Allen Ernstes? Eine Antisemitismus-Definition soll’s richten?

Die IHRA-Definition : Seit einiger Zeit zunehmend in der Kritik, gilt sie deutscher Politik, ja, der Gesellschaft in weiten Teilen als Maß aller Dinge. Und das in einem Kontext der dringend der Reflexion und nicht einer läppischen Definition bedarf.

Bei diesem Beitrag handelt es sich um ein Blog aus der Freitag-Community.
Ihre Freitag-Redaktion

Die Definition ist seit 2016, als sie erdacht wurde, in Deutschland – anders als irgendwo sonst – omnipräsent. Es wird allenthalben auf sie verwiesen in Zeitungsartikeln, in offiziellen oder offiziösen Verlautbarung auf lokaler, regionaler oder Bundesebene. Die Wenigsten, vermute ich, denen die IHRA-Antisemitismus-Definition auf diese Weise schon mal untergekommen ist, werden sie auch in Gänze gelesen haben. Ich kann es nur empfehlen. Einen solchen Grundlagentext, auf den sich, in Deutschland jedenfalls, alle Welt – von ganz rechts bis ganz links und von ganz oben bis ganz unten beruft, sollte man kennen.

Jedenfalls, ein Vorzug des für Debatten, Unterrichtsmaterialien, Raumabsagen, Gerichtsurteile, Forschungsstipendien und Verunglimpfungen landauf, landab so bedeutsamen Textes besteht immerhin darin, dass er recht kurz ist, eben nur eine Definition, erweitert um ein paar Erläuterungen und Beispiele.

In der Einleitung zu dieser Definition wird dargelegt, warum das Phänomen des Antisemitismus einer Definition bedürfe: Das zu definierende Phänomen – der Antisemitismus – habe in letzter Zeit in Europa wieder besorgniserregend zugenommen. Die IHRA habe sich also aufgerufen gefühlt, diesen neuerlich zunehmenden Antisemitismus zu bekämpfen. So weit, so ehrenwert.

Allerdings: Etwas, wovon nicht einmal die “Expert*innen” des IHRA genau zu sagen wissen, worum es sich handelt, soll zugenommen haben? Und nunmehr setzen sich diese Exert*innen daran, das offenbar schwer zu fassende Phänomen, von dem sie aber wissen, dass es in Europa vermehrt auftritt, zu definieren? Quasi im Nachgang, nachdem sie die Zunahme dieses X festgestellt haben?

Es fällt mir schwer, diesem “Gedankengang” zu folgen, zumal es von anderen internationalen Organisationen bereits Jahre zuvor seriöse, nachvollziehbare Überlegungen und sorgfältige Untersuchungen anlässlich der besorgniserregenden Anzeichen für eine Zunahme von Antisemitismus (in Europa) gab.[i]

Jede Aussage über ein Phänomen setzt voraus, dass man einen Begriff davon hat, wovon man spricht. Ist es ein als besorgniserregend eingeschätztes Phänomen, möchte man, z.B. seitens der Politik entgegenwirken. Das setzt voraus, dass man die Zusammenhänge genauer versteht, in denen es neuerlich auftritt, womöglich zunimmt, auch, welche womöglich veränderte Formen es annimmt.

Doch das Phänomen nicht vorbehaltlos untersuchen, sondern erst mal von Experten und Politik definieren lassen, was da bekämpft werden soll? Eine Definition an den Anfang setzen, die dann wie eine Handreichung für die Bedienung eines Geräts nur noch „angewendet“ zu werden braucht?

Kann so ein gesellschaftlicher Erkenntnisprozess verlaufen, um den es doch gehen sollte?

Allmählich dämmert es mir: Diese Definition, die so holprig, so unbeholfen daherkommt, dient einem anderen Zweck: Es geht darum, “die Menschen”, insbesondere via Multiplikator*innen, Lehrenden, Politiker*innen etc. für diesen Kampf zu ertüchtigen und zwar in der Weise, die politisch gewollt ist. Es geht also mitnichten um einen gesellschaftlichen Lern- und Erkenntnisprozess.

Was kann grundsätzlich eine Definition leisten?

Im Alltag wie im akademischen Diskrurs gibt es Situationen, in denen es angezeigt ist, dass sich Gesprächspartner*innen (im weitesten Sinn des Wortes) zunächst einmal darüber verständigen: Worüber reden wir hier eigentlich? Die Definition ist ein Instrument und keine Erkenntnis, sondern lediglich ein Mittel, um zu verhindern, dass man aneinander vorbeiredet. Nachdem das geklärt ist, können die Beteiligten in ein Gespräch, die gemeinsame Entwicklung von Gedanken eintreten – über das, was ihnen nunmehr – in vieler Hinsicht noch auszuloten, zu begreifen, zu klären, eventuell auch genauer zu definieren – vor Augen steht, das, worüber sie sich verständigen wollen.

Eigentlich liegt es jetzt bereits auf der Hand, dass die IHRA-Antisemitismus-Definition niemandem weiterhilft, dem es darum geht, den Antisemitismus, der möglicherweise zunimmt – jedoch selbstverständlich auch, falls er nicht zunimmt, sondern “nur” nach wie vor vorhanden ist – genauer zu verstehen und ihm entgegenzuwirken.

Doch es scheint mir wichtig, sich dieses von vornherein – für einen gesellschaftlichen Klärungsprozess – ungeeignete Instrument näher anzusehen, da es trotz seiner konzeptionellen Untauglichkeit, jedenfalls in Deutschland, breite “Anwendung” findet – mit verheerenden Folgen für eine Auseinandersetzung mit Antisemitismus und anderen Formen gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit und für andere relevante Debatten, die zu führen sind. Dass ein solches Instrument in Deutschland weitgehend unwidersprochen von Politik und Medien sowie allen möglichen Institutionen begierig angenommen wird, weist auf eine umfassendere Problematik hin.

Eine Definition ordnet etwas einerseits einem Oberbegriff zu, anderseits benennt es die spezifischen Merkmale, die das Ding/den Begriff/das Phänomen von anderen “benachbarten” Dingen/Begriffen/Phänomenen unterscheiden, die unter denselben Oberbegriff fallen.

So ist ein TISCH ein Möbelstück, das überwiegend dazu dient, sich um es herum, meist sitzend, zu versammeln und Dinge auf ihm abzulegen/abzustellen.

Nun könnte man diese Definition erläutern und Beispiele hinzufügen, um zu veranschaulichen, was ein Tisch ist. Es sollten allerdings Erläuterungen und Beispiele sein, die den in der Definition möglichst knapp und präzise gefassten Oberbegriff und die eingrenzenden Spezifika tatsächlich veranschaulichen und nicht zu etwas anderem überspringen oder einen Aspekt des Definierten übermäßig herausheben, anderen weniger Gewicht zumessen. Dann wackelt der Tisch, bzw. die Definition scheint darauf angelegt zu sein, uns etwas über die zu definierende Sache unterzujubeln, das Gespräch, noch bevor es begonnen hat, einzuengen, umzulenken, das selbständige Denken durch Vorab-Definition zu ersetzen. Es soll über Tische nur noch auf eine ganz bestimmte Weise gesprochen werden. Und bei einer richtig stümperhaften Definition wie der der IHRA, die hier zur Diskussion steht, erweisen sich die “Beispiele” bei näherem Hinsehen auch noch schlicht als keine solchen, vielmehr als Einfälle, die man vielleicht auch noch haben könnte. Oder: die man gerne auch noch in dieser “Arbeitsdefinition” unterbringen möchte. (Die bescheidene Bezeichnung “Arbeitsdefinition” soll dafür stehen, dass die IHRA lediglich einen Vorschlag, etwas Vorläufiges vorzulegen beabsichtigte. Doch auch ein erster Vorschlag sollte durchdacht und in sich konsistent sein und kein Potpourrhi.)

Der Kernsatz der IHRA-Definition:

“Antisemitismus ist eine gewisse Art der Wahrnehmung von Juden, die sich als Hass gegenüber Juden ausdrücken kann.”

Das ist “handwerklich” merkwürdig unbeholfen, ähnelt einem ersten Brainstorming. Aber wie viele andere Aussagen dieser Definition ist auch diese nicht falsch oder unzutreffend. Doch ist sie, als Definition präsentiert, zumindest fahrig. Es gibt keinen vernünftigen Grund den “Hass gegenüber Juden”, eine Facette oder Variante des Antisemitismus, im Kernsatz der Definition zu benennen, wenn auch mit einem “kann” als lediglich Möglichkeit gekennzeichnet. Es gibt keinen Grund für die Definition nicht einen Begriff zu wählen, der alle möglichen Formen des Antisemitismus umfasst, gerade auch die weniger offensichtlichen. Es sind durchaus Antisemit*innen denkbar, die “die Juden” nicht hassen, ihnen aber – womöglich sogar bewunderungswürdige – Eigenschaften zuschreiben – weshalb “die Juden” in ihren Augen ein Problem darstellen – für “uns”. Solche Antisemit*innen sind nicht nur denkbar, sondern es gab und gibt sie.

Auch der zweite Satz der Definition mutet an wie irgendein erster Einfall, ist eigentlich eine eher nachgeordnete Erläuterung. (“Der Antisemitismus richtet sich in Wort und Tat gegen jüdische oder nicht-jüdische Einzelpersonen und/oder deren Eigentum sowie gegen jüdische Gemeindeinstitutionen und religiöse Einrichtungen.”)

Für viele der zahlreichen angeführten Beispiele gilt ebenso: Das Ganze kommt daher wie das sich nach und nach aus Zurufen entwickelnde Tafelbild einer Unterrichtsstunde über Antisemitismus. Dieser Aufklärung bedürfen also Politiker*innen, Institutionen, Medien, Lehrende und Pädagog*innen in Deutschland und allgemein die Bürger*innen des Landes, um Antisemitismus zu erkennen und ihm entgegenzutreten? Zum Beispiel die bahnbrechende Erkenntnis, dass der “Aufruf zur Tötung oder Schädigung von Juden im Namen einer radikalen Ideologie oder einer extremistischen Religionsanschauung sowie die Beihilfe zu solchen Taten oder ihre Rechtfertigung” antisemitisch ist?

Etwas nimmt bei dieser Antisemitismus-Definition besonders breiten Raum ein: die Unterstreichung von Antisemitismus im Kontext der “Kritik an Israel”: “Erscheinungsformen von Antisemitismus können sich auch gegen den Staat Israel, der dabei als jüdisches Kollektiv verstanden wird, richten. Allerdings kann Kritik an Israel, die mit der an anderen Ländern vergleichbar ist, nicht als antisemitisch betrachtet werden.”

Dass eine Kritik am Staat Israel, die auf diesen als jüdisches Kollektiv abzielt, antisemitisch ist, scheint tatsächlich im Bewusstsein Vieler in Deutschland, die sich öffentlich äußern und agieren, längst nicht angekommen zu sein, genauso wenig wie die Einschränkung (“Allerdings …”).

Das gilt insbesondere auch für diejenigen, die sich ständig auf die IHRA-Definition berufen: Unbesehen brandmarken sie jegliche Kritik an der Politik des Staates Israel, etwa an seiner völkerrechtswidrigen Siedlungspolitik oder an der von seriösen Gutachter*innen nachgewiesenen Apartheid als antisemitisch. Dabei versäumen sie es durchgängig, den Nachweis zu erbringen, dass bei einer solchen Kritik andere Maßstäbe angelegt wurden als die, auf die sich Israel selber beruft, die – selbsterklärt – “einzige Demokratie im Nahen Osten”. Sie bleiben durchweg die Antwort schuldig, inwiefern bei der jeweiligen von ihnen als “antisemitisch” gebrandmarkten kritischen Äußerung über die Politik Israels nicht Kriterien angelegt wurden, an denen ein demokratisch verfasster Rechtsstaat sich messen lassen muss. Und sich normalerweise auch nicht scheut, gemessen zu werden.

Um einem möglichen Missverständnis vorzubeugen: Selbstverständlich kann jede solche Kritik wie die in den Gutachten von AI oder B’Tselem formulierte an der israelischen Apartheid mit Argumenten gekontert werden, falls es welche gibt. Das ist jedoch ein grundsätzlich anderes Verfahren als kurzerhand einer Kritik an der Politik Israels den Stempel “antisemitisch” aufzudrücken.

Bei einer in Deutschland weit verbreiteten, immer wieder reflexhaft wiederholten Argumentationskette, genauer der gedankenlosen Verbindung von Argumentationsversatzstücken, die zu Leerformeln verkommen sind, spielt die Vorstellung von einem jüdischen Kollektiv eine entscheidende Rolle: Die Verantortung Deutschlands als Rechtsnachfolger des NS-Staates bestehe angesichts der Shoah darin, den Staat “der Juden” bedingungslos zu unterstützen. Dieser Staat wird umstandslos als der Staat der jüdischen Opfer definiert und gleichgesetzt mit “den Juden” und den Bestrebungen und Interessen “der Juden” gleichgesetzt. Letzteren, diesem jüdischen Kollektiv=Israel gegenüber ist Deutschland und jede*r einzelne Deutsche zu unbedingter Loyalität verpflichtet.

Hier sind alle Menschen, die sich auf die eine oder andere der vielen möglichen Arten als Jüdinnen*Juden verstehen, unterschiedliche Bezüge zur Shoah haben und die mehrheitlich nicht in Israel leben und ganz unterschiedlich zu diesem Staat stehen, zum “jüdischen Kollektiv Israel” geronnen. Gerade in Deutschland glaubt man, ein solches Kollektiv “der Juden” konstruieren, darüber verallgemeinernde Aussagen treffen und so über es verfügen zu dürfen – all das, um seiner Verantwortung “als Deutsche” angesichts des Verbrechens der Shoah gerecht zu werden?

Zu Recht weist die IHRA-Definition in verschiedenen Zusammenhängen darauf hin, dass Aussagen dann antisemitisch sind, wenn sie ein “jüdisches Kollektiv” oder “die Juden als Juden” evozieren – nur um rätselhafterweise in einigen der angeführten Beispiele von antisemitischen Denkmustern diesen Gedanken wieder zu “vergessen”:

“Das Aberkennen des Rechts des jüdischen Volkes auf Selbstbestimmung, z.B. durch die Behauptung, die Existenz des Staates Israel sei ein rassistisches Unterfangen.” (ein Beispiel von Antisemitismus)

(Sprachlich-gedanklich ist es nicht möglich, die Existenz von etwas als ein Unterfangen zu bezeichnen, wie dies auch in der englischen Fassung geschieht. Doch davon abgesehen…:)

Ich nehme also an, gemeint ist: Jemand kritisiert die Umstände der Gründung des Staates Israel als rassistisch. Dieses Beispiel wiederum soll illustrieren, wie von Antisemit*innen “das Recht des jüdischen Volkes auf Selbstbestimmung” aberkannt werde. Mit dem jüdischen Volk dürften die Jüdinnen*Juden gemeint sein, die nachweisen können, dass sie zu diesem “Volk” gehören. Bekanntlich können sie jederzeit nach Israel einwandern und die Staatsbürgerschaft erhalten – sind also allesamt potentiell Staatsbüger*innen mit dem Recht auf Selbstbestimmung in diesem (wie in jedem anderen) demokratisch verfassten Rechtsstaat, der ihre Einwanderung zulässt. Durch die von wem auch immer geäußerte Behauptung die Staatsgründung Israels sei ein rassistisches Unterfangen gewesen oder die israelische Politik trage rassistische Züge, ist das so definierte “Recht des jüdischen Volkes auf Selbstbestimmung” vollkommen unberührt, übrigens ganz unabhängig vom Wahrheitsgehalt jener Behauptungen.

Welche Kritik wird hier durch die argumentativ nicht belegbare Behauptung des Antisemitismus abgewehrt? Welche unbestreitbaren realen Verhältnisse werden hier geleugnet?

Bekanntlich leben in Israel rund 20% Nicht-Juden*Jüdinnen, die noch nicht allesamt vertrieben wurden und wie ihre jüdischen Mit-Bürger*innen einen israelischen Pass haben, somit teils dieselben Rechte genießen wie sie, wenn sie auch keineswegs in den Genuss aller für jene geltenden Rechte kommen. In Israel haben also die Bürger*innen je nach Ethnie unterschiedliche Rechte, ganz zu schweigen von denen – Palästinenser*innen und Jüdinnen*Juden – von denen die einen unter israelischer Besatzung in der Westbank und Gaza rechtlos überleben, die anderen geschützt durch den israelischen Staat und sein Militär, in den völkerrechtswidrig errichteten Städten, den Siedlungen mit allen Rechten und Segnungen der “einzigen Demokratie im Nahen Osten” und gänzlicher Straffreiheit, wenn sie sich an den Rechtlosen vergreifen. Diese Demokratie mit der Besonderheit (die dem demokratischen Grundprinzip der Gleichheit widerspricht), dass ihre Bürger*innen und eine unter ihrer Kontrolle stehenden Bevölkerung, je nach Ethnie, nicht alle die gleichen Rechte und Möglichkeiten haben, hat ein israelischer Urbanist als Ethnokratie beschrieben. Andere könnten auf die Idee kommen, einen solchen Staat als rassistisch zu bezeichnen. Mit ihrer Kritik – es handle sich bei Israel um eine Ethnokratie oder um einen Staat mit rassistischer Grundkonstitution - bringen sie keineswegs ein jüdisches Kollektiv oder die Juden als Juden ins Spiel. Sie messen Israel lediglich an denselben Kriterien wie andere vergleichbare Staaten.

Sie tun gerade das nicht, was in einem anschließenden Beispiel der IHRA-Definition als antisemitisch bezeichnet wird: Sie wenden keine doppelten Standards an, fordern von Israel nicht ein Verhalten, “das von keinem anderen Staat erwartet oder gefordert” würde.

Und selbst wenn Kritiker*innen der israelischen Politik oder der Verfasstheit des israelischen Staates (als Ethnokratie, als Apartheid) diesen schärfer kritisieren würden als eine andere Ethnokratie, z.B. die saudische, könnte man das zwar kritisieren – als unsachlich. Antisemitisch ist es nur dann, wenn irgendwie mitschwingt, angedeutet oder ausgesprohen wird, dass das Kritikable irgendetwas damit zu tun hat, dass es Jüdinnen*Juden sind, die diesen Staat gegründet haben, die Mehrheit seiner Bevölkerung ausmachen und alle wichtigen Ämter im Land innehaben. Einen solchen Staat zu gründen, ihn gut zu heißen, solche Verhältnisse aufrechtzuerhalten, liegt nicht “in der Natur der Juden”, von denen sich viele oft genug genau dagegen gewandt haben und zunehmend wenden.

Warum unterstellt die IHRA in ihrer Definition auch da gelegentlich Antisemitismus, wo er nicht festzumachen, nur durch Unterstellung herbeizureden ist? Warum tut sie das, obwohl sie anderseits zutreffend und für jede*n transparent und nachvollziehbar darlegt, was antisemitisch und was nicht antisemitisch ist? Warum ist dieser gesamte Text der Definition mit Einleitung, Erläuterungen und Beispielen so wenig durchdacht, obwohl an ihm Fachleute gearbeitet haben, die sich sonst selbstverständlich genau und differenziert über Antisemitismus und andere Themen äußern, wie allein schon auf der IHRA-Website festzustellen ist?

Wie konnten sich einschlägig qualifizierte Akademiker*innen überhaupt auf die Idee einlassen, es könne ein handliches Instrument zur Dingfestmachung von Antisemitismus geben, das nur “angewendet” zu werden brauche? Wie kann man sich als unabhängige Akademiker*innen auf eine solche Auftragsarbeit einlassen – denn nicht mehr scheint diese Definition zu sein?

Die einzige Erklärung, die mir dazu einfällt: Es handelte sich um den Auftrag einer Lobby, für den sich die IHRA hergegeben hat. Lobby-Arbeit, Imagepflege seitens Staaten, Unternehmen, Branchen ist normal. Alle Staaten, alle Branchen versuchen durch mehr oder weniger aggressive, elegante oder plumpe Lobby-Arbeit ein vorteilhaftes Image von sich in die Welt zu setzen und zu fördern und so Einfluß zu nehmen. Das ist grundsätzlich nicht verwerflich. Denn jede*r, die*der den Selbstdarstellungen von Unternehmen oder Staaten begegnet, kann sie kritisch prüfen, kann beispielwesie das Greenwashing von Staaten oder Unternehmen als solches erkennen und niemand zwingt uns, es ihnen “abzukaufen”.

So verhält es sich auch mit der IHRA-Definition, die in ganz Europa und den USA, vermutlich auch darüber hinaus, promoted wurde – und die selbstverständlich nur von manchen aufgegriffen wird, während sie bei anderen nicht verfängt, schon allein wegen ihrer offenkundigen Unzulänglichkeit.

Auf diesem Hintergrund stellt sich für mich die Frage: Was treibt oder motiviert eine Bundestagsmehrheit, Landtagsfraktionen, städtische oder universitäre Institutionen, NGOs in Deutschland dazu, in denen überwiegend Menschen tätig sind und Verantwortung tragen, die das Privileg einer höheren Schul- und/oder akademischen Ausbildung genossen haben, sich allen Ernstes auf jene zwei Din-A-4 Seiten, jene erste Stichpunktsammlung, wie sie auf Zurufe in einer Schulklasse entsteht, als grundlegend für ihre Entscheidungen zu berufen?

Und fast noch besorgniserregender: Was, wenn eine bundesweite, die bundesweite Melde- und Monitoringstelle für antisemitische Vorkommnisse ausgerechnet die IHRA-Definition zur Grundlage ihrer Arbeit erklärt? Was, wenn somit das, was wiederum Medien, Entscheidungsträger*innen und Bürger*innen als ordentlich recherchiert und belegt gilt, jeder seriösen Grundlage entbehrt?

Was, wenn somit Nachdenken über und Wahrnehmung von Antisemitismus in Deutschland fast nicht stattfindet, nachdem wir, die unmündigen Bürger*innen, alle Verantwortung an eine Definition und ihre bestellten Ausleger*innen und Anwender*innen abgegeben haben?

[i] „Following concerns from many quarters over what seemed to be a serious increase in acts of antisemitism in some parts of Europe, especially in March/April 2002, the EUMC asked the 15 National Focal Points of its Racism and Xenophobia Network (RAXEN) to direct a special focus on antisemitism in its data collection activities. This comprehensive report is one of the outcomes of that initiative. It represents the first time in the EU that data on antisemitism has been collected systematically, using common guidelines for each Member State.“(EUMC – Manifestations of Antisemitism in the EU 2002 – 2003)

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.

Was ist Ihre Meinung?
Diskutieren Sie mit.

Kommentare einblenden