Schmach des Schweigens

Europa Es ist spät, aber nicht zu spät für eine Mediation der EU, um die Katalonien-Krise zu entschärfen
Ausgabe 45/2017
„Europe, help us!“ haben abertausende Katalanen zuletzt so oft gerufen
„Europe, help us!“ haben abertausende Katalanen zuletzt so oft gerufen

Foto: Patrick Hertzog/AFP/Getty Images

Wikipedia vorweg, dort heißt es, Mediation sei „ein strukturiertes, freiwilliges Verfahren zur konstruktiven Beilegung eines Konfliktes, bei dem unabhängige, allparteiliche Dritte‘ die Konfliktparteien in ihrem Lösungsprozess begleiten“. Also, wofür haben wir die EU geschaffen mit ihrem vielbeschworenen Wertekatalog: Frieden, Freiheit, Völkerverständigung? Dafür, dass Brüssel seit Monaten beim Thema Katalonien zuschaut und wegschaut? Beispiel: 3. November 2017. Acht katalanische Minister und das halbe Parlamentspräsidium sitzen im Gefängnis, gegen den Regionalpräsidenten ist ein Haftbefehl erlassen. Die Welt-am-Sonntag-Journalistin Hannelore Crolly berichtet vom Pressebriefing der Kommissionssprecherin Annika Breidthardt. „Frage: Wie kommentiert die EU-Kommission den Europäischen Haftbefehl aus Madrid gegen Carles Puigdemont? Antwort: Jegliche Haftbefehle sind ausschließlich eine Angelegenheit der zuständigen Justizbehörden. Die EU-Kommission spielt hier keinerlei Rolle.“

Abspeisung durch Binsenweisheit auf niedrigstem Niveau. Selbstverständlich sind Haftbefehle Angelegenheit der zuständigen Justizbehörden. Aber sind sie nur das? In einem solchen Fall? Haben wir da keine andere Idee, keine Hilfe im politischen Angebot? Nein, meine Damen und Herren Parlamentarier, Kommissare, Präsidenten und sonstige Repräsentanten in Brüssel und Straßburg, so darf das nicht weitergehen. So können Sie sich nicht aus der Verantwortung stehlen!

Ich will es gern anders formulieren: Wir Bürgerinnen und Bürger Europas, aktive oder passive Teilnehmer der Politik, müssen das EU-Parlament, die Kommission und den Rat endlich zum Handeln bringen. Der Brief der mehr als 100 Wissenschaftler, Politiker und Publizisten, der ebenfalls am 3. November 2017 an Donald Tusk und Jean-Claude Juncker übermittelt wurde, ist da vielleicht ein Anfang. Er konstatiert: „Das Schweigen der EU und ihre Ablehnung einer erfindungsreichen Vermittlung lassen sich nicht rechtfertigen.“

„Erfindungsreiche Vermittlung“ – was wäre das? Eine Mediation? Seit 2008 gibt es eine EU-Mediationsrichtlinie. Sie verspricht uns einen Rechtsrahmen, der es den EU-Bürgern ermöglicht, „die Vorteile der Mediation als Streitbeilegungsverfahren umfassend zu nutzen“. „Umfassend“ wohlgemerkt, auch wenn damit bisher nur Zivil- und Handelssachen gemeint sind und diese in den jeweils nationalen Rechtsstrukturen Anwendung finden. Aber lässt sich solch ein Versprechen in einer Notsituation wie der jetzigen in Katalonien nicht auch erweitern und auf das Zusammenleben in der EU anwenden?

Schuld darf kein Thema sein

Warum also bitten Parlament und/oder Kommission nicht einen Mediator um Hilfe? Einen angesehenen Außenstehenden, der Vermittlung anbietet, abwechselnd in Madrid und Barcelona oder an einem neutralen Ort? Damit kein Missverständnis entsteht: Hier ist nicht die Rede von Hineinregieren oder Einmischung. Hier geht es um ein Angebot. Um den Versuch einer „Allparteilichkeit“, die alle Konfliktparteien einbezieht. Wenn Spanien im Moment etwas braucht, dann wäre es doch wohl etwas wie eine „mediative Grundhaltung“, eine Atmosphäre des Respekts und der Bereitschaft, sich sowohl für die eigenen Interessen einzusetzen als auch die anderer zu akzeptieren.

Es braucht ein Angebot für eine erfindungsreiche Vermittlung, die niemand ausschlagen kann. Ich weiß, ich weiß, jetzt kommt sofort das Argument: „Dafür ist es zu spät! Das hätte schon viel früher stattfinden sollen ...“ Wohl wahr: Es hätte viel früher passieren müssen. Aber was ist die Alternative? Mediatoren sagen: „Niemals darf man die Frage nach der Schuld stellen. Die Fehler der Vergangenheit müssen als gegeben gesehen werden – nur so lässt sich ein Fundament für Kompromisse legen.“ Insofern käme eine solche Mediation sehr spät, aber nicht zu spät. Ganz abgesehen davon, dass es um nicht mehr und nicht weniger als ein Angebot geht, freiwillige Annahme auf beiden Seiten vorausgesetzt. „Europe, help us!“, haben abertausende Katalanen zuletzt so oft gerufen. Doch die EU hat weggeschaut und nach eigener Auskunft „keinerlei Rolle gespielt“. Diese Schmach des Schweigens muss ein Ende haben.

Luc Jochimsen war Chefredakteurin in der ARD, später MdB der Linkspartei

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