In Reih und Glied

1914 Vor 100 Jahren sind für deutsche Juden Davidstern und Eisernes Kreuz gleichwertig. Viele ziehen für das Vaterland in den Krieg - und werden an der Front schikaniert
Ausgabe 12/2014

Nach Kriegsausbruch im August 1914 ziehen 120.000 deutsch-jüdische Soldaten größtenteils freiwillig ins Feld. Etwa 1.500 von ihnen werden das Eiserne Kreuz Erster Klasse erhalten, darunter Fliegerleutnant Wilhelm Frankl. Er gehört mit 16 Abschüssen zu den erfolgreichsten Jagdfliegern des Weltkrieges und wird mit dem „Pour le Mérite“ dekoriert, nachdem er sich hat taufen lassen. Im April 1917 wird er abgeschossen.

Seit den Befreiungskriegen von 1812/13 sind den deutschen Juden Davidstern und Eisernes Kreuz gleichwertige Symbole für Kultur, Heimat und Lebensart. Ausnahmslos alle jüdischen Organisationen in Deutschland rufen am 1. August 1914 dazu auf, dem Vaterland zu dienen. „Dass jeder deutsche Jude zu den Opfern an Gut und Blut bereit ist, die die Pflicht erheischt, ist selbstverständlich“, heißt es. Doch erweist sich der von Wilhelm II. verkündete „Burgfrieden“ bald als trügerisch. Beleidigende Ausfälle machen in Militärkreisen die Runde. „Überall grinst das Judengesicht, nur im Schützengraben nicht!“, lautet ein für diese Zeit typischer Spruch, der an Stammtischen kursiert. Selbst der „Heldentod“ lässt Antisemiten nicht von ihren Vorurteilen abrücken. Als in den ersten Kriegswochen der Tod von Ludwig Frank, SPD-Reichstagsabgeordneter und Hoffnungsträger der Partei, bekannt wird, macht sich ungeheuerlicher Zynismus bemerkbar: „Immer diese Juden. Selbst beim Sterben müssen sie sich vordrängeln!“ In einem Brief Franks – verfasst kurz vor dem Abmarsch an die Front – ist zu lesen: „Ich habe den sehnlichen Wunsch, den Krieg zu überleben … Aber jetzt ist für mich der einzig mögliche Platz in der Linie, in Reih und Glied, und ich gehe wie alle anderen freudig und siegessicher.“

„Nun sind wir gezeichnet“

Die Hoffnungen der jüdischen Verbände, durch patriotisches Verhalten ihr öffentliches Ansehen aufzuwerten, sollen sich nicht erfüllen. Im Oktober 1916 kommt es zur sogenannten „Judenzählung“, mit der das preußische Kriegsministerium den Anteil jüdischer Soldaten an der Front nachprüfen will. Die Begründung klingt beleidigend. Danach ist des Kaisers „nationale Eintracht“ nur noch Schall und Rauch. Keine andere kriegführende Nation hält es inmitten blutiger Materialschlachten für geboten, die Soldaten einer loyalen Minderheit durchzuzählen. Am 3. November 1916 wird denn auch im Reichstag erregter als sonst gestritten, als sich der liberale Abgeordnete Ludwig Haas über den diffamierenden Charakter der „Judenzählung“ beschwert. Seine Rede endet mit den Worten: „Ich habe eine Fülle von Briefen in diesen Tagen erhalten voller Klagen über den Erlass. Es sind Briefe darunter – die Tränen können einem ins Auge treten. Es geht durch alle Briefe hindurch: Nun sind wir gezeichnet.“

Zu den Gezeichneten zählt Vizefeldwebel Robert Ziegel, der im Schützengraben bei Lille Anfang April 1915 sein persönliches Pessach erlebt und seiner Familie schreibt: „An einem hellen Frühlingsmorgen drängten sich Gebete ins Herz und auf die Lippen. Am Ostersonntag endlich konnte ich über die von zu Hause erhaltenen Mazzen den Segen sprechen. Es mag vielleicht lächerlich sein, aber zuweilen möchte man eine Parallele ziehen zwischen dem Brot des Auszugs aus Ägypten und unserem Militärzwieback ...“

Den Romancier Arnold Zweig animiert Preußens Zählaktion zur literarischen Skizze Judenzählung vor Verdun. Er bemerkt dazu im Januar 1917 gegenüber dem Religionsphilosophen Martin Buber: „Judenzählung war eine Reflexbewegung unerhörter Trauer über Deutschlands Schande und unsere Qual... Wenn es keinen Antisemitismus im Heere gäbe: die ‚unerträgliche Dienstpflicht‘ wäre fast leicht. Aber: verächtlichen und elenden Kreaturen untergeben zu sein! Ich bezeichne mich vor mir selbst als Zivilgefangenen und staatenlosen Ausländer.“ In Zweigs Regiment hat der Unteroffizier Hermann Horwitz die Prüfungen eines Offizierskurses bestanden, wird aber – im Gegensatz zu christlichen Teilnehmern – nicht befördert, obwohl ihm von seinem Vorgesetzten stete Tapferkeit vor dem Feind bescheinigt wird. Horwitz besitze – heißt es im Ablehnungsbescheid – in „seinem Äußeren Eigenschaften, die der Volksmund ‚jüdisch‘“ nenne. Und dies in so „ausgeprägtem Maße“, dass sie „direkt lächerlich“ wirkten. Unteroffizier Hermann Horwitz fällt 1916. Der orthodoxe Soldat David Katz überlebt als einer der wenigen seiner Kompanie den Krieg. Später erinnert er sich in Briefen und Gesprächen immer wieder der Pessach-Nacht von 1918, die er mit einem Kameraden im Granattrichter verbracht hat. Sie lesen die Haggada im Kerzenschein und verzehren von zuhause geschickten Proviant, während ringsherum Granaten detonieren. Nach seiner Heimkehr erzählt ihm ein Vetter, der in Frankreich interniert war, er sei bei der Gefangennahme von einem Glaubensgenossen angeschossen worden. Als er das Schma Jisrael (Höre Israel!) rief, sei der zu Tode erschrocken und habe sich bei ihm entschuldigt.

Einstein empfindet Abscheu

Es fehlt nicht an jüdischen Deutschen, denen jeder Hurra-Patriotismus zuwider ist. Der Philosoph Walter Benjamin entzieht sich der Einberufung zum Kriegsdienst, indem er in die Schweiz übersiedelt. Er wolle sich nicht in den „Schwall von Leibern“ einreihen, schreibt er, der sich in den Augusttagen des Jahres 1914 „vor den Kasernen staute“. Eine weitere Stimme verdient es ebenso, zitiert zu werden, weil sie allem hitzigen Nationalismus eine Absage erteilt. „In solcher Zeit sieht man, welch trauriger Viehgattung man angehört, und empfindet nur eine Mischung aus Mitleid und Abscheu“, teilt der Physiker Albert Einstein seinen Kollegen Paul Ehrenfest mit.

In seinem autobiografischen Text Mein Weg als Deutscher und Jude hat der Erzähler Jakob Wassermann die antijüdischen Ressentiments im deutschen Heer und die oft verächtliche Haltung der Vorgesetzten festgehalten: „Obwohl ich meine Ehre und ganze Kraft darein setzte, als Soldat meine Pflicht zu tun und das geforderte Maß der Leistung zu erfüllen, gelang es mir nicht, die Anerkennung meiner Vorgesetzten zu erringen, und ich merkte bald, dass es mir nicht gelingen konnte, weil Absicht dawider war.“

Im Jahr 1961 erscheint eine Neuauflage der Kriegsbriefe gefallener deutscher Juden, die auf der Erstausgabe dieser Edition von 1935 beruht. Der Reichsbund jüdischer Frontsoldaten ließ sie damals zusammenstellen und wollte ein Exemplar Reichspräsident von Hindenburg übereignen. 1932 war dem bereits die Dokumentation Die jüdischen Gefallenen des deutschen Heeres zugegangen, was der Beschenkte mit der Bemerkung quittierte, er werde das Buch seiner Kriegsbibliothek „einverleiben“. Die „Kriegsbriefe“ jedoch sollten von Hindenburg nicht mehr erreichen – er starb im August 1934.

Jene Lebenszeichen aus dem Graben sprechen für eine Generation jüdischer Deutscher, die in Gesinnung und Vaterlandsliebe Kinder ihrer Epoche waren – pathetisch, ergriffen vom Stolz auf den Nationalstaat und befeuert von einem Patriotismus, wie er heutzutage befremdet. Es muss den Zeitgeist bemühen, wer das nachvollziehen will. Unter diesen Briefschreibern war der mit großen literarischen Erwartungen bedachte Autor Walter Heymann, der „trotzig auf Reife der Kraft und Erfolg wartend“ gewesen sei, wie es der Berliner Theaterkritiker Julius Bab einmal bemerkt hat. 1914 meldete sich Heymann als Kriegsfreiwilliger. Seinen letzten Feldpostbrief schrieb er am 5. Januar 1915, vier Tage vor seinem Tod, im Schützengraben bei Soissons. Darin steht, „mein Leben wäre ganz Anfang, wenn’s bald enden sollte. Wie es auch komme, mir ist Frieden in der Seele“. Aus seinem Nachlass sollten später fünf abgeschlossene Bücher veröffentlicht werden. Zu Unrecht ist Heymann inzwischen vergessen.

Die 1918 heimkehrenden jüdischen Deutschen hofften – wie sich nicht erst 1933 zeigen sollte – vergeblich auf den Dank des Vaterlandes, so sehr der Reichsbund jüdischer Frontsoldaten auch dafür eintrat.

Ludger Held ist freier Autor und Historiker

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