Die Exekution des 33-jährigen Massenmörders Timothy McVeigh habe ich am Autoradio live miterlebt. Der 11. Juni 2001 war ein ausnehmend sonniger Tag. Ich fuhr durch noch frühlingsgrüne Wälder, vorbei an den traditionellen Einfamilienhäusern, die in Neuengland Colonials heißen, vorbei an weißen Gartenzäunen, die Tom Sawyer offenbar gerade gestrichen hat.
Es ist jetzt acht Uhr morgens, sieben Uhr in Haute Terre, Indiana, wo Medienleute eben die letzten Minuten des Todeskandidaten beobachten und simultan rapportieren. Dasselbe Radio, das bei Ausstrahlung einer Medizinsendung vor so gewagten sexuellen Begriffen wie Vagina und Penis warnt, dieselbe öffentlichrechtliche Station, die in einer Hommage an den Bürgerschreck der sechziger Jahre, Lenny Bruce, seine legendären Kabarettnummern zensiert und jedes einzelne Fuck und Shit mit einem Piepston unterlegt, protokolliert in der folgenden Viertelstunde fein säuberlich wie einer im Namen des Rechts vorsätzlich zu Tode gebracht wird.
Ich fingere unentschlossen an den Knöpfen herum. Die Citoyenne schämt sich, im 21. Jahrhundert bei einer öffentlichen Hinrichtung dabei zu sein. Die Journalistin aber will wissen, wie die USA nach 38 Jahren das Comeback der Todesstrafe auch auf nationaler Ebene inszenieren. Am 15. März 1963 - noch unter John F. Kennedy - war der schizophreniekranke Victor Feguer wegen Entführung und Erschießung eines Arztes in Iowa gehängt worden; der Präsident hatte eine Begnadigung abgelehnt. Es heißt, der Häftling habe sich eine Olive mit Kern als Henkersmahlzeit gewünscht, damit auf seinem Grab ein Olivenbaum sprieße, ein Zeichen der Versöhnung. Feguers Anwälte waren danach überzeugt, dies sei die letzte Hinrichtung der Vereinigten Staaten von Amerika gewesen. Doch die Zeiten haben sich geändert. Präsident Bush, der als Gouverneur des Staates Texas eine Rekordzahl von Exekutionen angeordnet hat (152 in fünf Jahren), zögert nicht, auch auf Bundesebene alttestamentarische Zustände wiedereinzuführen. Und McVeigh, der sechs Jahre zuvor mit seinem Bombenanschlag auf ein Bürogebäude in Oklahoma 168 Menschen umgebracht hat, ist der ideale Poster Boy für die Todesstrafe, weitaus publikumswirksamer als die armen Teufel, die ansonsten in den Todeszellen warten.
Timothy McVeigh liegt festgebunden auf einer Bahre in der Exekutionskammer. Kurz bevor in einem mehrstufigen Prozess zuerst anästhesierende und dann letale Flüssigkeiten durch die gelbgrauen Infusionsschläuche injiziert werden, gehen die Vorhänge zu den drei voneinander abgetrennten Zuschauerabteilen auf: vier Zeugen für den Angeklagten im ersten Raum, nebenan zehn Medienleute, die aus Tausenden von Bewerbern ausgelost wurden, und schließlich zehn Vertreter der Opfer und Familienangehörigen. An der Decke direkt über dem Angeklagten ist eine Kamera montiert, die das Geschehen nach Oklahoma City überträgt, wo 200 Überlebende des Attentats, die das gewünscht hatten, der Hinrichtung beiwohnen. Die Radioberichterstatter vermelden, dass McVeigh den Augenkontakt mit allen Anwesenden sucht, dass seine Lippen nach der ersten Infusion bleicher werden. Sie registrieren die feinen spasmischen Zuckungen des verendenden Körpers, die offenen Augen im Tod.
Ein pensionierter Vollzugsbeamter lobt die professionell soldatische Haltung des Häftlings. Tatsächlich hat der Golfskriegsveteran McVeigh im Kampf gegen den Staat dessen Methoden und Rhetorik übernommen; die 19 Kinder, die durch seine Bombe starben, bezeichnete er als Kollateralschaden. McVeigh - als Richter über Leben und Tod wie der Staat, der ihn nun zu Tode richtet.
Ich habe mich hoffnungslos verfahren und versuche gerade zu wenden, als McVeighs letzte Worte, die er handschriftlich hinterließ, verlesen werden. Sie stammen von einem britischen Dichter des 19.Jahrhunderts namens William Ernest Henley, ein Freund und Bewunderer von Robert Louis Stevenson (Die Schatzinsel) und ein vehementer Gegner des dandyhaften Oscar Wilde. McVeighs Testament heißt Invictus (Unbesiegt) und endet mit den Zeilen "Ich bin der Meister meines Schicksals, der Führer meiner Seele." Das passt in eine Gesellschaft, die sich durch ihren Überlebenskampf konstituiert, durch Sieg und Niederlage, Gedeih und Verderb - Live free or die (Freiheit oder Tod), wie es auf dem offiziellen Nummernschild meines New Hampshire Fahrzeuges heißt. Der Staatsfeind McVeigh ist letzten Endes doch ein Patriot.
Bereit, einen Unschuldigen zum Tode zu verurteilen
"Closure", einen definitiven Abschluss, ja Heilung versprechen die Befürworter der Todesstrafe den Angehörigen der Opfer - eine Beendigung ihres Leidens durch die Elimination des Täters. Einige haben das im Fall McVeigh so empfunden. Andere wurden gerade durch die eigene Konfrontation mit Gewalt und Destruktion zu aktiven Gegnern der Todesstrafe. Das war auch nach den Attentaten vom 11. September so: Präsident Bush präsentierte sich umgehend als oberster Heiler und Richter, in unsicheren Zeiten eine gesellschaftlich mehrheitsfähige Doppelfunktion. Doch gerade unter den Angehörigen der Terroropfer gibt es eine sehr aktive Gruppe von Friedensaktivisten. Sie reisen nach Afghanistan, um sich mit Familien von Opfern des Rachefeldzuges der USA zu treffen. Sie sagen, Leiden wird überall durch gewaltsame "Lösungen" verursacht, durch selbstherrliches Richten über Leben und Tod. Sie sagen es laut und deutlich, aber sie sind nur wenige, sie gehören zur Minderheit.
"Die meisten Amerikaner glauben, dass Blutvergießen notwendig ist, um unseren Lebensstil zu erhalten, und riskieren sogar gelegentliche Irrläufer", schreibt die Schriftstellerin Barbara Kingsolver. "Wir sind bereit, allenfalls einen Unschuldigen zum Tode zu verurteilen, weil für jedes Verbrechen bezahlt werden muss, selbst wenn kein Gericht vollkommen ist." In der Rechtsprechung der USA triumphiert die Sühne eines Verbrechens über die Versöhnung, Vergeltung über Resozialisierung. Selbst geistig Behinderte und jugendliche Täter werden vielerorts hingerichtet. Eine psychisch kranke Mutter, die ihre fünf Kinder ertränkte, weil sie entsprechende Stimmen aus dem Jenseits vernahm, wurde durch einen Juristenkniff als im Moment der Tat zurechnungsfähig definiert und lebenslänglich ins Gefängnis gesteckt. Politisch motivierte Taten wie die der radikalen Gruppe Weathermen in den Sechzigern können noch Jahrzehnte nach dem Geschehen geahndet werden.
Die Haftdauer in den USA ist extrem lang, lebenslänglich heißt wirklich lebenslänglich, ohne Begnadigung. Dieses erbarmungslose Recht macht die Gesellschaft nicht sicherer, aber offenbar bringt es individuelle Genugtuung und politischen Gewinn. Denn es verspricht wie das biblische Weltgericht den Endsieg des absolut Guten - eine Welt, in der es keine Nacht mehr gibt: "Und nicht wird irgend etwas Unreines in sie eingehen, noch wer Gräuel und Lüge übt" (Offenbarung 21,27).
Einer spritzt Wasser auf den nackten versengten Körper
Ein Historiker, mit dem ich über die "USA im Ausnahmezustand" sprach, hat mir ein Buch über die rassistischen Lynchmorde im Süden der Vereinigten Staaten in die Hand gedrückt: Without Sanctuary (Schutzlos) heißt es. Ein älterer schwarzer Mann aus Mississippi erinnert sich darin: "Jede andere Jagd war geregelt und hatte ihre Schonzeiten, bloß uns Nigger gab man das ganze Jahr über zum Abschuss frei." 4.700 Afroamerikaner sind zwischen 1890 und 1986 in aller Öffentlichkeit umgebracht worden. Ende des 19. Jahrhunderts gab es zwei bis drei Fälle pro Woche.
Ich bin viel zu feige, um mir die dokumentarischen Fotos der weißen Selbstjustiz genau anzuschauen. Menschen, die gehängt und mit Kugeln durchlöchert wurden. Männer und auch ein paar Frauen, die man lebendigen Leibes verbrannte, ihnen die Haut abzog, Herz und Leber herausschnitt, Knochen zermalmte. Opfer, denen man Ohren, Finger und Genitalien entfernte und als Attraktion im lokalen Lebensmittelgeschäft ausstellte. Viele Fotos sind als Postkarten verschickt worden, mit lieben Grüßen und einem Kreuz, das die eigene Position im Publikum markiert. Wie vor Jahren, anlässlich eines Besuches im ehemaligen KZ Buchenwald, schreckt mich auch hier die Kombination von unvorstellbar gründlicher Grausamkeit und Biederkeit beziehungsweise Respektabilität.
Das Buch beginnt und endet mit einem doppelseitigen Foto des Lynchmordes an Jesse Washington am 16. Mai 1916 in Waco, Texas. Einer spritzt Wasser auf den nackten versengten Körper. Hunderte stehen dichtgedrängt um den zum Galgen umfunktionierten dürren Baum; sie schauen fasziniert, einige lächeln, alle haben sie ihre Hüte auf, wie das bei ihnen Brauch und Sitte ist.
Die Autoren der Dokumentation halten fest, dass die Lynchjustiz nicht aus Einzeltaten von Verrückten bestand, sondern als Reaktion der weißen Herren auf die Emanzipation der schwarzen Sklaven zu verstehen ist. Je näher die Afroamerikaner der politischen Mündigkeit und ökonomischen Selbstständigkeit kamen, desto heftiger wurden sie - oft unter Zuhilfenahme von Rassetheorien - als Vergewaltiger, als Schänder der (weißen) Unschuld dargestellt und vernichtet. Was die weißen Südstaatler bis heute als Kampf ums Überleben schildern, war ein Kampf um Überlegenheit, um die Erhaltung der Herrschaftsverhältnisse, an denen erst die Bürgerrechtsbewegung der sechziger Jahre nachhaltige Änderungen erzwingt.
Without Sanctuary streift auch das "legale Lynchen"; das heißt, die extrem rassistische reguläre Gerichtsbarkeit jener Zeit, doch nirgends findet eine grundsätzliche Auseinandersetzung mit der Todesstrafe statt. Die Todesstrafe als Institution ist für die amerikanischen Autoren, ob schwarz oder weiß, offenbar so selbstverständlich, dass deren normativer oder korrumpierender Charakter - Recht geht vor Leben - verborgen bleibt. Zumindest indirekt wird die Lynchjustiz, die das Recht in die eigenen Hände nimmt, durch die Todesstrafe legitimiert.
Das Hauptziel der Lynchjustiz war Abschreckung, die Klärung der Schuldfrage absolut zweitrangig. "Zur Disziplinierung der schwarzen Bevölkerung erfüllte ein baumelnder Neger den Zweck ebenso gut wie ein anderer", berichten Zeitzeugen aus dem Süden des ausgehenden 19. Jahrhunderts. Heute produziert die US-Gesellschaft andere Outlaws, mit anderen Methoden. Doch das Grundmuster der Abschreckung bleibt erstaunlich konstant.
Um unser Gefühl von Verletzlichkeit zu besänftigen
An einem einzigen Wochenende Ende September habe ich folgende Horrorgeschichten gelesen: "Der 20. Mann" oder: Wie sich der ziemlich paranoide muslimische Eiferer Zacarias Moussaoui im amerikanischen Rechtssystem verfängt, das sich weniger für die Schuld des Angeklagten interessiert als für sein Abschreckungs- und Sühnepotenzial. Moussaoui saß am 11. September zwar alibisicher in einem US-Gefängnis, doch als mutmaßlich vorgesehener 20. Flugzeugentführer ist er der einzige Terrorist, der für die Anschläge direkt bestraft werden kann. Justizminister John Ashcroft selber hat dem FBI jeglichen Deal mit Moussaoui verboten, namentlich die Aussetzung der Todesstrafe gegen Information über al Qaida. Ein hoher Justizangestellter vermutet, man lasse den sich ohne Anwälte selbst verteidigenden, fanatischen Amerikahasser in die Todesfalle laufen "um unser Gefühl von Verletzlichkeit zu besänftigen".
Oder: "Schulen debattieren Drogentests". Im Frühjahr hat der Oberste Gerichtshof Drogentests an öffentlichen Schulen gutgeheißen. Regelmäßige Urinproben von Schülern, die nach der Schule unter Lehreraufsicht Sport treiben oder Theater spielen, sind nun gesetzlich zulässig. Kleinere Orte im Süden und Mittleren Westen der USA liegen sich seit dem Entscheid in den Haaren. Die Hälfte der Bevölkerung will die Tests unbedingt, die andere findet es eine Zumutung, dass die Jugendlichen ihre Unschuld beweisen müssen. Viele befürchten, die Studenten würden durch solche Tests von den Freizeitaktivitäten abgehalten, die doch eines der besten Mittel gegen Drogenmissbrauch seien. Einige Gemeinden offerieren freiwilligen Testpersonen Einkaufsgutscheine bei McDonald´s. Das Weiße Haus hat nun dem Bundesgerichtsentscheid eine klärende Broschüre nachgeliefert: "Zur Abschreckung gibt es kaum bessere Methoden als Drogentests."
Noch eine Abschreckungsgeschichte gefällig? "Drogenrazzia im Hospiz". Ende September stürmt die US-Drogenpolizei ein Sterbehospiz in Santa Cruz, Kalifornien, und legt alle, auch gelähmte paraplegische Patienten, in Handschellen. Das privat geführte Hospiz hatte im Einklang mit dem kalifornischem Gesetz und den Behörden Marihuana angepflanzt und an die unheilbar kranken Heimbewohner abgegeben. Doch das Bundesgesetz will es anders - obwohl zwei Drittel der Amerikaner die medizinische Abgabe von Marihuana befürworten und in acht Staaten bereits dafür gestimmt haben.
Ein Aktivist aus Kalifornien revoltiert: "Wie die südlichen Rassisten, die einst die Bürgerrechtsreform blockiert haben, so bewegen sich die Drogenkrieger heute abseits der öffentlichen Meinung. Sie führen ihren eigenen Kreuzzug, in dem Marihuana ebenso sündhaft ist wie es die gemischte Ehen für südliche Rassisten waren oder die Homosexualität für die heutigen Fundamentalisten."
Mag sein, dass Präsident Bush als langjähriger Alkoholiker und Onkel mindestens einer wegen Medikamentenmissbrauch verurteilten jungen Nichte eine ungewöhnlich harte Antidrogenposition vertritt. Was schwerer wiegt, ist die gesellschaftliche Funktion des Drogenkrieges in den USA: der systematische Einsatz des Strafrechts zur Lösung von sozialen Problemen. 75 Prozent der verurteilten Drogentäter sind Latinos und Afroamerikaner, obwohl fünfmal mehr Weiße als Schwarze in den USA Drogen konsumieren. Zehn Prozent aller afroamerikanischen Männer zwischen 25 und 29 saßen 2001 im Knast. Zwischen 1980 und 2000 wurden dreimal mehr junge schwarze Männer ins Gefängnis gesteckt als an ein College aufgenommen. Passierte so etwas im Herzen der US-Stammesgemeinschaft, würde unverzüglich der nationale Notstand ausgerufen. Doch hier geht es gerade um den Erhalt der weißen Überlegenheit: Der Drogenkrieg ist ein anderes Wort für Rassismus und Sozialdarwinismus. Das sagt heute eine breite Koalition von Drogenrechtsreformern und Menschenrechtsorganisationen. Andy Ko von ACLU Washington, der größten amerikanischen Bürgerrechtsorganisation: "Die Drogenkrieger wissen genau, auf wen sie es abgesehen haben: Afroamerikaner, Latinos, asiatische Gangs, zunehmend auch arme Weiße." Rezession und Krieg verstärken den "Survival Mode" der USA. Es gibt immer mehr Outlaws. Die Führer der Seelen wittern Meuterei.
Die Autorin ist Amerika-Korrespondentin der Schweizer Wochenzeitung WOZ.
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