Die deutsche Außenpolitik war im Bundestagswahlkampf 2005 kein Thema, obgleich es auch auf diesem Gebiet um eine Richtungsentscheidung ging: Soll sich die deutsche Außenpolitik an nationalstaatlichen und europäischen Interessen orientieren oder sich wieder ins Schlepptau der USA begeben und dadurch in einen möglicherweise geplanten Krieg gegen den Iran oder Syrien hineingezogen werden? Diese existentielle Frage wurde nicht diskutiert, sieht man einmal von Einlassungen der beiden Kontrahenten über einen möglichen EU-Beitritt der Türkei ab. Und das obwohl die Unterschiede zwischen Regierung und Opposition auf dem Feld der Außenpolitik so weit auseinander liegen wie niemals zuvor. Gerhard Schröder steht nicht nur in der außenpolitischen Auseinandersetzung für Selbstbewusstsein, Angela Merkel dagegen verkörpert in dieser Sachfrage Servilität gegenüber den USA.
Ins Gerede gekommen ist die deutsche Außenpolitik, weil sie sich anmaßte, 2002 - elf Jahre nach Erlangung der völligen Souveränität - auf die Weltbühne zurückzukehren. Seit dem Überfall der USA zusammen mit einer "Koalition der Willigen" auf den Irak und der Weigerung des Bundeskanzlers Gerhard Schröder, sich an diesem Abenteuer zu beteiligen, nehmen die Kontroversen über die Ziele deutscher Außenpolitik zu. Der Zeithistoriker Gregor Schöllgen von der Universität Erlangen-Nürnberg beschreibt in seinen beiden Büchern Der Auftritt und Jenseits von Hitler zentrale Stationen deutscher Geschichte, die das Schicksal des Landes bis heute wesentlich bestimmt haben.
Ein Krieg bringe Dinge ans Licht, die sonst verborgen geblieben wären, konstatierte einst der französische Staatspräsident Charles de Gaulle. Der völkerrechtswidrige Angriffskrieg gegen den Irak führte auf zwei zentralen Feldern zu schweren Zerwürfnissen zwischen den NATO-Partnern: In den transatlantischen Beziehungen und im Bereich der gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik der Europäischen Union. Zum ersten Mal nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges hat ein deutscher Bundeskanzler öffentlich erklärt, dass über die deutsche Außenpolitik allein in Berlin entschieden werde; er wiederholte es im Wahlkampf 2005 - Deutschland brauche seine nationalen Interessen nicht zu verstecken; dies sei der "deutsche Weg".
Schröders Weg-Metapher hat innerhalb der außenpolitischen Elite des Landes zu hysterischen Reaktionen geführt. Parteiübergreifend wurde die Gefahr eines deutschen "Sonderweges" beschworen. Wahrscheinlich sah sich Schröder viel stärker in der Tradition aller Bundeskanzler vor ihm als den Kritikern bewusst war: in der Tradition einer bewusst betriebenen Friedens- und Integrationspolitik im europäischen und transatlantischen Rahmen nämlich. Doch dann war Schröders Metapher vom "deutschem Weg" - vorsichtig gesagt - missverständlich.
Soll man es nun als Glück oder Unglück werten, dass der liberal-konservative Schöllgen dieser Haltung in seinen zwei letzten Büchern ein - könnte man sagen - Denkmal gesetzt hat? In seinem Buch hat er die rotgrüne Anti-Kriegsentscheidung in einen größeren historischen Rahmen eingebettet, und zwar in die Tradition des deutschen Nationalstaates. Seine Ausführungen rehabilitieren ein Konzept, das schon des Öfteren auf den Müllhaufen der Geschichte expediert worden ist. Ihm geht es in seinem Jenseits von Hitler um die Geschichte des deutschen Nationalstaates. Dieser ist - trotz zahlreicher Souveränitätseinbußen - weiterhin einer der wichtigsten Akteure in den internationalen Beziehungen, auch im Rahmen der EU. Am Anfang war nicht Hitler, sondern Bismarck, der den ersten deutschen Nationalstaat klassischer Prägung 1871 schuf. "Und die Jahrzehnte, die der Reichsgründung folgten", schreibt Schöllgen, "waren keine Einbahnstraße in die Katastrophe".
Indem Schöllgen die zwölf Jahre der Katastrophe deutscher Geschichte einreiht in eine 120-jährige deutsche Nationalstaatstradition, historisiert er das Dritte Reich und tritt für eine Geschichtspolitik ein, die mit Ernst Noltes erstem Versuch im Historikerstreit Schiffbruch erlitten hatte. Wurde nicht gerade das Konzept des Nationalstaates durch die Nazis total pervertiert, so dass es zu Recht bis zur Wiedervereinigung nicht satisfaktionsfähig war? Zu fragen ist, warum gerade unter Rot-Grün dies möglich wurde? Hat nicht der deutsche Außenminister die Kriegstauglichkeit Deutschlands im Kosovo mit Auschwitz begründet und damit den Weg für ein weltweites militärisches Engagement freigemacht?
120 Jahre nach der Reichsgründung und fast ein halbes Jahrhundert nach dem Untergang des Dritten Reiches wurde 1991 der zweite deutsche Nationalstaat von der "Anti-Hitler-Koalition" in die volle Souveränität entlassen. Diese Bundesrepublik Deutschland, argumentiert Schöllgen, habe nichts, aber auch gar nichts mit der exzessiv-perversen Vernichtungspolitik Hitlers gegenüber seinen Nachbarn und gegenüber dem europäischen Judentum zu tun. Die Deutschen hätten ihre Lektion gelernt und ihre Chance genutzt. Zu diesem Schluss seien auch die vormaligen Opfer, Gegner und Besieger des Dritten Reiches gekommen. "Die Geschichte der deutschen Nation - auch das signalisiert die Entscheidung von 1991 - lässt sich nicht auf diese zwölf Jahre reduzieren oder mit ihnen allein erklären".
Für Schöllgen steht auch Schröder in dieser Tradition. Die Deutschen wären ohne das Zutun der Schröder/Fischer-Regierung nicht in der Wirklichkeit angekommen. Meint Schöllgen vielleicht die Kriegsbereitschaft und die Verteidigung deutscher Interessen am Hindukusch? Zu fragen wäre dann allerdings, was deutsche Soldaten dort verloren haben? Zeigen nicht die kolonialen und imperialen Erfahrungen Großbritanniens und der Sowjetunion, dass sich das afghanische Volk keinem Druck von außen beugt?
Schöllgen bewertet die Politik gegenüber Russland als im deutschen Interesse liegend, selbst ein mögliches Waffengeschäft mit der asiatischen Weltmacht China sei für die Regierung kein "Tabu" mehr. Dem Bundeskanzler sei es gelungen, wirtschaftliche und außenpolitische Interessen in Übereinstimmung zu bringen. Warum thematisiert der Autor nicht Schröders Schweigsamkeit gegenüber den Menschrechtsverletzungen Russlands in Tschetschenien? Wäre es nicht ein Gebot intellektueller Redlichkeit, einer Regierung die rote Karte zu zeigen, wenn sie aus purem Pragmatismus die Menschenrechte auf dem Altar der Wirtschaft opfert?
Das neue Selbstbewusstsein habe erstmals Kanzler Schröder gegenüber der "hemdsärmeligen Brachialdiplomatie" der USA an den Tag gelegt, wie Schöllgen betont. Dass über deutsche Interessen in Berlin und nicht in Washington entschieden werde, hinter diese Haltung könne kein künftiger Bundeskanzler mehr zurückfallen. "Respektlose Bevormundungsversuche" oder unverhohlene Drohungen wie sie Bush gegen die "Unwilligen" und die UNO ausgestoßen habe, "sind in einer Gemeinschaft souveräner Staaten nicht akzeptabel". "Gleiche Augenhöhe" sei das Gebot der Stunde. Wenn jetzt die Bush-Regierung droht, Verbände aus Deutschland nach Osteuropa zu verlegen, sei dies nach Schöllgen "nicht unbedingt eine schlechte Nachricht". An Schöllgens Thesen zeigt sich, dass die rot-grüne Außenpolitik mit Schröders missverständlicher Begriffswahl und seinem mitunter präpotenten Auftreten auf der internationalen Bühne offen für konservative Umarmungsversuche ist.
Schöllgens Interpretation bundesrepublikanischer Geschichte rief heftige Kritik hervor: Man warf ihm und auch Egon Bahr vor, Deutschland schon wieder auf leisen Sohlen unterwegs zur Weltpolitik zu wähnen; andere sprachen von "Gleichgewichtsstörungen", vom "deutschen Weg" als Zeichen für weltpolitischen Geltungsdrang oder von einem außenpolitischen "Abseits" sowie vom Machtverfall Deutschlands. Doch wenn Schöllgen davon spricht, die Deutschen sollten eine führende Rolle in Deutschland, Europa und der Welt übernehmen, weil dies ein "nationales Interesse" sei, wäre eigentlich zu fragen: Will Deutschland diese Rolle überhaupt spielen? Ist die Bevölkerung wirklich bereit, eine Aufrüstung des Landes auf Kosten sozialer Leistungen hinzunehmen? Welchen Interessen ist damit letztlich gedient? Diese Fragen stellt Schöllgen bezeichnenderweise nicht.
Gregor Schöllgen: Jenseits von Hitler. Die Deutschen in der Weltpolitik von Bismarck bis heute. Propyläen, Berlin 2005, 400 S., 24,90 EUR
Gregor Schöllgen: Der Auftritt. Deutschlands Rückkehr auf die Weltbühne. Propyläen, München 2003, 176 S., 12,90 EUR
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