Neuzugang vom Bosporus

Europa-Aspirant Türkei Für die USA geostrategisch unersetzbar - für die EU nicht verkraftbar

Nach der Kritik an der Bush-Administration und dem Wahlerfolg von Rot-Grün ist nun wieder Realpolitik angesagt - auch in Sachen EU-Zuwachs im Osten und Südosten Europas. Und da hat kein Geringerer als Hans-Ulrich Wehler, Professor emeritus an der Universität Bochum und durchaus so etwas wie ein spiritus rector der rot-grünen Regierung, durch seinen Einspruch gegen Aufnahmeverhandlungen mit der Türkei deutlich hörbar einen Stein ins Wasser geworfen. Die Botschaft in taz und Zeit war unmissverständlich: Für Wehler ist die Türkei kein Teil eines Kontinents, der durch die jüdisch-römisch-griechische Antike geprägt sei - ein türkischer Beitritt zur EU käme einem politischen Masochismus gleich. Laut Wehler habe Deutschland kein Ausländer-, sondern ein Türkenproblem, die Muslime seien nicht integrierbar. Mit einer Aufnahme Ankaras hole man sich freiwillig Sprengstoff ins Land. Beitrittsgespräche mit diesem "muslimischen Großland" würden die Euroskepsis derart anfachen, dass der modus operandi der Union in Frage gestellt wäre.

Derartige Auskünfte sind für einen erklärtermaßen linksliberalen Professor ungewöhnlich, wird doch mit klar ethnozentrischer Begrifflichkeit hantiert und auf mutmaßlich tiefsitzende, latent antitürkische Ressentiments unter den Deutschen reflektiert. Fungiert Wehler als Minenhund Gerhard Schröders, um Integrationsbefürworter innerhalb des grünen Partners aufzuspüren und vom Platz zu schicken? Die jetzigen Thesen stehen jedenfalls in völligem Widerspruch zu Auffassungen, die von der gleichen Person noch in den sechziger und siebziger Jahren vertreten wurden. In seinem Standardwerk Krisenherde des Kaiserreiches hatte Wehler noch massiv für Minderheiten Partei ergriffen, so dass die Frage entsteht: Will er urplötzlich sein gesamtes Lebenswerk revidieren?

Beim Weg der Türkei in die EU sind zu aller Letzt Ressentiments gefragt. Es geht nicht um pro- oder antitürkisch, sondern darum, ob eine Aufnahme in deutschem oder europäischem Interesse liegt. Es müssen nationalstaatliche, supranationale und geostrategische Interessen nüchtern abgewogen werden. Das Argument, die Türkei sei muslimisch, sollte dabei keine Rolle spielen.

Auch wenn das "Projekt Europa" einen globalen friedenspolitischen Impetus beansprucht, kann es nicht im Interesse der EU liegen, eine grenzenlose Integration gutzuheißen. Der EU-Gipfel von Nizza Ende 2000 hat erkennen lassen, die Grenzen der Handlungsfähigkeit - der Belastbarkeit - sind bereits erreicht. Die Union ist schon heute als Gemeinschaft außenpolitisch irrelevant - man mag nicht an jenen Zustand denken, der mit zehn weiteren Mitgliedsstaaten erreicht sein wird. Um es zynisch zu formulieren: Wer das Ende der EU als politisches Projekt herbeisehnt, muss für unbeschränkte Neuzugänge plädieren. Natürlich lässt sich zu Recht einwenden, warum sind Rumänien, Bulgarien und Zypern willkommen, die Türkei aber nicht? Warum aber dann nicht auch Weißrussland, die Ukraine, Russland aufnehmen?

Die 1999 an Ankara ergangene Offerte aus Brüssel war ein politischer Fehler. Die EU hätte sich nicht dem Druck der Amerikaner beugen sollen, die andere Interessen verfolgen als die Westeuropäer. Die Türkei spielt für die Geostrategie der USA eine entscheidende Rolle im Nahen Osten und in Zentralasien - nicht zuletzt als Frontstaat gegen Irak und Iran. Wider alle ökonomische Vernunft wurde soeben beschlossen, die Ölpipeline vom Kaspischen Meer durch Georgien bis zum türkischen Mittelmeerhafen Ceyhan zu bauen. Quasi ein Vorschuss für unbedingte Loyalität.

Für die EU sind ähnliche Wohltaten ein unbezahlbarer Luxus. Wie der Gipfel von Nizza gezeigt hat, sind allein Frankreich und Spanien nicht im geringsten bereit, bis 2006 finanzielle Abstriche bei den Agrarsubventionen hinzunehmen - was soll dann die Türkei auf dem europäischen Agrarmarkt? Die Ehrlichkeit gebietet es also, auf dem nächsten EU-Gipfel in Kopenhagen der Türkei reinen Wein einzuschenken. Trotz aller Reformbemühungen kann das Land nicht Vollmitglied werden. Nicht nur, weil seine inneren Reformen eher kosmetischer Art waren, Minderheiten weiter diskriminiert werden und derzeit fundamentalistische Strömungen wieder Zulauf haben, sondern ein Beitritt ökonomisch schlichtweg nicht verkraftbar wäre. Stattdessen sollte Ankara auf diverse Handels- und Zollpräferenzverträge mit der EU rechnen dürfen, um die Bindung an Europa zu pflegen. Ansonsten aber ist es fünf Minuten vor Zwölf, um über Europas Grenzen und die Finalität der Integration ernsthaft zu diskutieren - Kopenhagen sollte dazu ein Auftakt sein.

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