Die weißhaarige Dame mit Dutt liest ein gereimtes Gedicht vor, in dem sie erklärt, dass sie keine Dame ist und auch noch nie eine sein wollte, aber immer für eine gehalten wird. Die Dame, die also laut eigenen Angaben keine ist, heißt Eva Avi-Yonah und wurde 1921 in Wien geboren. Der Wiener Einschlag ist auch noch gut zu hören. Der Lyris-Kreis, jaja, das wurde in den Achtzigern gegründet, sagt sie, Freunde waren das, und man war auch zunächst in einer anderen Jerusalemer Schreibgruppe, in der man Gedichte auf Englisch schrieb. Da haben sie sich gedacht: Wir könnten ja auch einen deutschen Lyrikkreis gründen. Früher traf man sich bei ihr, als auch noch mehr aus ihrer Generation beisammen waren. Beisammen sind die jetzt sozusagen immer noch, sagt Eva, bloß halt auf dem Friedhof. Und sich bei ihr treffen, das ginge nun sowieso nicht mehr, und auch um den Garten könne sie sich nicht mehr kümmern, allerdings habe sie ja noch einen Balkon mit Pflanzen drauf, das sei auch ganz schön, aber nun sei sie müde, das sei nun schon ein bisschen viel, alles.
Die Treffen finden jetzt bei Yvonne Livay statt. Im Nebenzimmer hört man ihre Enkelkinder spielen, die gifted children sind, wie sie gerne betont, und drei Sprachen sprechen: Englisch, Ungarisch und Hebräisch. Livay liest aus ihren Gedichten, die schmal und hoch aussehen, wie Türme, und das schreibt der Verlag auch auf den Buchrücken: Worttürme. Außerdem wird viel mit Substantiven gearbeitet, gern auch mit Begriffen wie Licht und Schatten. Livay spricht Deutsch mit Schweizer Akzent, denn als ihre Mutter, eine polnische Jüdin, einmal in der Schweiz bei Verwandten war, ist sie gleich dort geblieben und hat schnell geheiratet: Das war 1938. Der ganze Rest der Familie ist umgekommen. Das machte, dass Yvonne als Kind ständig davon hörte, wie das war, mit den Juden in Deutschland. Und wie sie gestorben sind, und was man mit ihnen gemacht hat, und was man mit den Häuten gemacht hat, und was man mit den Zähnen und mit den Haaren gemacht hat. Es gab bei der Familie eine Schatulle mit Briefen, die die Großmutter aus dem KZ geschickt hatte. Das war alles. Das war wie eine Urne. Eigentlich war es eine Urne, und Yvonne ein Kind, das immer ziemlich schlecht schlief, und ständig lag die gefühlte Schuld der Mutter, eine Davongekommene zu sein, auf der Familie. Spät erst hat Yvonne Livay angefangen, Gedichte zu schreiben und zu publizieren, sowohl auf Hebräisch als auch auf Deutsch. Ein Freigelege der Sedimente, die eigentlich nicht freizulegen sind, die vielleicht auch gar keine Sedimente sind, weil sie aus etwas bestehen, das schon lange nicht mehr da ist.
Zwiegespaltene Existenz
Hannah Szpirglas heißt eigentlich Hannelore und kommt ebenfalls aus der Schweiz. In ihrer Familie wurde darüber nicht gesprochen, deshalb weiß sie auch gar nicht genau, woher ihre Mutter stammt und ob und was passiert ist. Aber, sagt Hannah, auch ohne dass darüber gesprochen wurde, habe sie als Kind immer gespürt, dass irgendetwas mit ihr und ihrer Familie anders war als mit den anderen in dem Dorf. Bis sie erfuhr, dass ihre Mutter ursprünglich Jüdin ist. Die Auseinandersetzung mit dem eigenen Judentum gab ihr die Identität, nach der sie sich gesehnt hatte. Und Israel ist ihre Heimat, obwohl sie, wie die meisten in der Runde, mit der aktuellen Lage nicht einverstanden ist, das Leben in Jerusalem anstrengt und die gesamte Existenz sich zwiegespalten anfühlt, nicht zuletzt der Zweisprachigkeit wegen. Eine Zweisprachigkeit, die ja dem Juden eigen sei, sagt sie, wie dem Menschen seine beiden Nasenlöcher, Lungenflügel und so weiter. Hannah arbeitet als Übersetzerin; von Literatur, aber auch privaten Briefen. Es geht um das Nachforschen, Konservieren, Zusammenbringen: Des Vergangenen und Gegenwärtigen, Schwarzen und Weißen. Darum, von der aussterbenden Generation an die nachkommende zu übersetzen, damit diese wiederum verstehen kann. Hannah hilft auch älteren Lyrismitgliedern bei dem, was die Arbeit an einem Gedichtband alles mitbringt: Abtippen, Besorgungen, Korrespondenzen, mitunter Krankenpflege.
Sie liest einige Gedichte der abwesenden Ilana Shmueli vor, die bereits seit einiger Zeit im Krankenhaus liegt, wo sie trotzdem an einem neuen Lyrikband und einer CD arbeitet, auf der neben einer Auswahl von Gedichten auch autobiographische Texte zu hören sein sollen. Darin gehe es viel um Czernowitz, Shmuelis Heimatstadt, und um ihre Freundschaft mit Paul Celan, den sie von Jugend an kannte, und mit dem sie ausgerechnet im Czernowitzer Ghetto ständig über deutsche Literatur sprach. Die Freundschaft riss dann über 20 Jahre ab, bis zu Celans Jerusalembesuch, auf den sein letzter Gedichtzyklus rekurriert. Durch die Übersetzung dieser letzten Gedichte Celans kam auch sie selbst zum Schreiben. Sehr spät erst, da war sie schon siebzig. Ihre Gedichte sind ebenso klar wie karg, und die meisten poetologisch – getrieben also von der Sehnsucht nach einer Sprache, die gelebt ist, nicht abstrakt und nicht halb: Lass mich noch einmal die Dinge/bei den rechten Namen nennen/mit Kinderworten.
Der 1922 geborene Autor und Bildhauer Manfred Winkler kommt wie Shmueli ebenfalls aus der Bukowina, aus Putila, und wie Shmueli veröffentlicht er Lyrik beim Aachener Rimbaud-Verlag. Mit seiner Frau Herma wohnt er in den Bergen bei Jerusalem. Von dort aus schafft er es ebenfalls nicht mehr zu den Treffen. In den Kriegsjahren verlor er sowohl im Zuge der Deportationen der Deutschen als auch der „Umsiedelungen“ der Kommunisten seine gesamte Familie. 1959 erst machte Winkler Aliyah, wanderte nach Palästina aus, denn so lange dauerte es, bis ihm erlaubt war, aus Rumänien auszureisen, wo er zehn Jahre lang lebte, arbeitete und schrieb. Mit einem Mantel und einem Hut, beschreibt Herma Winkler ihren Mann, wie in Europa, so ist er hier angekommen. Und dann so in den Kibbuz Beit Alfa gefahren. Ein Bild für die Götter sei das gewesen.
Jeckes wurden die korrekt gekleideten deutschen Einwanderer damals genannt – manche vermuten, es käme von dem Wort Jacke. Im Kibbuz blieb Winkler nur ein Jahr. Die Erfahrungen, die er im Ostblock mit dem Kommunismus machte hätten ihm gereicht. In Jerusalem besuchte er den Sprachkurs Ulpan, der den Einwanderern in kürzester Zeit ein alltagstaugliches Hebräisch beibrachte, und nach wenigen Monaten schrieb er sein erstes hebräisches Gedicht. Und gewann sofort Preise. Manches macht, dass ich auf Deutsch schreibe, manches, dass ich auf Hebräisch schreibe, sagt er. Alles ist irgendwie in Verbindung. Und jetzt werde ich dir vorlesen, was ich erlebt habe, als ich hier ankam. Nix, nämlich. Alles und nix.
Was er vorliest, ist ein Auszug aus einem Brief an seinen Freund, den siebenbürgischen Autor Hans Bergel. Die Korrespondenz der beiden wird demnächst im Berliner Verlag Frank Timme erscheinen: „1962 erschien der erste selbstständige Lyrikband (auf Hebräisch). Er war innerhalb von 6 Wochen vergriffen. Im Alter von 40 Jahren wurde ich zu einer Art Wunderkind der hebräischen Literatur. Trotz der fast unsäglichen Schwierigkeiten waren es die glücklichsten Jahre meines Lebens, nicht allein das Gefühl der Freiheit beherrschte mich, sondern auch die Gewissheit, endlich in einem Land Boden unter den Füßen zu haben. Ich war ununterbrochen inspiriert. Die äußeren und inneren Schwierigkeiten wirkten befruchtend auf mich. Die Dynamik, die das Land beseelte und vorantrieb, machte mich besessen.“
Die Erfahrung des Exils
Bei Lyris war Winkler mehr oder weniger von Anfang an dabei. Da gibt es auch nicht viel zu erzählen, sagt er, das kann man ja alles auch nachlesen. Eine Gruppe eben, die sich träfe. Man kommt zusammen, liest und hört sich zu. Vieles wird besprochen, vieles aber auch nicht. So sei das eben. Von einem gleichen Stil, einem einheitlichen Ton oder gar gemeinsamen Codes könne man nicht sprechen, schließlich seien sie alle aus unterschiedlichen Gegenden, ja, Ländern, sogar die gemeinsame Sprache sei doch verschieden. Schau, Eva kommt aus Wien und spricht wienerisch, zählt er auf, bei Yvonne hört man das Schweizerische, einige kamen auch aus der Tschechoslowakei, und Herma und ich sprechen Bukowiner Deutsch, wie ja auch die Ilana.
Gemeinsam ist und bleibt allerdings die Erfahrung des Exils, oder auch der neuen Heimat – eine Heimat, in der man allerdings auf der Straße nicht mehr die Sprache der anderen, vergangenen Heimat sprechen durfte, ohne komisch angesehen zu werden. Deutsch, die Sprache der Mörder, war tabu. So weigert sich der Sohn von Eva bis heute, Deutsch zu sprechen, so sehr wurde er im Kindergarten wegen dem Deutsch, das er zu Hause gelernt hatte, ausgegrenzt. Und bis heute, erzählt Hannah, kann man auf den Straßen Jerusalems Stapel deutscher Bücher retten, aus denen sich ganze Lebensläufe erschließen lassen: Poesiealben, Studienunterlagen und Literatur. Und alte Leute gibt es, die über Nacht das in der Jugend angeeignete Hebräisch vergessen und plötzlich wieder Deutsch sprechen, und für die sie nun übersetzen muss: Weil die Kinder und Enkel die Sprache nicht mehr beherrschen.
Aber außer der Sprache der Mörder war das Deutsche ja immerhin auch noch die Sprache der Kindheit und Herkunft, in der man trotz allem die ganze Zeit lebte, schrieb und sich erinnerte. Mit der sich eine Vegetation beschreiben lässt, die in Israel gar nicht existiert. Und so beiläufig und bildhaft der Ton dieser Texte oft ist, umso mehr Raum nimmt das Abwesende und Ausgelassene ein, und zwischen und während der Vorträge ist es sehr still im Raum. So sehr, scheint es, sind alle mit Sprache und Geschichte der anderen vertraut, dass es keiner Erklärung und Diskussion mehr bedarf. Dieser Austausch von Sätzen und Bildern ist es, der Außenstehenden wie ein Code erscheinen mag, und vielleicht kommt hier dem Schreiben und Vorlesen, der Existenz der Gedichte überhaupt, eine ganz eigene Funktion zu, die mehr verhandelt, als es ein bloßes Verhandeln der Textoberfläche vermögen würde.
Sicher, sagt Hannah, es gibt ab und zu junge Leute, die zu Lyris kommen, zuhören und sich auch einbringen, aber die sind oft genauso schnell wieder verschwunden. Und Winkler sagt: Über Lyris willst du schreiben? Tja, da bist du zu spät gekommen.
Luise Boege hat am Deutschen Literaturinstitut Leipzig studiert
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