Montagmorgen: Chinesisch, Russisch, Japanisch, Spanisch, Schwedisch, Bulgarisch, Niederländisch, Französisch, Polnisch, Italienisch, Englisch überall, bevor der Unterricht beginnt. Wer hier unterrichtet, spricht die eigene Sprache täglich stundenlang nur langsam und rudimentär. Nach neun Monaten Lehrtätigkeit in einem solchen Meltingpot taucht unweigerlich die Frage auf: Verkümmert der eigene Wortschatz oder führt der Auftrag, Menschen aus aller Herren Länder und Kulturen in die Geheimnisse, Regeln und Abgründe der Deutschen Sprache einzuweihen, in vorher ungeahnte Reiche? Unleugbar ist eine ansteigende Sensibilität für sprachliche Fehler jeglicher Art, die manchmal zu der Besessenheit führt, in sämtlichen außerschulischen Gesprächen auf die phonetischen, lexikalischen und grammatischen Fehler des Gesprächpartners zu lauern. Berufskrankheit. Das einzigartige Geschenk zum Ausgleich: In keinem anderen Job als dem Sprachunterricht für gemischte Sprechergruppen erfährt man so direkt und zugleich nebenbei, was die Unterschiede zwischen Bayer Mexiko und Bayer Deutschland in Mexico City sind, erlebt, wie Chinesen ein Neujahrsfest feiern und wie dies ihre Extrem-Disziplin aus dem Gleis zu kippen vermag, nirgendwo sonst muss man endlich internalisieren, dass weiß Gott nicht die ganze Schweiz Deutsch spricht und welche Probleme russische Frauen haben können, deren Männer ohne ein Wort Deutsch eine Greencard bekommen haben, während an ihnen die Verantwortung hängen bleibt, ihre Söhne in einem halben Jahr in einer deutschen Schule anmelden zu müssen.
Jeder Tag ist eine Gratwanderung. Klar ist zwar, dass sie alle noch lange oft nichts oder wenig verstehen, aber wie hoch ist die Frustrationstoleranz der Schüler? Und es gibt Frust, denn die Anforderungen sind hoch: Wer hier studieren will, hat ein Jahr Zeit, um Deutsch zu lernen, nicht irgendwie, sondern ziemlich perfekt, ansonsten hat er keine Chance, die von jedem ausländischen Studenten als Uni-Zugangsvoraussetzung geforderten hochschulinternen Überprüfungen der Deutschkenntnisse zu bestehen. Wer durchfällt, darf sie nach ein paar Monaten wiederholen, klappt´s wieder nicht, muss er das Traumland verlassen, da das Visum zur Aufnahme eines Studiums auf maximal anderthalb Jahre begrenzt ist. Dann haben Eltern oftmals 15.000 bis 20.000 Euro für Leben und Unterrichtsgebühren in den Sand gesetzt, was selbst für Topverdiener aus der chinesischen New Economy ein Vermögen ist. Und die Söhne und Töchter kämpfen, auch weil schon mal von den Eltern ein VW-Beatle als Belohnung für die erfolgreich bestandene Deutschprüfung versprochen wird. Die russische Ehefrau dagegen lernt, damit sie ihrem Sohn helfen kann und weil sie ihr in Petersburg abgeschlossenes Medizinstudium auch in diesem fremden Land irgendwann nutzen können möchte. Alle zahlen den Unterricht selber und die meisten wollen hier sein, wollen lernen und glauben an den gerechten Erfolg in diesem Land genauso wie Italiener, Amerikaner, Afrikaner, Australier, Schweizer; für die Chinesen ist es allerdings oft besonders existentiell, in jeder Beziehung. Keiner der Anfang 20-Jährigen hat je allein gewohnt, sie haben gesundheitliche Probleme, das Essen schmeckt nicht, die deutsche Sprache ist fremder als es irgend etwas sein könnte, die Umgangsformen sind rätselhaft, auch die Gesprächskultur und die Lernformen. Alle Kollegen sind anfänglich verwundert, wenn die Chinesen immer im Chor antworten. Dann hört man: so ist das in chinesischen Schulen. Damit ihre Namen nicht ständig bis zur Unkenntlichkeit verstümmelt werden, legen viele sich englische Namen zu. Zum Erreichen des Ziels tut man viel, sehr viel. Die Dozenten betätigen sich als Schauspieler und Maler und müssen in Kauf nehmen, sich oftmals eher als Depp zu gebärden denn sich verständlich machen zu können. Dennoch sind sie nicht selten die einzigen Vertrauenspersonen: Welche Blumen schenkt man in Deutschland zum Geburtstag? Darf ich mich bei meinem Vermieter beschweren, wenn Schimmel an der Wand ist.
Drei Monate später: Schüler, die zu Beginn die Frage nach ihrem Namen nicht verstanden, erzählen vom gemeinsamen Essen mit Gans, Rotkohl und Klößen in der Gastfamilie, von ersten Gesangsstunden an der HBK und erfolgten Schulanmeldungen, Schüler aus der Mittelstufe finden den heiß ersehnten Praktikumsplatz in Berlin. Neun Chinesen schreiben einen Leserbrief zu einem Artikel über Kanton, ihre Heimatstadt, an den Spiegel. Ein ebenso ungläubiges wie stolzes Strahlen überzieht die Gesichter. Kanton ist in Berlin angekommen. Und wo sie am besten einkaufen können, wissen sie auch, seitdem sie den türkischen Gemüsemarkt an der Großgörschenstraße entdeckt haben. Der ist ein bisschen wie zu Hause, auch weil Deutsch in den chinesischen Ohren inzwischen vertrauter klingt als Türkisch.
Die Texte im Unterricht werden anspruchsvoller, die Grammatik sowieso. Ein Text über AI (amnesty international). Da muss man behutsam sein, haben die Chinesen doch sowieso - vielleicht zu Recht - immer das Gefühl, ihr Land werde nur kritisiert, obwohl die Welt keine Ahnung habe. Das Wort ist noch nicht ausgesprochen und schon geht einer impulsiven Französin die Hutschnur hoch: AI sei doch bigott oder wie sei es sonst erklärbar, dass sie nichts gegen die Vergabe der Olympischen Spiele an China unternommen hätten, obwohl Tausende hingerichtet würden. Die Chinesen versteinern, und auch die restliche anwesende Welt verstummt. In der folgenden Pause Tränen. Da gilt es vorsichtig tastend nachzufragen, zu erklären, zu vermitteln, ohne zu verletzen. Es gehe nicht darum, China an den Pranger zu stellen. Aber: ihr müsst auch lernen, mit Kritik an eurem Land wie an jedem anderen in der Welt klar zu kommen, damit werdet ihr in diesem Land täglich konfrontiert. Bezieht Position, erzählt von eurem Land, wie ihr es seht.
Wieder drei Monate später: Heimweh, warum ist in Berlin Fisch so teuer, eine Russin ist frustriert, weil sie den Führerschein noch mal machen muss, da ihrer nicht anerkannt wird, ein Chinese taucht nicht mehr auf, zwei stammeln heulend von Alpträumen: "Der Kopf ist eng, meine Haut wird schlecht, ich kann nicht schlafen, führe ich nach Hause, würde mich niemand erkennen, weil ich zehn Jahre älter geworden bin." Die Frage: Wieviel lernst du? Die Antwort: von morgens acht bis nachts um drei, seit September jeden Tag. Die Schule macht diesen Druck nicht, die Regel ist: vier Stunden Unterricht fünf Tage pro Woche in Gruppen mit maximal zehn Teilnehmern, zwei Stunden täglich Vor- und Nachbereitung. Deshalb die neue Regel: Du machst diese Woche keine Hausaufgaben, sondern schläfst, gehst spazieren oder ins Kino. Die Reaktion: das geht nicht, ich muss lernen. Das "ja, aber..." anderer Schüler lässt die beiden Chinesen dann nachdenken. Einladungen zu außerschulischen Treffen schlagen sie dennoch fast alle weiterhin aus. Die Hoffnung auf das Studium, von dem sie glauben, es öffne ihnen in China alle Türen, sind einfach zu groß. Stärker ist nur noch der Glaube an ein unerschütterliches 14 Prozent Wirtschaftswachstum. Ein Argentinier malt die Schlangenlinie der Wirtschaftsentwicklung seines Landes an die Tafel. Ein höfliches, aber leicht mitleidiges Lächeln der Chinesen. Anders als für viele Schüler aus Osteuropa oder der ehemaligen Sowjetunion ist für die Asiaten Deutschland nicht das Paradies; es ist für sie nur Durchgangsstation, die Verheißung liegt im Reich der Mitte. Und auch wenn die Empfindlichkeiten groß sind - "warum erzählt ihr uns was von der Stasi?" - lassen manche irgendwann zumindest die Möglichkeit eines Kratzers am Glanzbild zu, sagen von sich aus, dass Demonstrationen in China verboten sind und hören hier dennoch ungläubig, in Kanton habe es eine gegeben, wovon ihre Eltern vor Ort nichts wissen. Auch folgende Reaktion wird gelernt: In Amerika gibt es ebenfalls die Todesstrafe.
Was soll man darauf antworten? Was wissen wir wirklich über China? Zur Zeit boomen die Veröffentlichungen zum Glück. Vermutlich haben wir wirklich keine Ahnung. Ist die Überzeugung, zumindest gelernt zu haben, dass es sich lohnt zu fragen, vielleicht auch nur westliche Arroganz? Und: hat sich die nach dem 11.September verstärkt, so ganz unbewusst, clandestin?
Am 12. September sitzt eine Amerikanerin aus Washington im Unterricht, so wie auch am Vortag zwischen 14 und 17.30 Uhr. Sie entschuldigt sich, weil sie ausnahmsweise ihr Handy eingeschaltet lassen will. Am Tag zuvor erwarteten sie nach dem Unterricht zehn Live-Berichte über das Flugzeug im Pentagon auf der Mailbox. Bis zur Wahl von George Bush war das Verkehrsministerium gleich nebenan ihr Arbeitsplatz. Ihre Freundinnen, die sie in der Woche zuvor besucht hatten, arbeiten noch dort. Das Handy bleibt in den folgenden Tagen an. Handyverbot können Lehrer an Regelschulen verlangen. Teilen Menschen aus der ganzen Welt an einem Ort X ihren Alltag, sitzt man sozusagen am Ticker. Und es wird so bewusst wie nie zuvor: die Welt passiert immer und surrt immer mehr - manchmal in einem Unterrichtsraum - zusammen.
Die landauf landab aus dem Boden sprießenden privaten Sprachenschulen, die ohne einen Cent öffentlicher Gelder - und damit verbunden mit mittelprächtigen Arbeitsbedingungen für die fast ausschließlich als Honorarkräfte arbeitenden Dozenten - haben den Integrationsgedanken, über den die Politik streitet, längst ganz apolitisch zu einem nicht zu vernachlässigenden Dienstleistungszweig gemacht, sie sind Brenngläser und zugleich Symptome der Globalisierung. Nicht primär der Märkte, sondern der Menschen, der Biographien, der Ess- und Schreibtische, der privaten Telefonnummern und auch der Lust, Fremdes zu lernen anstatt sich Angst machen zu lassen von einem unbekannten Ton, einer unbekannten Geste.
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