Seit dem Ausbruch der Al-Aqsa-Intifada am 29. September 2000 regiert in den besetzten Gebieten und in Israel die nackte Gewalt. Die israelischen Journalistin Amira Hass, die einige Jahre in Gaza-Stadt unter Palästinensern gelebt und gearbeitet hat, straft mit diesem Buch alle diejenigen Lügen, die in den Palästinensern nicht anderes als »Terroristen« sehen. Mit ihrem Umzug nach Gaza wollte die Autorin seine Bewohner direkt und nicht durch die Windschutzscheibe eines Armeejeeps kennen lernen. »Den meisten Israelis kam mein Entschluss absurd, ja wahnsinnig vor, denn sie waren überzeugt, dass ich mein Leben aufs Spiel setzte.« Hass lehnte schon immer die israelische Dämonisierung der Palästinenser ab. Für viele Israelis sind die Palästinenser »primitiv, gewalttätig und den Juden gegenüber feindlich gesinnt«. Dieses Klischee will die Journalistin der angesehenen Tageszeitung Ha áretz bei ihren Landsleuten erschüttern.
Das andere Motiv liegt in ihrer Herkunft begründet. Ihre Eltern stammten aus Rumänien und haben den Terror des Nazi-Regimes überlebt. Sie rebellierten gegen jede Form von Ungerechtigkeit und ordneten sich dem linken Spektrum zu; darüber hinaus waren sie antizionistisch. Ihre Lebensgeschichte war durch Widerstand gegen jede Ungerechtigkeit, der offenen Meinungsäußerung und der Gegenwehr geprägt - sie bilden das Vermächtnis für Amira Hass. Nicht Abenteuerlust war das Motiv, um nach Gaza zu ziehen, sondern die Angst, »zu einem tatenlosen Zuschauer zu werden«. Es ist dieser einmalige, autobiographische Hintergrund gewesen, welcher der Autorin den Weg nach Gaza gewiesen hat.
In ihrem Buch dokumentiert Hass den Alltag der Menschen im Gaza-Streifen, der nur als katastrophal und erniedrigend bezeichnet werden kann. Zu der Zeit, als sie dieses Buch schrieb, waren die Umstände verglichen mit heute noch »optimal«. Sie kritisiert sowohl das israelische Besatzungsregime, das die totale Kontrolle während des ganzen »Friedensprozesses« aufrechterhalten hatte, als auch die Selbstherrlichkeit von Arafats Autonomiebehörde und deren schamlose Privilegien, die aber nur von Israel geliehen sind. Das Leben im »Gefängnis von Gaza« ist mehr als bedrückend. Die Autorin gehörte zu einer der ersten, welche die Logik des »Friedensprozesses« durchschauten und als Mythos entlarvten. Für Hass ist die Besatzung ursächlich für die Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit der Palästinenser, die einige von ihnen zu ungeheuerlichen Taten treibt und zu Selbstmordattentätern werden lässt. Nicht die Gewalt sei Ursache des Terrors, sondern die israelische Besatzung; diese Nachricht will Amira Hass auch ihrem deutschen Publikum vermitteln, und dies ist auch bitter nötig. In einem Epilog für die deutsche Ausgabe geht sie nochmals auf die wirkliche Absicht des »Friedensprozesses« ein, nämlich »die militärische Besatzung durch ein sehr viel ausgeklügelteres System zu ersetzen, in dem zwar das Militär unsichtbar sein, Israels Kontrolle über das Leben eines anderen Volkes jedoch weiterhin erhalten bleiben würde«.
Es habe, so Hass, in den Jahren bis 2000 von Seiten der Palästinenser immer wieder Warnzeichen gegeben, die Unterdrückung nicht weiter fortzusetzen. Eine Kapitulation der Palästinenser würde weder Frieden noch Stabilität bringen. Die Warnungen bezogen sich auf vier Bereiche: die Fortsetzung des Siedlungsbaues, die totale Kontrolle des Lebens der Menschen und die Einschränkung der Bewegungsfreiheit, die Weigerung Israels, sich mit seiner Verantwortung für das Elend der Flüchtlinge auseinander zu setzen sowie die arrogante Haltung der israelischen Unterhändler.
Wenn jemand bis heute noch nicht verstanden hat, warum der »Friedensprozess« scheitern musste, so begreift er es spätestens nach der Lektüre dieses Buches. Die Autorin verleiht den Palästinensern, die in Israel als »Terroristen« dämonisiert werden, ein menschliches Gesicht. Hass´ lesenwertes Buch ruft die menschliche Seite des Nahostkonfliktes wieder in Erinnerung.
Auch das Buch von Baruch Kimmerling gehört zu den Ausnahmepublikationen über Israel. Kimmerling zählt zu den renommiertesten Soziologen des Landes und steht den »neuen Historikern« nahe. Geboren in Rumänien kam er 1952 nach Israel und begleitet seither die Politik des Landes aus kritischer Distanz. Der Autor beschreibt die israelische Politik als die eines fortwährenden »Politizids«, dessen Ziel es sei, »das Ende der Existenz des palästinensischen Volkes als soziale, politische und wirtschaftliche Größe« herbeizuführen. Der Politiker, der dies zu seinem ausschließlichen Lebensinhalt gemacht habe, sei der jetzige Ministerpräsident Ariel Sharon. Der erste Versuch habe 1948 mit der Vertreibung der Palästinenser im Rahmen der Staatsgründung begonnen, seine Fortsetzung fand er mit dem Massaker von Sabra und Shatila 1982 im Libanon und ist seit der Regierungsübernahme von Sharon in sein finales Stadium eingetreten. Seine Politik, so Kimmerling, werde das Wesen der israelischen Gesellschaft zerstören und die moralische Basis des jüdischen Staates im Nahen Osten untergraben. Unter Sharon sei Israel eine Kraft der Zerstörung geworden. Das Ergebnis sei ein doppelter »Politizid«, das Ende der Palästinenser, aber auf lange Sicht auch das Ende der jüdischen Gemeinschaft. Kimmerling sieht Israel auf dem Weg zum Faschismus, da man alles, was anders sei, als existenzielle Bedrohung ganz Israels und jedes einzelnen Israelis begreife. Was vor Sharon als undenkbar galt, nämlich die ethnische Säuberung als eines legitimen Lösungsansatzes für die demographischen Probleme Israels, sei zu einem »ausdrücklich anerkannten Bestandteil des alltäglichen politischen Diskurses in Israel geworden«. Dagegen müssen sich die Israelis durch zivilen Ungehorsam wehren, findet der Autor.
Für ihn ist Israel »eine militärische, wirtschaftliche, und technologische Supermacht«. Israel wurde »auf den Ruinen einer anderen Kultur aufgebaut, die dem Politizid und einer teilweisen ethnischen Säuberung zum Opfer fiel, auch wenn es dem neuen Staat Israel nicht gelang, die rivalisierende Kultur der »Eingeborenen« auszulöschen«. Anders als andere Staaten Afrikas, »konnten sich die Palästinenser und die arabischen Staaten ihrer Kolonialherren nicht entledigen«. Kimmerling beschreibt den Zustand seines Landes durch die Besatzung wie folgt: »Im Laufe der Zeit wurde dieser Zustand institutionalisiert, und Israel wurde von einer echten Demokratie zu einer Herrenvolk-Demokratie.« Ursprünglich wurde der Begriff für Südafrika geprägt, da dort Gesetze galten, die nicht von allen in Anspruch genommen werden konnten. »Die israelischen Gesetze sind zu Gesetzen eines Herrenvolkes geworden und die Moral zu einer Gutsherrenmoral ... Die israelische Regierung hat ein zweischneidiges Rechtssystem, zweischneidige Gesetze und eine Doppelmoral geschaffen.« Sharon und seine Ideologie seien Ausdruck einer Krise, die sich seit dem Beginn der Besatzung und Israels Umwandlung in eine Herrenvolk-Demokratie aufgebaut habe, so der Autor.
Kimmerling baut vor; er sei israelischer Patriot. Folglich schickt er seinen Ausführungen einen außergewöhnlichen Appell voraus: Er habe dieses Buch »voller Schmerz und Trauer verfasst. Es ist keineswegs mein persönliches Ziel, aus jüdischem Selbsthass Israel zu diffamieren, wie die meisten meiner politischen und ideologischen Gegner behaupten werden«. Mit diesem Buch wolle er einen weiteren Versuch unternehmen, »einem gütigen und humanistischen Volk die Augen zu öffnen, das die wahren Gefahren für Israel bis heute nicht erkannt hat«. In drei Kapiteln unterzieht Kimmerling die israelische Gesellschaft einer sehr kritischen, aber überaus realistischen Analyse. Seine Ausführungen kreisen immer wieder um Ariel Sharon.
Wie für Kenner schon bekannt, ist Sharons Vita mit Blut geschrieben. Der Autor lässt nochmals die Brutalität und Rücksichtslosigkeit des heutigen Premiers, aber auch seine Verschlagenheit und politische Klugheit, für den Leser aufscheinen. Die jetzt gebildete Regierung weise einige Minister auf, die offen für einen »Transfer« oder ethnische Säuberung der Palästinenser plädieren. »Die eskalierende rassistische Demagogie gegen die palästinensischen Einwohner Israels weist auf die Dimension der Verbrechen hin, die vielleicht bereits geplant oder in Erwägung gezogen werden, als warte man nur auf den richtigen Moment, um sie umzusetzen.« Auch was der Autor zur historischen Entwicklung des Landes schreibt, hebt sich vom Mythos, der die offizielle Historiographie Israels umgibt, erfrischend ab. Kimmerling vermittelt ein Israel-Bild, das nur zu realistisch ist und das man in Deutschland angesichts der Wunschvorstellungen über Israel und moralischen Befangenheiten nur als störend empfinden wird.
Amira Hass: Gaza. Tage und Nächte in einem besetzten Land. Aus dem Englischen von Sigrid Langhäuser, Beck, München 2003, 410 S., 24,90 EUR
Baruch Kimmerling: Politizid. Ariel Sharons Verbrechen gegen das palästinensische Volk. Aus dem Englischen von Dirk Oetzmann und Horst M. Langer, Diederichs, München 2003, 244 S., 19,95 EUR
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