Als Vattenfall 2008 in Hamburg-Moorburg ein Steinkohlekraftwerk bauen wollte, formierte sich der Widerstand: Das erste Klimacamp und eine Massenbesetzung der Kraftwerksbaustelle waren der Start der Anti-Kohle-Bewegung in Deutschland. Moorburg ging dennoch 2015 ans Netz. Jetzt macht es wieder dicht: Bei der ersten Ausschreibungsrunde der Bundesnetzagentur für die Abschaltung von Steinkohlekraftwerken erhielt Vattenfall eine offenbar attraktive Entschädigungsprämie.
Dass die Kohlebranche sofort mehr Kapazitäten feilbot als zur Stilllegung vorgesehen waren, ist kein Wunder: Sie schreibt rote Zahlen. Den Analyst*innen vom Klima-Thinktank Ember zufolge fuhren die größten jetzt vom Netz gehenden Kraftwerke in den letzten zwei Jahren mehr als 200 Millionen Euro Verlust ein. Im ersten Halbjahr 2020 wurden nach Fraunhofer-Daten bundesweit 36 Prozent weniger Braunkohle und 46 Prozent weniger Steinkohle verstromt als im Vorjahreszeitraum.
Der Emissionshandel zieht an
Auch wenn sich nun eine Erholung andeutet, fällt der Kontrast zum erst im Sommer vom Bundestag festgeschriebenen Fahrplan für den Kohleausstieg auf. 2035 soll Schluss sein für die Steinkohle, 2038 für die noch klimaschädlichere Braunkohle. Die Klimabewegung empörte der im europaweiten Vergleich sehr langsame Ausstieg, und die großzügigen Entschädigungsregelungen. Denn Steinkohlekonzerne können für jedes Jahr bis 2027 Entschädigungsgebote für die Abschaltung ihrer Kraftwerksblöcke abgeben. Die niedrigsten Gebote erhalten den Zuschlag, wie jetzt Vattenfall für Moorburg. Die Verluste-Meiler der ersten Runde kassierten dabei gut 300 Millionen Euro, insgesamt rechnet die Bundesregierung mit mehreren Milliarden. Mit den Braunkohlekonzernen RWE und LEAG vereinbarte sie gleich eine Pauschale von 4,35 Milliarden Euro – im Gegenzug verzichten diese auf Klagen. Bewirken nun die Entwicklungen am Energiemarkt und marktbasierte Klimaschutzinstrumente tatsächlich das, wogegen sich die Regierung beharrlich sperrte – einen deutlich schnelleren Kohleausstieg? Das wäre Wasser auf die Mühlen jener, die Klimapolitik über Märkte regeln wollen.
Tatsächlich tut die – üblicherweise ja nicht zu Unrecht als neoliberal und lobbynah kritisierte – EU-Kommission aktuell mehr für den deutschen Kohleausstieg als die Bundesregierung: Verknappte Zertifikate und gestopfte Schlupflöcher machen den europäischen Emissionshandel, lange ein zahnloser Tiger, seit 2018 zum beschleunigenden Faktor. Der Preis bewegt sich nun um 25 Euro pro Tonne CO2 – für die Kohleindustrie existenzbedrohlich. Die Kommission stellt aktuell auch die deutschen Braunkohleentschädigungen auf den wettbewerbsrechtlichen Prüfstand, während der Bund seit Jahren die Umsetzung der EU-Luftverschmutzungsauflagen für Kraftwerke verweigert.
In Verbindung mit dem Emissionspreis werden nicht nur die von der Bundesregierung schon ausgebremsten Erneuerbaren immer konkurrenzfähiger, auch massive Erdgas-Investitionen, niedrige Gaspreise und der 2020 Corona-bedingt geringere Stromverbrauch rücken der Kohlebranche zu Leibe.
Dass sich der reale Kohleausstieg so lange vor 2038 erledigen könnte, wusste wohl auch die Bundesregierung: Das Kohleausstiegsgesetz schützt eher die politisch gut vernetzte, aber siechende Branche vor dem Markt. Um sie überhaupt für vermeintlich entgangene Gewinne zu entschädigen, musste der Staat die realen Marktentwicklungen beharrlich ignorieren und den aufpolierten Prognosen der Konzerne folgen, die für den Entschädigungspoker mit Anlagenschließungen abwarteten.
Schon die Steinkohleausschreibungen laden trotz Konkurrenzprinzip dazu ein, Schadenersatz für ohnehin überzählige Kraftwerksblöcke geltend zu machen. Vollends absurd wird es mit den gänzlich intransparenten Braunkohle-Pauschalen: Bei dem Lausitzer Unternehmen LEAG, das 1,75 Milliarden Euro erhalten soll, entspricht der gesetzliche Ausstiegspfad den Businessplänen aus besseren Zeiten. Ihre internationalen Eigentümer*innen hätten gemäß Energiechartavertrag die Regierung für entgangene Gewinne verklagen können. Nur: Welche Gewinne?
Wenn der EU-Emissionsmarkt zumindest den klimatechnischen Kollateralschaden dieser Farce effektiv begrenzen mag, zeugt das dennoch eher von der klimapolitischen Totalverweigerung des deutschen Korporatismus als von allgemeiner Überlegenheit marktbasierter Steuerung. Zunächst ist die Kohlebranche ein Sonderfall: Da ihre CO2-Emissionen pro erwirtschaftetem Euro so exorbitant sind, wird der Emissionspreis hier bereits bei 25 bis 30 Euro je Tonne ruinös. In dieser politisch vermittelbaren Größenordnung wirkt er sich in anderen Sektoren kaum aus.
Selbst die Kohle erledigen „die Märkte“ ja nur dank politischer Rahmensetzung – der Emissionsmarkt selbst ist schließlich ein künstlich erzeugter. Er wirkt im Zusammenspiel mit anderen energiepolitischen Entscheidungen: So vollzieht der politisch protegierte Ausbau großflächiger Erdgasinfrastrukturen, deren massive Methanemissionen vom Emissionshandel ausgenommen bleiben, derzeit klimapolitisch fatale Weichenstellungen. Nichts davon ist einer „unsichtbaren Hand“ zuzuschreiben.
Schon im Stromsektor wäre es illusorisch, die Energiewende den Emissionsmärkten zu überlassen: Es braucht koordinierte Infrastrukturpolitik, Planbarkeit und Übergangskonzepte für die Beschäftigten. In Sektoren wie dem Verkehr, wo direkte Ersatzlösungen fehlen, müsste ein drastisch emissionsmindernder CO2-Preis so hoch sein, dass er nicht nur arme Konsument*innen ausschließen, sondern ganze Branchen mutmaßlich direkt ruinieren würde – politisch kaum denkbar, werden CO2-Märkte doch geschaffen, um Kapitalinteressen nicht zu gefährden. So oder so baut kein Markt die öffentlichen Infrastrukturen für eine sozial-ökologische Mobilitätswende von selbst.
Nicht zuletzt bedeutet marktbasierte Steuerung eben auch wachstumsbasierte Steuerung. Sie setzt voraus, dass endloses Wirtschaftswachstum technisch von Emissionen entkoppelbar wäre – eine mehr als gewagte Annahme. Bloße Effizienzzuwächse reichen nicht aus, viele „grüne“ Technologien verschieben Probleme nur und Branchen wie der Luftfahrt fehlen solche Alternativen gänzlich. Doch der Wachstumszwang bleibt kapitalistischen Ökonomien eingeschrieben. Märkte bilden dabei nicht bloß Verteilungsmechanismen aus, sondern Machtstrukturen mit eigenen Dynamiken. Eine echte sozialökologische Transformation verlangt den gegen diese Strukturen erkämpften koordinierten Rückbau klimaschädlicher Infrastrukturen und institutioneller Wachstumsabhängigkeit: Degrowth, by design.
Davon sind die marktbasierte Steuerung der EU wie auch die bundesdeutsche Pseudo-Ordnungspolitik Lichtjahre entfernt. Beide sollen die Machtverhältnisse fortschreiben, aus denen sie entstanden sind.
Dass ausgerechnet Moorburg wieder aufgibt, tröstet also wenig. Die Klimabewegung muss weit mächtiger werden, um es mit diesen Verhältnissen aufzunehmen.
Paris. Und nun?
Klimapolitik Am 12. Dezember 2015 einigten sich 195 Länder auf der UN-Klimakonferenz darauf, die Erderwärmung auf „deutlich unter zwei Grad Celsius“ zu begrenzen und 1,5 Grad anzupeilen. Was ist seitdem passiert? In den Industrieländern sanken die CO 2 -Emissionen zwar, weltweit aber sind sie bis 2020 gestiegen. Nach jüngsten Berechnungen befindet sich der Planet auf einem Pfad zu mehr als 3 Grad Erwärmung. US-Präsident Donald Trump hatte 2017 erklärt, aus dem Pariser Abkommen auszuscheiden, was im November 2020 in Kraft trat; sein Nachfolger, Joe Biden, der vom 20. Januar 2021 an im Amt sein wird, will veranlassen, dass die USA schnellstmöglich wieder beitreten. Überhaupt hat erst die globale Klimabewegung den Druck erzeugt, auf den hin die EU 2018 ein langfristiges Netto-Nullziel beschloss und sich dieser Tage darauf verpflichtet hat, die Emissionen bis 2030 um 55 Prozent gegenüber dem Niveau von 1990 zu verringern.
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