Am Bahnsteig in Riga wartet ein langer safrangelber Zug auf seine Abfahrt. Es ist früh am Abend. An den Türen haken Schaffner mit orangen Handschuhen Namen auf Listen ab oder informieren die Passagiere. „Sankt Petersburg, ja, weiter vorne!“ Hinter den spitzenbesetzten Gardinen im Zug richten sie sich ein. Es ist ein Waggon der dritten Klasse, „Platzkart“, mit mehr als fünfzig Liegen, die in einem offenen Raum stehen. Einige Passagiere ziehen sich Hausschuhe an, packen Essensvorräte aus – fünfzehn Stunden wird dieser Zug sie durch die Nacht tragen.
Es sind einfache Leute, die so von Riga nach Sankt Petersburg reisen – und überwiegend Angehörige der russischen Minderheit, die heute etwa 25 Prozent der lettischen Bevölkerung ausmacht. Lettland feiert dieses Jahr hundert Jahre Unabhängigkeit vom russischen Reich. Auf die Abgrenzung vom großen östlichen Nachbarn, der ab 1940 nochmals für ein halbes Jahrhundert die baltischen Staaten besetzt hat, ist man in der jungen Republik stolz. Den russischen Letten dagegen hat diese Grenze das Leben nicht leichter gemacht. Sie leben zwischen den Stühlen. Auf dieser Strecke kann man das miterleben.
Langsam gleitet der Zug aus der Stadt hinaus, vorbei an Jugendstilhäusern, dann Plattenbauten, deren erleuchtete Fenster unregelmäßige Muster bilden. Die Schaffnerin geht durch den Waggon. „Staatsbürgerschaft?“, fragt sie und teilt je nach Antwort Formulare aus.
Prüfung und Perestroika
„Russisch“, antwortet Natalja Semjonowa, die mit ihrem Mann an einem der mittleren Tische sitzt. Sie fahren ihre Schwester in Russland besuchen. Semjonowa, in den Fünfzigern, energische Gestalt, flachsblonde Haare, lebt in Lettland, den lettischen Pass hat sie aber nicht. „Meine Familie ist nach Lettland gekommen, als ich noch klein war“, erzählt sie. Wie die meisten russischen Letten sind ihre Eltern in die Sowjetrepublik zum Arbeiten gekommen. Als Lettland 1991 wieder unabhängig wurde, beschloss es allerdings, nur jenen Einwohnern die Staatsbürgerschaft zu geben, die oder deren Vorfahren bereits 1940 lettische Bürger waren. Die anderen – überwiegend Russen – mussten sie beantragen und eine Prüfung in lettischer Sprache und Geschichte ablegen.
Für Natalja Semjonowa war die Sprache das Hindernis. „In meiner Schule wurde kein Lettisch unterrichtet“, erklärt sie. „Später habe ich am nationalen Luftfahrtinstitut gearbeitet, wo nur Russisch gesprochen wurde. Wo soll ich Lettisch gelernt haben?“ Und dann die Perestroika! „Bin ich daran schuld?“ Aufgrund der sowjetischen Russifizierungspolitik hatten viele eingewanderte Russen zunächst nicht das Bedürfnis, die lettische Sprache zu lernen. Der neue Staat stellte sie dann vor die Bedingung. „Wenn sie wollen, dass die Russen, die bei ihnen leben, Lettisch lernen, dann sollen sie Kurse anbieten“, findet Natalja Semjonowa. „Ich war arbeitslos. Sollte ich für Kurse zahlen und nichts mehr essen?“ Sie spreizt die Hände, sodass der Perlmuttnagellack glitzert. Dass sie jetzt die russische Staatsbürgerschaft angenommen hat, liege auch daran, dass sie mit den Lebensbedingungen in Lettland unglücklich sei. Ihr Mann Juri, mächtige Statur und Panzerkette um den Hals, arbeitet wie viele Letten im Ausland. In England, im Sicherheitsdienst. „Wir wohnen nur in meinem Urlaub zusammen. Wie soll man so leben?“, sagt er mit düsterem Blick. „In Lettland ist es jetzt sehr schwierig“, bekräftigt Natalja Semjonowa. „Die Steuern sind wahnsinnig hoch, es gibt keine Arbeit, und die Preise ...“ Sie überlegt nun, nach Sankt Petersburg zu ziehen. Dort sei es besser, glaubt sie.
Der Zug hält in Rēzekne, einer Kleinstadt im Osten Lettlands. Ein Paar mittleren Alters steigt mit großen Tragetaschen in den Zug. Die Frau hat bronzefarbenes Haar, das über der Stirn eine breite Welle bildet. Der Mann wirkt kränklich. „Na, dann packen wir mal aus“, sagt sie zu ihm. Sie zieht die Wollsocken aus der Tasche, die Tüte mit dem Abendessen. Dann die Taschen unter die Liege. „Fertig, oder?“
Die Schaffnerin kommt vorbei. „Staatsbürgerschaft?“ – „Keine.“ Die Schaffnerin verzieht keine Miene, während sie ihnen beide Formulare zum Ausfüllen reicht. Olga Akiefjewa und ihr Mann gehören zu den etwa zwölf Prozent der lettischen Bevölkerung – größtenteils ethnische Russen –, die bis heute staatenlos sind. „Nichtbürger“, wie es in Lettland heißt. Sie müssen die Formulare beider Länder ausfüllen. „Aber dafür brauchen wir für Russland kein Visum“, sagt Akiefjewa, die mit ihrem Mann für eine ärztliche Behandlung nach Sankt Petersburg fährt.
Die russische Föderation gewährt den Nichtbürgern, anders als den Letten, eine visumsfreie Einreise, wie allen Staatenlosen, die früher Bürger der Sowjetunion waren. In den meisten anderen Ländern ist das allerdings umgekehrt. Olga Akiefjewa, die im Osten Lettlands ein Kinderheim leitet, und ihr Mann gehören zu jenen, die das Gesetz von 1991 besonders hart getroffen hat. „Ich bin in Lettland geboren“, sagt sie mit Trotz in der Stimme. „Mein Mann war drei, als seine Eltern nach Lettland kamen.“
Anspruch auf die Staatsbürgerschaft haben sie nicht, da sich ihre Eltern erst in den fünfziger Jahren auf dem heutigen Staatsgebiet niedergelassen hatten. Sie können nicht wählen gehen, bestimmte öffentliche Ämter nicht ausüben, aber sie könnten den Antrag auf die Staatsbürgerschaft stellen. Doch der Aufwand schreckt sie ab. „Wir haben mit der Arbeit schon genug zu tun.“
Olga Akiefjewa hat ihr Leben lang in einer staatlichen Stelle gearbeitet, sie müsste in Lettland ein Verfahren durchlaufen, eine Prüfung ablegen, eine Gebühr zahlen und sich ein Gesundheitszeugnis besorgen, um Staatsbürgerin zu werden. Sie empfindet das nicht als angemessen. Stört es sie, dass sie nicht wählen gehen kann? Sie zuckt mit den Schultern. „Wir haben uns wahrscheinlich daran gewöhnt“, sagt sie. Ihre Kinder immerhin haben mittlerweile die lettische Staatsbürgerschaft, da sie nach 1991 geboren sind.
Nicht alle baltischen Staaten stellten ihre russische Minderheit vor so harte Bedingungen. Ein paar Tische weiter sitzt eine ältere Dame, ihr langer silberner Zopf fällt über die lilienverzierte Bluse. Zoya Michailowna hat schon einen längeren Weg hinter sich – sie besuchte ihren Enkel im litauischen Vilnius, der Stadt, in der sie selbst über vierzig Jahre lang gelebt hat. Auch wenn sie heute in Sankt Petersburg lebt, reist sie mit litauischem Pass. Litauen war 1991 großzügig zu seinen damals knapp 10 Prozent ethnischen Russen. Alle, die während der Unabhängigkeit im Land lebten, haben die Staatsbürgerschaft bekommen.
Mit ihren 85 Jahren hat Zoya Michailowna einiges in dem Jahrhundert miterlebt, auf das die baltischen Staaten jetzt blicken. Geboren ist sie im weißrussischen Vitebsk. „Meine Mutter war Weißrussin, aber mein Vater war russischer Militär“, erzählt sie. „Er wurde ständig versetzt, wir lebten in Polen, dann im Altaigebirge.“ Ihre Familie mütterlicherseits blieb in Vitebsk, bis die Stadt mit ihrer großen jüdischen Gemeinde von den Nazis wie kaum eine andere verwüstet wurde. „Das Haus meiner Verwandten ist abgebrannt, da sind sie geflohen. Nach dem Krieg haben wir sie gesucht und in Vilnius gefunden. Und sind auch hingezogen.“ Nun lebt sie seit einigen Jahren in Sankt Petersburg, wo ihre Tochter studiert und geheiratet hat. Doch die litauische Staatsbürgerschaft hat sie behalten. „Ich dachte, vielleicht gehe ich noch mal zurück“, sagt sie. „Außerdem habe ich ja in Litauen 42 Jahre lang gearbeitet und bekomme jetzt von dort auch meine Rente.“ In Russland lebt sie mit Aufenthaltsgenehmigung, den Pass hat sie nicht beantragt. „Ach, wozu brauche ich denn die russische Staatsbürgerschaft? Ich bin ja nicht Putin, muss nicht in die Duma!“
Es ist spät geworden. Manche Passagiere haben sich in filzige Wolldecken eingewickelt. Die Schaffnerin macht wieder die Runde. „Dokumente vorbereiten, in zehn Minuten sind wir an der Grenze“, kündigt sie an.
Hoch den Wodka
Der Zug hält zunächst auf der lettischen Seite, in Zilupe. Auf den Tischen liegen die Reisedokumente. Lettische, russische und „Nichtbürgerpässe“. Identitäten, über die die Grenzbeamten ihre fellbesetzten Mützen beugen. Die Nichtbürger bekommen einen Stempel in ihren Pass. Wer mit Visum in Lettland war, muss seinen Finger auf einen Sensor drücken. Die Zollbeamtin geht durch den Waggon. Zwei ältere Damen in Blümchenjogginghosen deklarieren eine Flasche Wodka und Balsam, den lettischen Bitterlikör. Schläfrig setzt sich der Zug wieder in Bewegung. Eine halbe Stunde später hält er im russischen Sevesch.
Die russischen Grenzbeamten tragen schwarze Schiffchen mit roter Kokarde. „Sitz ruhig“, raunt Olga Akiefjewa ihrem Mann zu. Die ausländischen Pässe werden eine Weile inspiziert. Für die russischen Staatsbürger ist es jetzt einfach. „Gute Reise“ heißt es nach einem kurzen Blick. Das Licht wird gedimmt, in den Nischen zu beiden Seiten des Gangs sieht man jetzt nur noch Füße, die Menschen eingewickelt in weiße Laken wie Mumien. Im Zug fließen die Grenzen. Unbeirrt schlängelt er sich weiter durch die Ebenen, jetzt nach Norden.
Und dann ist der Morgen gekommen. Hinter dem Fenster haben sich Birkenwälder bereits in dünn besiedelte Peripherie verwandelt. Während sich manche Passagiere noch aus den Laken räkeln, sitzen andere schon abholfertig in Mänteln und Mützen da. Allmählich bildet sich durch den Gang eine Schlange. Und dann steht der Zug. Auf dem Bogen des Bahnhofsgewölbes steht „Sankt Petersburg“.
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