Westliche Außenpolitik als Dynamik von Eltern und Kind

Das Beispiel Mali Der Westen ignoriert die grundlegende Freiheit instabiler Staaten – und erschwert gerade durch seine Infantilisierungsstrategie die nachhaltige Stabilisierung dieser Länder und ein gesünderes internationales Staatenwesen.

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Erneut steht der Westen kurz vor dem Trümmern eines kostspieligen, facettenreichen Auslandseinsatzes. Knapp ein halbes Jahr nach dem Desaster des überstürzten Abzugs aus Afghanistan und der (un)freiwilligen Machtübergabe des Landes an die Taliban scheint dem Westen, insbesondere Frankreich, das gleiche Schicksal im westafrikanischen Mali bevorzustehen.

Seit 2013 engagiert sich Frankreich militärisch in Mali, vorwiegend, um die Präsenz von islamistischen Milizen zurückzudrängen, die die Stabilität einer Vielzahl westafrikanischer Länder bedrohen. Frankreichs Mission beschränkt sich nicht nur auf Mali, sondern umfasst 5 Länder der Sahel-Zone. Außerdem wird Frankreichs Einsatz durch je eine Mission der Vereinten Nationen (Minusma) sowie der Europäischen Union (EUTM) flankiert – zwei der vieldiskutierten Auslandseinsätze der deutschen Bundeswehr. Seit geraumer Zeit kann mit Blick auf die eigentlichen Einsatzziele, das Zurückdrängen der Islamisten, die Stabilisierung Malis sowie die Ausbildung malischer Sicherheitskräfte, nicht vom Erfolg der Missionen gesprochen werden. Nun ist die Situation aber auch diplomatisch eskaliert: Mali hat den französischen Botschafter ausgewiesen, nachdem Frankreichs Außenminister grundlegende Kritik an der malischen Regierung, insbesondere seiner Legitimität, geäußert hatte. Der Hintergrund: im Sommer 2020 putschte das Militär und übernahm die Regierungsgeschäfte. Wahlen sind nun erst für in 5 Jahren vorgesehen. Die Zusammenarbeit zwischen Frankreich und der Militärregierung Malis steht jetzt vor dem Ende: Am 17. Februar haben die Franzosen das Ende ihrer Einsätze in Mali bis Juni 2022, wenn auch nicht in der ganzen Sahel-Zone, angekündigt. Es ist folglich unsicher, ob die internationalen Missionen in Mali fortgesetzt werden können. Die vom Bundestag sanktionierten Bundeswehreinsätze sind aktuell bis Ende Mai 2022 beschränkt, eine Verlängerung ist nach Äußerungen der aktuellen Bundesregierung aber nicht sicher.

Wahrscheinlich wird der Westen also erneut einen weitgehend erfolglosen Einsatz in einem politisch instabilen „Dritte-Welt“-Land verbuchen müssen. Die Misserfolge westlicher Stabilisierungseinsätze häufen sich damit weiter. Das liegt auch an einem Grundproblem westlicher Außen- und „Entwicklungs“-Politik gegenüber instabilen Staaten des „globalen Südens“. Der Westen verharrt, durch sämtliche Entwicklungsschritte von Kolonialzeit über Strukturanpassungsprogramme der Weltbank und des Internationalen Währungsfonds über Entwicklungshilfe über Militärinterventionen bis hin zu heutigen militärischen Ausbildungs- und Unterstützungsmissionen, in der grundlegend gleichen, destruktiven Haltung:

Er infantilisiert nicht-westliche, instabile Staaten und behindert sie folglich daran, eigenständige, erwachsene Akteure zu sein.

Diese These hat offensichtliche Anknüpfungspunkte an aktuell moderne Theorien, die das Verhältnis vom Westen zum „globalen Süden“ durch den Blickwinkel von Rassismus und westlichem Hegemoniestreben betrachten. An dieser Stelle soll der Fokus aber auf einem anderen Punkt der Problematik liegen, der eine eigentlich psychologische Dimension hat.

Denn zwischen Westen und Nicht-Westen hat sich meiner Auffassung nach eine destruktive Dynamik von überkontrollierenden Eltern und abhängigen Kindern verfestigt. Infolge dieser Dynamik entwickelt sich ein gegenseitiges Verhältnis, das von beiderseitiger Abhängigkeit sowie Vergiftung der emotionalen Beziehung geprägt ist. Das kommt wie folgt: Die Eltern haben in einem solchen Beziehungsmuster ein sehr festes Verständnis davon, was gut für ihr Kind sein würde. Der Westen hat entsprechende Vorstellungen davon, wie vernünftige Staatlichkeit etwa in Mali aussehen würde. Statt dem Kind zu erlauben, sich eigenständig zu entwickeln, haben die Eltern aber Sorge, dass das Kind die Erwartungen eigenständig nicht erfüllen kann und später mal, salopp gesagt, im Gefängnis oder auf der Straße landet. Folglich wird es nicht in die Selbstständigkeit entlassen, sondern alles getan, um den Kind die eigenen Aufgaben abzunehmen. Dabei werden gleichzeitig aber dennoch Erwartungen an das Kind formuliert. Im Falle Malis etwa: Abnahme der Aufgaben durch milliardenschwere Wirtschaftshilfen über Jahrzehnte und Erledigung der sicherheitspolitischen Herausforderungen, gepaart mit der Kommunikation, dass man demokratische Regierungsführung und Befriedung gesellschaftlicher Konflikte erwartet. Weiterhin sind die Eltern frustriert ob ihres eigenen, großherzigen Einsatzes, der nicht mit ausreichend Dankbarkeit und vor allem Resultaten gewürdigt wird. Das Kind schämt sich währenddessen seines Verbleibens in der Kindesrolle und ist gefangen zwischen Gefühlen der Dankbarkeit sowie Verbitterung gegenüber den Eltern. Dazu gesellen sich ein Gefühl des Selbsthasses aufgrund der fehlenden Selbstwirksamkeit.

So können die Eltern nicht mehr ohne das Kind, und das Kind nicht mehr ohne die Eltern; eine ungesund aufgeladene, ambivalente Beziehung nimmt seinen Lauf. Das Kind fühlt sich zudem meist ungerecht behandelt und fordert Besserung, wünscht sich aber gleichzeitig, sich der Eltern zu entledigen. Dennoch kann das Kind nicht aus seiner erlernten Kindesrolle hinaus. Mali schaut sich gerade, während sie dabei sind, das Elternteil Frankreich und den Westen von sich zu weisen, bereits nach neuen Eltern in Moskau um. Der Westen ist ebenfalls bereit, die nächsten „Waisen“ der Region als Kinder zu adoptieren, die man schon ein wenig unter die Fittiche genommen hat: Burkina Faso, Niger, Nigeria, Kamerun. So führt die Dynamik meist zum Gegenteil dessen, was beabsichtigt wurde: Die Beziehung zwischen Eltern und Kind geht vollends kaputt. Die Eltern bleiben enttäuscht vom Kind und sich selbst zurück, während das Kind nicht weiß, wer es sein will. Dieses Muster passt ebenfalls auf das Geschehen in Afghanistan, und ist im Begriff, sich in der Sahelzone zu wiederholen.

Warum passt die psychologische Theorie von Eltern und Kind gut auf das Verhältnis von Staaten? Weil auch in der internationalen Politik berechtigterweise die Rede ist von Akteuren, in Form von souveränen Nationalstaaten, die untereinander Beziehungen haben. Dafür grundlegend ist die Überzeugung, dass Völker ein ihnen nicht absprechbares Selbstbestimmungsrecht haben: vielleicht die entscheidende, universelle Grundlage des internationalen, zwischenstaatlichen Rechts. Dabei ist, ebenso wie in Beziehungen zwischen individuellen Menschen, folgendes der anzustrebende Standard: Das Sich-Begegnen als erwachsene Akteure auf Augenhöhe. Das setzt voraus, dass beide Seiten sich als Akteure ernstnehmen, und die Freiheit des jeweils Anderen achten.

In der gerade beschriebenen Dynamik achtet der Westen gerade nicht die Freiheit der Malier als Akteur – wenn auch nicht bewusst. Dies zu tun hieße, ihnen völlig zuzugestehen, sich frei und eigenverantwortlich zu entwickeln. Wenn Eltern ihr Kind auf richtige Weise behandeln, dann entlassen sie es in die eigene Freiheit, und verzichten darauf, ihr Kind davon abzuhalten, Fehler zu machen. Denn gute Eltern wissen, dass ihr Kind nur eine selbstständige Stimme entwickeln und von der eigenen Selbstwirksamkeit überzeugt werden kann, wenn es diese Fähigkeiten ausprobiert und erlernt.

Was also tun? Die Umkehr dieser Dynamik beinhaltet erstens, dass Eltern von ihrem Kind verlangen, sich als Erwachsene zu verhalten, und sie dadurch mit ihrer Verantwortlichkeit für sich selbst zu konfrontieren. Dies tun sie zum Guten ihres Kindes sowie ihrer Selbst. Es dient weder Eltern noch Kindern, wenn eine Co-Abhängigkeit besteht. Mali ist selbst für sein Schicksal verantwortlich – es tut weder Mali noch dem Westen gut, wenn dieser eigentliche malische Staatsaufgaben übernimmt.

Zweitens zeigt das Durchbrechen der Dynamik dem Kind, dass die Eltern das Kind nicht (mehr) als Kind betrachten. Sie zeigen, dass sie das Gegenüber als gleichwertig betrachten, und sie im vollen Sinne ernstnehmen. Ein solcher Respekt zwischen Partnern ist unabdingbar auf der Bühne der internationalen Beziehungen. Russland strebt unter Putin unter anderem wegen der Herabwürdigung zur „Regionalmacht“ durch Obama nach größerem Einfluss und Anerkennung. In Mali gibt es aktuell Proteste gegen die Präsenz der französischen Truppen sowie die internationalen Missionen. Auch in malischen Zivilgesellschaft zeigt sich zunehmend Frustration über die westliche Behandlung des eigenen Landes – eine Entwicklung, die über die Jahrzehnte in vielen Ländern des „globalen Südens“ zu beobachten war. Mit anderen Worten: Mali fühlt sich nicht ernstgenommen, sondern paternalistisch und ungerecht behandelt. Dabei steckt Mali aber fest in der Dynamik der co-abhängigen Beziehung: Das Land lamentiert generell die Bevormundung, kritisiert aber gleichzeitig, dass der Westen ihr Problem der dschihadistischen Bedrohung nicht lösen konnte.

Der Preis einer Beziehung auf Augenhöhe

Worauf muss man gefasst sein, will man eine Umkehr der Dynamik wagen? Diese hat einen Preis, mit dem zu rechnen ist, will man einen Paradigmenwechsel der westlichen Beziehungen zu „Entwicklungs“-Ländern einleiten. Es ist der gleiche Preis, den Eltern dafür zahlen, ihr Kind loszulassen: dem Kind dabei zusehen zu müssen, sich möglicherweise selbst sowie anderen zu schaden. Dabei wendet sich das Kind in dem, was es wird, nicht selten explizit gegen die Vorstellungen der Eltern. Auch dies gehört dazu, sie in die Unabhängigkeit zu entlassen. Der Westen, so wenig darüber explizit geschrieben wird, hat fürchterliche Angst davor, Mali und die Region in die Unabhängigkeit zu entlassen. Paternalistische Eltern haben Angst vor Kontrollverlust; denn sie fürchten sich davor, dass ihre Kinder eigentlich frei sind – sie fürchten die Freiheit. In diesem Anwendungsfall glaubt man, die Sahel-Zone würde unweigerlich von islamistischen Gruppen überrannt werden, sodass sämtliche Staatlichkeit im demokratischen Sinne zusammenbräche. Man fürchtet einen zweiten Islamischen Staat. Als Folge der Ungerechtigkeit und Unterdrückung in diesem „Staat“ würden an die Grenzen und Küsten Europas eine nie dagewesene Zahl von Flüchtlingen gelangen. Millionen weiterer Menschen würden folglich abhängig werden von westlicher Hilfe, ob aufgrund von Hungersnöten oder Kriegen in den entsprechenden Ländern, ob in Flüchtlingscamps der Vereinten Nationen oder in den westlichen Ländern selbst, in die sie migrieren könnten. Man fürchtet also vor allem weitere Verpflichtungen für sich selbst.

Das Problem geht aber noch tiefer. Der Westen zeigt durch die Aufrechterhaltung der Dynamik, dass er sich der eigenen Stabilität als Erwachsene nicht sicher ist. Denn Erwachsene, das ist Teil des Preises, den sie dafür bezahlen, ihren Kindern zu erlauben, Erwachsene zu werden, müssen sich im wahrsten Sinne des Wortes abgrenzen. Wenn ein Kind, das seine Freiheit nutzt, Drogen zu nehmen und Abhängige ins Elternhaus zu eskortieren, mit seiner Freiheit in die Freiheit der Eltern eindringt, ist es an den Eltern, an genau dieser Stelle eine Grenze zu setzen. Überkontrollierende Eltern aber fürchten, genau dies nicht tun zu können, wenn es einmal darauf ankommt. Sie vertrauen ihrer eigenen Kompetenz und Konsequenz nicht, sollte diese gefragt sein. Genauso traut sich der Westen selbst nicht zu, im eigentlichen Sinne Akteur zu sein, der anderen Akteuren die Grenzen aufzeigen kann. Auch deshalb wirkt er dermaßen unterlegen in der aktuellen Auseinandersetzung mit Russland. Grenzen-Setzen bedeutet hier, dass man als Erwachsener von anderen Erwachsenen verlangen kann, sich auch als Erwachsene zu verhalten, statt wieder gemeinsam in die alte Rolle zu rutschen; und von anderen Erwachsenen und sich selbst zu verlangen, von anderen und selbst gezogene Grenzen zu achten.

Die Formulierung des Grenzen-Setzens meint nicht, falls es Erwähnung bedarf, dass notleidenden Menschen Hilfe versagt werden, dass das Asylrecht außer Kraft gesetzt werden, oder dass sonstige inhumane Handlungen durchgeführt werden sollten. Eltern können ihren Kindern auf Abwegen durchaus Obdach gewähren. Eltern sollte aber aufhören, ihre Kinder als Kinder zu behandeln, wollen sie nicht auf ewig mit Kindern umgehen. An irgendeiner Stelle muss ein Schlussstrich, eine Grenze, gezogen werden. Dafür braucht es Entschlusskraft und Konsequenz. Wer keine eigentlich rote Linie hat, der verliert seine Ernsthaftigkeit: So geschehen in Obamas Unfähigkeit, seine eigens formulierte rote Linie bezüglich des Einsatzes von chemischen Kampfmitteln des Assad-Regimes ernstzunehmen. Die Mali-Episode westlichen Handelns kann ohne weiteres als ein Evidenzstück dafür gelten, dass es um die Entschlusskraft des Westens nicht gut steht.

Fehlendes Selbstvertrauen in den eigenen Grundsatz der Freiheit

Das Problem aus westlicher Perspektive ist also, die Infantilisierung von „Entwicklungs“-Ländern nicht lassen zu können. Man ist nicht bereit, diese Staaten als wirklich eigenständige Akteure zu betrachten und sich ihnen gegenüber auch so zu verhalten. So nimmt der Westen die grundlegende Charakteristik der Freiheit, auf der der Westen so viel hält, selbst nicht ernst. Er traut der Freiheit im tiefsten Inneren nicht über den Weg – weder der eigenen noch der der anderen. Das ist die eigentlich beunruhigende Erkenntnis der sich ankündigenden Mali-Episode sowie des Afghanistan-Desasters. Er erlaubt den Ländern, die er wie eine Glucke behütet, nicht, sich selbst als Akteur zu entdecken, mit allen Konsequenzen, die Verantwortung mit sich bringt. Das ist die aktuelle, eigentliche Tragik des Westens: er traut seinen eigenen fundamentalen Überzeugungen nicht über den Weg.

Dabei hat er Grund, Zutrauen in den Prozess des Erwachsen-Werdens von Staaten und Gesellschaften zu haben, wenn er einmal einen Blick in die eigene Vergangenheit werfen würde. Kein Elternteil hat dem Westen vorgeschrieben, wo er sich hinzuentwickeln habe. Stattdessen sind über Jahrhunderte letztlich demokratische Gesellschaften entstanden, die stabile Verhältnisse unter freien Bedingungen sichern. Der Reflex des Überbehütens steht vermutlich auch im Kontext der Angst vor Verhältnissen wie in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Es hilft aber nichts, anderen Ländern und Völkern zum Preis einer Schein-Stabilität die Ausbildung einer eigenen Position durch Paternalismus und Bemutterung zu versagen. Ob sich diese Länder in eine gute Richtung entwickeln, liegt nicht in der Hand der westlichen Schutzherren, so wie es nicht in der Hand von Eltern liegt, wie sich ihre Kinder entwickeln.

Außerdem irren sich Eltern oft in ihrem Blick auf die eigenen Kinder. Die angesprochene Dynamik führt dazu, dass eine fast absichtsvolle Blindheit für die Fähigkeit, auf eigenen Beinen zu stehen, herrscht. Häufig sind Kinder nicht mehr die Kinder, die ihre Eltern in ihnen sehen. Und im Falle der internationalen Beziehungen sind die Kinder vielleicht nie diese Kinder gewesen.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Lukas Fiege

Attempto. Ich lerne, zu schreiben. Themen: Philosophie, Politik, Zeitgeist.

Lukas Fiege

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