Istanbuls willige Helfer

Armenier In den vor 100 Jahren von Türken verübten Völkermord, den in dieser Woche auch der Bundestag in Berlin anerkannte, war auch das Deutsche Reich verstrickt
Ausgabe 22/2016
An der Genozid-Denkstätte Zizernakaberd in Jerewan
An der Genozid-Denkstätte Zizernakaberd in Jerewan

Foto: Kirill Kudryavtsev/AFP/Getty Images

So gut wie kein anderes Thema kann die Regierung von Tayyip Erdoğan derart in Rage bringen wie die Deutung der Ereignisse zwischen 1915 und 1917, als im morbiden Osmanischen Reich hunderttausende Armenier bei Massakern und Todesmärschen ums Leben kamen. Der offizielle Leugnungsdiskurs der türkischen Politik gehört zum nationalen Selbstverständnis. Mit juristischen wie diplomatischen Mitteln wird energisch dagegen vorgegangen, dass die Vorgänge vor 100 Jahren als Völkermord bezeichnet werden. Dennoch, wer allein die damalige Führung des osmanischen Staates des Genozids bezichtigt, der droht zu vergessen – auch das Deutsche Reich war in diese monströsen Verbrechen verstrickt. Es besteht Nachholbedarf bei der Aufarbeitung eines dunklen Kapitels. Schließlich hat sich das kaiserliche Deutschland aktiver Beihilfe zum Völkermord schuldig gemacht.

Als sich im Ersten Weltkrieg der Angriff auf die russischen Truppen an der türkischen Ostfront zum militärischen Debakel auswuchs, wurden die Armenier von den deutschen Militärs im Einvernehmen mit den Türken als Risikofaktor definiert. Es sei die Absicht seiner Regierung, hatte Innenminister Mehmet Talaat erklärt, den Weltkrieg zu benutzen, um mit inneren Feinden wie „den einheimischen Christen gründlich aufzuräumen, ohne durch Interventionen des Auslands gestört zu werden“. Anders ausgedrückt: Es ging um eine Politik der gezielten Vernichtung, die ab April 1915 zur flächendeckenden Deportation der armenischen Bevölkerung Anatoliens führte.

Tat des Fremden

Ganze Ortschaften wurden geräumt und die Bewohner auf Todesmärschen in Richtung der syrischen Wüste getrieben. Es gab eine ethnische Säuberung, die Mehmet Talaat im August 1916 konstatieren ließ: „Die armenische Frage existiert nicht mehr.“ Dazu kabelte Paul Graf Wolff-Metternich zur Gracht, deutscher Botschafter bei der Hohen Pforte, nach Berlin: „Die türkische Regierung hat sich in der Durchführung ihres Programms: Erledigung der armenischen Frage durch die Vernichtung der armenischen Rasse, weder durch unsere Vorstellungen (…) am allerwenigsten aber durch die Rücksicht auf die öffentliche Meinung des Abendlandes beirren lassen.“ Doch war Reichskanzler Theobald von Bethmann Hollweg wenig geneigt, dem osmanischen Alliierten ernsthaft in den Arm zu fallen. Er reagierte auf den gesinnungsethisch motivierten Vorstoß verärgert und notierte zur Botschafter-Depesche: „Unser einziges Ziel ist, die Türkei bis zum Ende des Krieges an unserer Seite zu halten, gleichgültig ob darüber Armenier zugrunde gehen oder nicht.“

Andere deutsche Diplomaten waren erschüttert über den Vernichtungswahn. In Aleppo klagte Konsul Walter Rößler die türkische Regierung an, „Hekatomben Unschuldiger“ den wenigen Schuldigen geopfert zu haben. In Berlin hinterließ das keinen Eindruck. Im Gegenteil, Publizisten, die Minister Talaat als „türkischen Bismarck“ feierten, wurden 1915 von der kaiserlichen Pressezensur angehalten: „Unsere freundschaftlichen Beziehungen zur Türkei dürfen durch diese innertürkischen Verwaltungsangelegenheiten nicht nur nicht gefährdet, sondern nicht einmal geprüft werden. Deshalb ist es einstweilen Pflicht, zu schweigen.“

Friedrich Bronsart von Schellendorf, der als Generalstabschef das osmanische Feldheer führte, handelte als gnadenloser Feind der Armenier, kümmerte sich selbst darum, dass die Todesmärsche ohne Störung abliefen, und ließ alle Hemmungen fallen, als er erklärte: „Der Armenier ist, wie der Jude, außerhalb seiner Heimat ein Parasit, der die Gesundheit eines anderen Landes, in dem er sich aufhält, aufsaugt.“ Diesen Mann findet man folgerichtig 1924 im faschistischen Frontbann und 1925 als Führer des völkischen Tannenbergbundes an der Seite Erich Ludendorffs wieder.

Für die Armenier war das Aghet – die Tat des Fremden, der ins Innere ihres Volkes dringt und es zerstört – die große Katastrophe, die nicht zum ersten Mal über sie hereingebrochen war. Bereits gegen Ende des 19. Jahrhunderts wurde angesichts der Mordorgien an Armeniern der Begriff Holocaust verwendet. Und der Schriftsteller Franz Werfel nannte 1933 in seinem Musa- Dagh-Roman die armenischen Todeskarawanen von 1915 prophetisch „wandernde Konzentrationslager“.

In den vergangenen Jahren hat nun gut ein Dutzend Staaten in aller Welt das Kapitalverbrechen an den Armeniern als Völkermord eingestuft, Deutschland zählte bisher nicht dazu. Erst zum 100. Jahrestag der Armenier-Verfolgung gab es im Frühjahr 2015 Statements deutscher Politiker, in denen von Genozid die Rede war. In dieser Woche beschäftigt sich der Bundestag erneut mit diesem Zivilisationsbruch zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Trotz des Vorwurfes aus Ankara – ohne historische und juristische Beweise zu handeln sei „politischer Missbrauch“ – gilt es als sicher, dass ein interfraktioneller Antrag angenommen wird, der die Geschehnisse von einst als Völkermord charakterisiert.

Ludger Heid ist Neuzeithistoriker und Mitherausgeber der Reihe Campus Judaica

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