Nach den Wahlen in Hessen und Niedersachsen hat auch bei den Grünen eine neue Debatte über Bündnisoptionen eingesetzt. Mit dem sich abzeichnenden Fünf-Parteien-System scheint die Zeit eines rot-grünen Automatismus vorbei. So werden Forderungen nach einer Öffnung zur CDU beziehungsweise Linkspartei laut. Diese Kontroverse könnte die grüne Partei in eine Zerreißprobe führen, meint Ludger Volmer, Anfang der neunziger Jahre ihr Vorsitzender und von 1998 bis 2002 Staatsminister im Auswärtigen Amt.
Inzwischen ist Volmer nicht mehr bei den Grünen aktiv und arbeitet als Dozent an der FU Berlin. Wir dokumentieren seine Analyse leicht gekürzt.
Solange ich für die Gesamtentwicklung der Partei Verantwortung trug - von Ende der achtziger bis Mitte der neunziger Jahre - war mir klar, und ich versuchte dies auch als Linie der Parteiführung zu implementieren: eine Ausweitung der PDS nach Westen muss unbedingt verhindert werden! Das war eine strategische Entscheidung. Ein politischer Wille. Er motivierte sich aus der Einschätzung, dass die Westausdehnung der PDS den Grünen die Bedeutung nehmen würde. Inhaltlich, weil die Linke in der sozialen Frage entschiedener auftreten würde; strategisch, weil sie die von der SPD enttäuschten Protestwähler auffangen würde; und kulturell, weil sie das interessantere Momentum in der deutschen Politik darstellen würde. Diese PDS-Eindämmungspolitik war damals effektiv, wie Gysi selbst mir bestätigte. Und sie wirkte auch noch bis Ende der neunziger Jahre fort. (...)
Mit den Wahlerfolgen der Partei Die Linke ist nun nicht nur der GAU für die Grünen eingetreten, sondern der Super-GAU. (...)
Das Feld der epochalen Niederlage der Grünen ist die soziale Frage, das Kernthema der Linken. Die Niederlage auf die Demagogie eines Lafontaine oder den Talkshow-Witz eines Gysi zu schieben, wäre zu billig. Es sind die Grünen selbst, die sich ihre Basis abgegraben haben. Dazu ein kleiner Abriss der Karriere der sozialen Frage in der Partei:
Im Gründungsprozess 1980 war heftig umstritten, ob das Soziale ein formulierter und fixierter Grundwert der Partei werden solle. Unumstritten war das Ökologische als Hauptmotiv für die Gründung und das Alleinstellungsmerkmal in der Parteienlandschaft. Aber um das Ökologische gesellschaftspolitisch einzubetten, musste über die Vorstellung von Gesellschaft gerungen werden. Anfangs war völlig offen, ob die Grünen ein emanzipatorisches oder ein Blut- und Boden-Projekt würden. Die Grundsatzentscheidung zum § 218 führte zum Austritt der Konservativen. Die Grundsatzentscheidung für den sozialen Grundwert führte dazu, dass ein Großteil der linken Gruppen der siebziger Jahre sich in die Parteigründung integrierte. Die Grünen besetzten den links von der SPD vakanten Platz im Parteienspektrum, ohne eine traditionelle Linkspartei zu sein. Es ging eher um kulturelle Avantgarde, wir waren Vordenker und Experimentierlabor der Gesellschaft. Die dem eigenen Selbstverständnis nach Linken unterzogen sich - wenn auch oft mühsam und sträubend - einem gemeinsamen Lernprozess mit wertkonservativen Umweltschützern. Sie taten dies, weil und nur weil sie die Möglichkeit sahen, so im anschwellenden Massenprotest auch ihre Vorstellungen zur sozialen Frage unterzubringen.
"Ökologisch, sozial, basisdemokratisch, gewaltfrei" - so lauteten die gleichberechtigten Gründungsideen der Grünen, die das erfolgreichste Neugründungsprojekt einer Partei in der alten BRD stabilisierten.
Die Grünen besetzten den links von der SPD vakanten Platz im Parteienspektrum, ohne eine traditionelle Linkspartei zu sein
Nun erforderten die Zeitläufe auch den Formwandel der Grundwerte. Manche konkrete Idee der Anfangsjahre musste aufgegeben oder weiter entwickelt werden. An den Werten selbst aber hielt die Partei fest. Während Öko-Pax, die Verbindung von "ökologisch" und "gewaltfrei" den Gründungsprozess bestimmte, geriet die Verbindung der Grundwerte "ökologisch" und "sozial" beim Abflauen der Friedensbewegung zum Erfolgsschlager. (...)
In den politischen Wirren der deutschen Vereinigung ging dieses Erfolgsmodell verloren. Die Partei war tief gespalten, mehrere Gruppen erhoben den Anspruch, ihr eine neue Perspektive weisen zu können. Der Bundesvorstand unter Ralf Fücks, unterstützt vom so genannten Aufbruch, legte 1990 ein Leitlinienpapier vor, in dem die soziale Dimension nicht mehr vorkam. Das Linke Forum schaffte es, gemeinsam mit "kritischen Realos", diesen Angriff auf die Grundwerte abzuwehren und die soziale Kategorie systematisch in das Papier einzuarbeiten. Im Einigungspapier der beiden großen Parteiflügel, das 1991 in Neumünster von Fritz Kuhn und mir ausgehandelt wurde, bekam die soziale Frage wieder ihren konstitutiven Stellenwert.
Zugleich wurden die Abkehr vom sozialstaatlichen Traditionalismus und die grüne Verantwortung auch für die Produktivitätsentwicklung und kleinere und mittlere Betriebe betont. Mit dem "Konsens von Neumünster" ließ sich leben, nicht nur für die innerparteilichen Linken, auch für die rot-grüne Wechselwählerschar.
Aber dann kam alles anders. Die aus dem Bundestag geflogenen Grünen-West brauchten Partner in Ost-Deutschland. Im Prinzip bot sich ein breites Spektrum an. Für ein parteiförmiges Engagement aber waren nicht alle zu haben. Letztlich spitzte sich alles auf die Fusion der Grünen mit den Bürgerrechtsgruppen zu, die sich im Bündnis 90 zusammengeschlossen hatten. Auch wenn ich selber als grüner Vorsitzender diese Fusion gemanagt habe - es war die falsche. Genauer: Sie wies Bedingungen und Defizite auf, die auf lange Sicht ruinös sein würden. Manche haben das damals geahnt. Aber das öffentliche Sentiment wie auch der innerparteiliche Lobbydruck ließen letztlich keine andere Wahl, als genau diesen Prozess emphatisch zu zelebrieren. Ein Scheitern hätte bedeutet, 1994 das Comeback in den Bundestag zu verpassen - das historische Aus für die Grünen. (...)
Die soziale Frage bekam eine paradoxe Funktion. Für viele Bürgerrechtler erschien sozial gleich sozialistisch gleich SED gleich diktatorisch - vor dem Hintergrund ihrer Erfahrungen nachvollziehbar, aber ohne wirkliche Kenntnis der linken Diskurse in der BRD. Sie weigerten sich, diese als "links" begriffene und verabscheute Dimension als Emblem vor sich her zu tragen. Unterstützung bekamen sie vom Aufbruch um Antje Vollmer, der den Fusionsprozess als Neugründungsakt einer ganz anderen, explizit nicht-linken, eher wertkonservativen ökologischen Bürgerrechtspartei betreiben wollte. Auch Realos um Joschka Fischer drängten in diese Richtung, weil sie sich erhofften, so die Mitte-Links-Mehrheit in der eigenen Partei brechen und die neue Formation Richtung gesellschaftlichem Mainstream treiben zu können. Die Fusionsverhandlungen versuchten so, zusammen wachsen zu lassen, was nicht zusammen gehörte.
Wie viele Zugeständnisse wurden an einen Günther Nooke gemacht, der die Grünen nach rechts zu ziehen suchte und dann doch lieber zur CDU ging! Für die Linken innerhalb und außerhalb der Partei war dieses Spiel eine Zumutung.
Innerhalb konnten diese Manöver als unvermeidbare Zugeständnisse an die historische Situation kommuniziert werden. Dennoch mussten die Grünen einen hohen Preis zahlen. Zahlreiche Linke, Ökosozialisten, Radikalökologen und Fundis verließen die Partei. (...) Statt der vier gleichberechtigten Grundwerte kam es zu einer Hierarchisierung. Ökologie und Bürgerrechte dominierten "sozial" und "gewaltfrei". Bündnis90/Die Grünen als ökologische Bürgerrechtspartei ersetzten als Folge der deutschen Einheit die sozial-ökologischen Grünen. Der interne Wohlfühlfaktor war hoch, strategisch mit Blick auf die SED/PDS aber wurde ein entscheidender Fehler gemacht.
Der Fehler wiederholte sich, als im schwierigen Grundwertekonflikt zwischen Menschenrechten ("basis-demokratisch") und Pazifismus ("gewaltfrei") sich die Waage zugunsten des prinzipiellen Ziels "Durchsetzung der Menschenrechte" neigte, auch unter Verzicht auf Gewaltfreiheit. Dass zur Abwehr einer unmittelbar drohenden Gefahr des Völkermordes in einer bestimmten Situation auch militärisch eingegriffen werden musste, war zwar unvermeidlich (Kosovo). Das Konzept des "politische Pazifismus" versuchte diesem Umstand Rechnung zu tragen. Die Realos aber schafften unter dem Druck grüner Neocons wie Fücks und Cohn-Bendit Gewaltfreiheit als eigenständiges Politikziel faktisch ab zugunsten eines Tool-Box-Ansatzes, der zur zivilen Krisenprävention ein ebenso instrumentelles, zweckrationales Verhältnis hatte wie zu militärischen Mitteln.
So wurde auch dieser Grundwert aus der Gründungsphase geopfert und der Pazifismus-Diskurs an die PDS ausgeliefert, die immer noch massenweise von ehemaligen NVA-Offizieren bevölkert ist, die nur deshalb Pazifisten wurden, weil nicht der Warschauer Pakt, sondern die NATO den Kalten Krieg gewonnen hat.
Viele, insbesondere Realos, gingen davon aus, dass nach der Wende die SED-Nachfolgepartei langsam durch Absterben und Absorption verschwinden werde wie nach dem WKII der Bund der Heimatvertriebenen und Entrechteten. Einen aktiven Beitrag der Grünen zur Absorption aber definierten sie nicht. Andere, zu denen ich mich auch zählte, plädierten für eine gezielte und differenzierte Politik gegenüber den ehemaligen Aktivisten der DDR. Wir gingen von drei Strömungen in der SED aus: Altstalinisten, mit denen wir nichts zu tun haben wollten und die in den Orkus der Geschichte fahren sollten; Sozialdemokraten, für die die SPD zuständig wäre; und eine kleinere Gruppe von (ökologischen) Modernisieren, die zu gewinnen unser Ziel sein sollte.
Die Fusion versuchte, zusammen wachsen zu lassen, was nicht zusammen gehörte
Verhindert wurde diese Strategie durch das parteiinterne Bündnis von ostdeutschen Bürgerrechtlern und westdeutschen Realos, die eine Verfestigung der grünen Linksorientierung fürchteten. (...) Die Exklusiv-Fusion mit den ehemaligen Bürgerrechtlern kam zustande. Aber es erwies sich bald, dass wir nicht mit einer breiten Massenbewegung fusioniert hatten, sondern mit einem zwar interessanten, aber recht kleinen Clübchen mit geringer Verankerung im Osten. Viele Ex-DDR´ler, die weder zum diskreditierten Kern der SED-Gesellschaft, noch zur bekennenden Opposition gezählt hatten und gern zu uns gekommen wären, blieben draußen. Das war das Falsche an der Fusion. Nachdem sie sich jahrelang am Fenster zum grünen Kreisverband die Nase platt drückten, zu recht zu stolz, sich hochnotpeinlichen Befragungen über ihr bisheriges Leben auszusetzen, gingen sie dorthin, wo sie eigentlich am wenigsten hin wollten - (zurück) zur (gewandelten) SED. Damit war das Projekt, die SED durch Absorption zum Absterben zu bringen, gescheitert.
Zugleich bestand damit die Gefahr, dass das Parteiensystem sich nachhaltig zu Ungunsten der Grünen verschieben würde. Doch statt sich mit der einzig erfolgversprechenden Politik dagegen zu wehren - nämlich der prägnanten Betonung der eigenen sozialen Orientierung und des politischen Pazifismus -, beschloss man aus Angst vor dem Tod den Selbstmord. Das Soziale wurde der PDS ausgeliefert, grün war ökologisch-bürgerrechtlich. Damit versperrten sich die Grünen nicht nur selbst den Weg nach Osten, sondern luden die PDS geradezu nach Westen ein.
Direkt nach der Bundestagswahl 1994 begann das Verhängnis. Joschka Fischer schaffte es als Fraktionsvorsitzender, den grünen Diskurs in seine Bahnen zu lenken. Zunächst wurde die aufkeimende Globalisierungskritik erstickt. Dann wurde den Öko- und Neoliberalen wie Oswald Metzger freie Bahn zum Ausbreiten ihrer Ideenwelt gegeben, bis in der grünen Wirtschafts- und Finanzpolitik die soziale von der liberalen Dimension verdrängt war. Dann schwang sich Fischer zum Retter des Sozialstaats auf, in eher sozialdemokratischer Form, erklärte diesen zum grünen Herzensanliegen, das wir nie aufgeben würden, für dessen Realisierung aber in einer Koalition die SPD zuständig sei. Joschka inszenierte sich so als neue Mitte in einer von ihm selbst nach rechts verschobenen Fraktion.
So sollten wir - statt alternativer Kleinpartei - linksbürgerliche Mittelpartei werden
Die soziale Frage wurde nicht mehr emanzipatorisch gewendet, als Aufforderung, ungerechte Strukturen zu bekämpfen. Sondern die Tatsache, selbst der Mittelschicht anzugehören, sollte nun auch in eine entsprechende Interessenorientierung münden. Als guter Bürger sollte man zwar auch den Armen geben, das war der Unterschied zur FDP - doch nur als subsidiäre sozialstaatliche Verpflichtung. Strukturelle Ungleichheit und Ungerechtigkeit wurden nicht mehr thematisiert, sondern durch moderne Sozialhilfekonzepte von der Grundsicherung bis Hartz IV abgemildert. So sollten wir - statt alternativer Kleinpartei - linksbürgerliche Mittelpartei werden. Es kam wie absehbar: Nicht Mittelpartei, sondern von der Mittelschicht zum Mittelstand, zur Partei der Mitte, des Mittelmaßes und der Mittelmäßigkeit. Die grüne Fraktion betrieb in der Folge eine Politik zwischen Neoliberalismus und einer konservativ-subsidiär bis sozialdemokratischen Sozialpolitik. (...)
Mit einer solchen Politik war es schwer, dem Wiedererstarken der SED/PDS zur Linkspartei und Linken Einhalt zu gebieten. Die rot-grüne Regierung erledigte den Rest. (...) Nach dem Ende von Rot-Grün hätte es vielleicht die Chance gegeben, die verhängnisvolle Entwicklung aufzuhalten, umzudrehen. Doch in den Steuerungszentren von Partei und Fraktion schien man vor allem die Sorge zu haben, wer Joschka als Spitzenkandidat nachfolgt - ein Spitzenkandidat, den die Grünen gar nicht brauchen. Dann erklärte man kurz vor der Hessenwahl die Dick-und-Doof-Nummer zur Strategie. Gut, Roland Koch ist bestraft, aber die Grünen haben am wenigsten dazu beigetragen, wenn man die Ergebnisse sieht. Gegen Rassismus und zugleich für soziale Gerechtigkeit - das war die Erfolgsstory.
Die Grünen haben die entscheidende Schlacht gegen die Westausdehnung der Linkspartei verloren. Weil sie sich vor 15 Jahren geweigert haben, mit den verunsicherten und Orientierung suchenden Zerfallsprodukten der SED-Gesellschaft zu reden, sind sie heute gezwungen, aus einer Position der Schwäche mit ihnen zu verhandeln. Sie haben sich in eine ausweglose strategische Position gebracht, die sie nun tapfer als neue Chance verkaufen. (...)
Die Grünen werden ihre Marginalisierung durch Banalisierung und ihr Entscheidungsdilemma nur überleben, wenn sie Koalitionen mit der FDP oder der Linken gleichermaßen als Option akzeptieren. Nur wenn der eine Flügel die Vorlieben des anderen mitzutragen bereit ist, wird die Partei sich nicht zerlegen.
Und nur wenn der Oppositionscharme der Linken dekonstruiert wird, indem man diese Partei durch Regierungsbeteiligung dem Fundi-Realo-Streit aussetzt, der einst die Grünen spaltete, tun sich neue Horizonte auf. Wenn die Integrationskraft der Gysis und Biskys nachlässt, könnte es - best case aus grüner Sicht - zu einer Entmischung kommen bei den Linken. Ökologische Modernisierer könnten sich scheiden von Fundis, Querulanten und Stalinisten. Dann gäbe es die Chance, den Dialog, der einst verpasst wurde, mit neuen strategischen Optionen zu führen - vielleicht sogar einer Fusion, diesmal der richtigen?
Zwischentitel von der Redaktion
Die Langfassung des Textes finden Sie unter www.gruene-linke.de
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