hat das geeinte Deutschland ein wichtiges Signal an die Opfer, daß ihnen Genugtuung widerfahren wird, vertan.Doch jeder (Jurist), der einmal auf dem Gebiet der Entschädigung immaterieller Schädigungstatbestände gearbeitet hat, kann ermessen, wie schwierig es ist, beispielsweise entgangene Bildungschancen, weil man aus einem christlichen Elternhaus kam oder entgangene berufliche Chancen, weil man nicht in die SED eintreten wollte, zu würdigen.In den letzten Wochen, oder besser Tagen, ist die Diskussion darüber, wie man mit den Tätern umgehen solle, im Zusammenhang mit Friedrich Schorlemmers Amnestievorschlag wieder entfacht worden.Zu den Mauerschützenprozessen und dem damit verbundenen Politbüroprozeß habe ich mich schon geäußert. Doch, was soll mit den das Recht beugenden Richtern im Havemann-Prozeß, dem SED-Funktionär, der Wahlen, die kaum diesen Namen verdienten, fälschte, den vielen kleinen Helfern und Helfershelfern des Systems werden? Es wurde großer Aufwand getrieben. Aus über 22.000 Ermittlungsverfahren resultierten 880 Anklagen, die lediglich zu 211 Urteilen führten. Nur 21 Täter waren oder sind in Haft.Der Berliner Justizsenator Ehrhart Körting kam in seinem in der Evangelischen Akademie in Loccum gehaltenen Vortrag »Ist (Straf-)Recht ein geeignetes Mittel zur Aufarbeitung der Geschichte?« angesichts des genannten Zahlenmaterials, ohne sich für eine Amnestie auszusprechen, zu folgendem Schluß:»Faktisch kommt deshalb die strafjuristische Behandlung des DDR-Unrechts einer Amnestie sehr nahe - das justitielle Verfahren ergab eher die Feststellung von Schuld, als die Festlegung von Sühne.« Dies mag konsequent finden, wer will.Wenn ich dem Schorlemmerschen Vorschlag nicht ablehnend gegenüberstehe, dann nicht etwa deswegen, weil ich Egon Krenz helfen wollte, sondern weil ich mir von einer solchen Maßnahme eine befriedende Wirkung verspreche, weil ich nicht möchte, daß die Ostdeutschen sich länger bei der Berichterstattung über diese Verfahren für diese Schandtaten in Mithaft genommen fühlen müssen.Die Ruinierung einer Volkswirtschaft, der geistigen und sittlichen Befindlichkeit eines ganzen Volkes, die Indoktrination der Jugend von zwei bis drei Generationen, dies sind die Vorwürfe, die ich der SED zu machen habe. Sie aber sind mit Mitteln des Rechts, will man dem Politbüro nicht einen späten Sieg über den Rechtsstaat gönnen, nicht zu sanktionieren.Das Hauptargument derer, die einen solchen Gedanken nicht akzeptieren können oder wollen, ist, daß gegen eine Amnestie der Anspruch der Opfer des Regimes auf Sühne und Genugtuung spreche. Dem halte ich, selbst wenn es zynisch klingt, entgegen, daß Opferbefindlichkeit kein Strafzumessungskriterium ist.Zu den großen zivilisatorischen Kulturleistungen der Menschheit gehört es, daß sie die Ahndung strafrechtlich relevanten Verhaltens aus der Täter-Opfer-Beziehung herausgenommen und auf den Staat delegiert hat, um so die Opferbefindlichkeit nicht zum Richter werden zu lassen.Jede moderne Strafprozeßordnung schließt den als Richter aus, bei dem wegen Opfernähe Befangenheit zu besorgen ist. Nein, Opferbefindlichkeit ist kein Kriterium für eine Amnestie. Ausschlaggebendes Kriterium kann nur der gesellschaftliche Friede sein.In diesem Zusammenhang komme ich auf die Stasi-Akten: Ich bin inzwischen überzeugt davon, daß es richtig war, sie zu öffnen und sie so zu enttabuisieren. Sie waren hilfreich bei der historischen Forschung, sie waren unverzichtbar bei den Rehabilitierungen, und sie haben geholfen, manches Mißtrauen abzubauen.Aber ebenso, wie ich von der Richtigkeit der Öffnung der Akten überzeugt bin, bin ich überzeugt davon, daß es notwendig ist, sie in absehbarer Zeit für den allgemeinen Gebrauch wieder zu schließen.Schon am 2. Januar 1991 schrieb mein Freund Richard Schröder in der FAZ folgendes: »Wir müssen wieder zu der Normalität zurückfinden, daß wir uns unser Urteil über andere Menschen aus unseren Erfahrungen mit ihnen bilden. Es kann jedenfalls in Zukunft nicht so zugehen, daß wir die Westdeutschen nach unseren Erfahrungen mit ihnen beurteilen, bei den Ostdeutschen aber wird immer erst noch mal in den Stasi-Akten nachgesehen, was wir von ihnen zu halten haben.« Dem habe ich nichts hinzuzufügen.Über der ganzen Diskussion, wie mit der Vergangenheit der Ostdeutschen umgegangen werden solle, steht meines Erachtens die zutiefst deutsche Illusion, man könne Vergangenheit bewältigen.Man kann - in engen menschlichen Grenzen - nach Zeiten gesellschaftlicher Verirrung und staatlicher Gewalt Gerechtigkeit zu schaffen und Unrecht zu bestrafen suchen. Aber der Vergangenheit kann man sich nur erinnern und ihre Lehren, welche diese auch immer sein mögen, versuchen zu beherzigen.Wenn ich gefragt werde, wie der Ostdeutsche zum Rechtsstaat steht, würde ich antworten: Er respektiert ihn, ist aber in ihm noch nicht angekommen, er findet seine Verfahren zu kompliziert und ist von seinen Ergebnissen nicht immer überzeugt.Das liegt zum einen sicherlich an einem Irrtum: Stets wurde dem DDR-Bürger geradezu eingebläut, daß Recht und Moral deckungsgleiche Kreise seien. Recht, insbesondere sozialistisches Recht, produziere geradezu Moral und führe den Amoralischen sicher auf den Tugendpfad zurück. Dieser Erwartungshorizont wurde fast nahtlos auf die neue Rechtsordnung übertragen.Nur mühsam wird gelernt, daß Recht eben nicht, wie Böckenförde es formulierte, »Tugend- und Wahrheitsordnung, sondern Friedens- und Freiheitsordnung« ist.Und zum anderen hatte das Recht in der DDR im wesentlichen Zuteilungs- und Ausgleichsfunktion, war Ausdruck, wenn man es freundlich formuliert, der Fürsorge des Staates für den Bürger, unfreundlich ausgedrückt, des Totalanspruchs einer politischen Gruppierung, nämlich des Politbüros der SED über den zum Leibeigenen degradierten Bürger. Mit dem ungeliebten vormundschaftlichen Staat verschwand auch der zwar ebenfalls ungeliebte, aber vertraute Vormund, der Adressat persönlicher Erwartungen, Ansprüche und Ärgernisse.Aus einer solchen Erfahrungssituation heraus ist eine immer wieder aufs Neue auszubalancierende Antinomie zwischen liberaler Rechtsstaatlichkeit einerseits und staatlich steuernder Sozialstaatlichkeit andererseits nicht leicht zu begreifen.Aus einer bislang gesellschaftlich definierten Gegenwart und Zukunft des Einzelnen wurde plötzlich freie und gestaltbare Zeit. Gestaltungsraum ohne die gewohnten Leitplanken und Stopschilder.Als eine vielleicht grundlegende Konsequenz aus dem Leben in einem totalitären Staat machte ich und mit mir viele andere die Erfahrung, daß seine Beseitigung unser Leben einschneidender veränderte, als wir darauf vorbereitet waren. Die sich daraus ergebende anthropologische Frage ist nicht nur: »Wieviel Freiheit braucht der Mensch?«, sondern auch: »Wieviel Freiheit kann er ertragen?« Aber das ist ein neues Thema.Lothar de Maizière (CDU) war letzter DDR-Ministerpräsident und arbeitet heute als Anwalt in Berlin. Der Artikel ist Teil einer längeren Arbeit.
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