Taxonomie hochriskant

Taxonomie, Greenwashing Eine Gegenrede zu Amardeo Sarmas ‚Die Risiken sind minimal‘ (der Freitag 45/2021)

Bei diesem Beitrag handelt es sich um ein Blog aus der Freitag-Community.
Ihre Freitag-Redaktion

Herr Sarma entwickelt in seinem Artikel eine einzigartige Pro-Atomkraft-Polemik, die Argumente der KritikerInnen nicht ernst nimmt und auf vereinfachten Darstellungen fußt. Denkverbote kommen auch heute nicht von der Anti-Atomkraftbewegung. Sie kommen von den Befürwortern der Nuklearindustrie, die seit der Nachkriegszeit an einem ungebremsten Wachstums- und Fortschrittsglauben festhalten, bei gleichzeitiger Vernachlässigung wissenschaftlicher Fragestellungen zu Nachhaltigkeit.

Luc Śkaille, Freiburg

Der Konsens-Zuckerbrot-Moment kommt bei Samara gleich zu Beginn: Niemand zweifelt am ‚Raus aus der Kohle‘. Geschenkt. Wir sind ganz bei ihnen Herr Sarma. Doch dann: Fatalismus. ‚Der Energiehunger der Welt wird weiter wachsen‘. Diese Annahme exkludiert jegliche Alternative, die Wissenschaft und Verstand entwickeln könnten, eben die Wachstumslogik umzukehren. Die Lösung für Sarma: Atomkraft.

Eine einseitige Quellenlage führt in der Folge zu absurden Schlüssen, denn der Kern der Polemik wird auf die US-Regierung gestützt, den Wissenschaftsdienst der EU-Kommission, Co-Autor Friedrich und Atomapostel Hansen. Nicht existierende CO₂-Emissionen bei Kernspaltung festzustellen ist schön und gut. Unzulässig allerdings, die konsekutiven Desaster von Abbau, Transport, Verarbeitung, Errichtung der Infrastrukturen und Müll unkritisch zu behandeln, so sie denn Erwähnung finden.
Kritiken der Umweltbewegung und objektive Gefahren der Nuklearindustrie werden fortan kleingeredet. So sei der Atommüll nicht nur ‚wenig umfangreich‘, sondern ‚gut beherrschbarer Abfall‘. Es sei demnach eine Frage der wissenschaftlichen Glaubwürdigkeit, sich im Taxonomie-Streit für das Green-Labeling der Atomkraft einzusetzen.

Eine ‚Milliarde Tonnen Kohlendioxid‘ würden durch den Weiterbetrieb sechs deutscher AKW eingespart, ‚60 Millionen‘ im Jahr, wird Ökomoderne e.V. angeführt. Eine Rechnung, die eine Ökobilanz auf Grundlage des ausschließlichen Betriebs erstellt: Es gibt kein Vorher, es gibt kein Nachher, Atomanlagen fallen CO₂-neutral in die Landschaft, der Müll bleibt eine beherrschbare Nebensache.

Endlager gibt es jedoch noch immer nicht. Bisherige Versuche endeten in Katastrophen. Brände der WIPP, Flutung der ASSE… Die in vielen Ländern geplante Errichtung von tiefen geologischen Endlagern könnte durch den Taxonomie-Entscheid, trotz einer wissenschaftlich inakzeptablen Scheinlösung eines geologischen Einschließens, beschleunigt werden. Die EU-Kommission will das Green-Label nur verteilen, wenn ein Endlager realistisch vorweisbar ist. Neue Installationen müssen nun unter mehr Zeitdruck genehmigt werden, um entsprechende Subventionen zu kassieren.

Und dann geht es im Pro-Atom Märchen in die Ferne: Frankreich, Schweden, Kanada … Samara lädt zum Träumen ein. Ein ‚Elektrizitätssystem (welches) fast null Emissionen bereits heute ermöglicht‘ sieht der Autor im schönen Anderswo. Zumindest zum romantisierten Frankreich lässt sich sagen, dass der militaristische Großmachtanspruch und eine neo-koloniale Wirklichkeit, Propaganda und gigantische ‚Begleitzahlungen‘ das Bild prägen. In der Neukolonie Niger wird Kohle verstromt, um Uranerz abzubauen – die ökologischen und sozialen Rahmenbedingungen sind erschreckend und stören den Atomstaat Frankreich kein Stück. Die Atomfirma Orano beutet auch in weiteren afrikanischen Staaten und Zentralasien die Böden aus. Solch eine Tätigkeit kann auf keinen Fall als ‚Emissionsfrei‘ oder ‚Nachhaltig‘ gelabelt werden.

Doch auch aus Verbrauchersicht besattelt Frankreich offensichtlich das falsche Pferd. Bis zu einem drittel der Reaktoren fallen ständig aus (Stand heute: 17). Bei großer Hitze muss die Feuerwehr von Außen kühlen, im Winter wird Kohle und Gas aus Deutschland importiert. Überflutete Anlagen und der beinahe-Gau in St-Laurent-des-Eaux 1980 bremsten den Ausbau des staatlichen Nuklearprogramms kaum und 1986 machte die Wolke aus Tschernobyl geradezu an der Grenze zu Frankreich einfach Halt. Und zwar während uns Framatome-Funktionäre im Fernsehen mit genau der Propaganda speisten wie Herr Sarma heute:
Es brauchte nur ‚ein halbes Glas Schnaps‘ – im Werbeclip das Volumen eines Kugelschreibers – um eine Familie ein Jahr lang mit Energie zu versorgen. Diesen Haufen würde ich heute ungern sehen, zumal er so groß und gefährlich ist, dass gigantische (natürlich emissionsarme) Stahl-Betonsärge gegossen werden müssen, um sie von der Umwelt abzuschirmen. Und dann argumentiert Samara für das „Recycling“ des Mülls, und natürlich weiß Frankreich, was aus der Wiederaufbereitung folgt: vor allem Rohstoff für Atombomben, gefühlte Großmacht für die Ewigkeit.

Dann wird zum ‚vom ganzen Volk getragenen‘ Endlager Finnlands zurückgesprungen, wo ‚ein überraschendes Leck unter sehr pessimistischen Annahmen kaum Auswirkungen auf die darüber lebende Bevölkerung‘ hätte. Es gibt noch überhaupt keine Erfahrung wie sich Granit eignen wird. Sicher ist, dass zumindest in Schweden davon ausgegangen wird, dass Endlager in diesem porösen Gestein mittelfristig geflutet werden. Aber: Es gibt ja technische Lösungen. Aktuell planen die schwedischen Ingenieure mit einer 30 cm dicken Kupfer-Schalung jedes einzelnen der zu lagernden Container, was dem Wasser einige tausend Jahre standhalten könnte. Allerdings: Ohne CO₂ wird dieses Metall nicht gewonnen, es ist hoch begehrt, teuer und nur begrenzt verfügbar.

Die Hochrechnung, mehrere tausend Menschen seien aufgrund des Abschaltens der deutschen Atomanlagen gestorben, ist nun nicht mehr schwammig und wissenschaftlich unbegründet, sondern reiner Populismus. Es wird beschrieben, wie schädlich der Ausstoß der fossilen Energieträger sei, ohne die Folgeschäden, oder solche, im Vorfeld der Atomverstromung, zu behandeln. Die militärische Dimension wird ausgeblendet, die Lagerproblematik sei zweitrangig und (planlose) Evakuierungen atomar verseuchter Zonen seien schädlicher als ein Super-GAU.De facto wird der Taxonomie-Trick der EU-Kommission zur Bremse für Erneuerbare werden. Dabei erwartet die Fridays-for-Future Generation eine Abkehr von Umweltzerstörung als Grundlage für ein geschütztes Ökosystem, welches den Klimawandel bremsen kann. Die stattfindende Zerstörung ist eine ganzheitliche. Es braucht also eine ganzheitliche Betrachtung und diese führt unbedingt zum Ende der Kohle-, Gas- und Atomepoche. Dafür muss das Geld in Forschung und Erneuerbare fließen, denn nur so können wissenschaftlich vertretbare Lösungen erarbeitet werden.Bei der Forderung, der Staat solle die Sache doch, in Ermangelung der Branchenaktivität für die Privatwirtschaft (hier RWE), in die Hand nehmen, ist der Autor ganz bei Frankreichs EdF-Führung. Vorstandschef Lévy erkannte doch jüngst an, dass es sich um eine profitable Branche handeln könnte, wenn die Kosten, wie in Frankreich, einfach auf die Bevölkerung umgewälzt würden.

Für Samara braucht es in diesen Zeiten ‚keine Angstmache‘, sondern Atomenergie soll zur Staatsraison werden. Es wäre meines Erachtens vor allem an der Zeit, mit der Förderung real-beängstigenden Technologien Schluss zu machen.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Luc Śkaille

Pressefreiheit, Umweltpolitik, Gemüsebau, Jazz

Avatar

Was ist Ihre Meinung?
Diskutieren Sie mit.

Kommentare einblenden