Büffel und Müffeln

Locarno Bekannte Namen, ein Herz für Verschrobenes und für die Geschichte: Warum das Tessiner Filmfest einen so guten Ruf hat
Ausgabe 34/2015

„Du in deinem Büro, du weißt doch gar nicht, wie wir hier in unseren Häusern leben“, sagen die Bewohner eines Pyrenäendorfs zu einem Architekten, der in ihrer Nachbarschaft mehrere Gebäude errichtet hat. Aber gleich darauf versichern sie ihm: „Wir haben Vertrauen in dich.“ L’architecte de Saint-Gaudens von Serge Bozon ist ein Film, der sich über das Verhältnis von Stadtplanung und gelebtem Leben Gedanken macht – und zwar in Form eines Musicals. Denn die Dialoge, die die Bürger mit dem Architekten führen, werden durchgängig gesungen und sind in ausgeklügelte Tanzchoreografien eingebettet. Das hört sich erst einmal obskur an, funktioniert aber wunderbar, zumindest für die knappe halbe Stunde, die diese unaufgeregt utopische Etüde in (aufgeklärtem) Kommunitarismus und kritischer Architekturtheorie dauert.

Das Festival del film Locarno zeigte in seiner 68. Ausgabe L’architecte de Saint-Gaudens – von 5. bis 15. August – in der Nebensektion „Fuori Concorso“ (Außer Konkurrenz). In derselben Vorstellung war ein weiterer, mindestens ebenso schöner Film zu sehen: Pierre Léons mit leichter Hand und viel Gespür für die durchweg leicht ungelenken Körper ihrer Darsteller inszenierte philosophische Komödie Deux Rémi, deux. Sie entwirft den Alltag eines nicht mehr ganz jungen Mannes, der plötzlich mit einem Doppelgänger konfrontiert wird. Wie selbstverständlich bezieht dieses Double einen Schreibtisch an seinem Arbeitsplatz, setzt sich bei den Familienmahlzeiten mit an den Tisch und hat bei der schönen Nachbarin eventuell sogar bessere Chancen als das Original.

Ob er diesen plötzlich aufgetauchten zweiten Rémi nicht sonderbar finde, fragt der Mann einmal seinen Bruder. „Ja, schon“, lautet die Antwort, „aber auch nicht sonderbarer als den ersten.“ Solche nur dem Schein und dem Produktionsbudget nach kleine Filme sind ein Grund dafür, warum das Festival von Locarno derzeit einen so guten Ruf genießt und jedes Jahr mehr internationale Gäste anzulocken scheint. Während sich in Cannes oder Venedig alles auf ein paar große Namen im zentralen Wettbewerb konzentriert, legt man in Locarno Wert auf Vielfalt und hat insbesondere ein Herz für das Eigensinnige, Verschrobene. Man kann sich aber auch auf die konsenstaugliche Auswahl an Filmen konzentrieren.

Der schönste Saal Europas

Die wird allabendlich bei den Piazza-Grande-Screenings unter freiem Himmel auf die (wie das Festivalmarketing zu betonen nicht müde wird) größte Leinwand Europas projiziert, und gelegentlich wirft es einen auch da auf interessante Weise aus der Bahn – dieses Jahr zum Beispiel bei Bombay Velvet, einer hochenergetischen Bollywood-Produktion mit Anleihen bei Martin Scorseses Mafia-Epen, in der sich ein Kleinkrimineller auf dem Weg nach oben eine blutige Nase nach der anderen holt. Irgendwann erklärt er einem Mitstreiter stolz, vermöbelt zu werden sei nun mal sein Hobby.

Deutlich ergiebiger sind für gewöhnlich aber Streifzüge durch die übrigen Säle. Schon das Programm des offiziellen Wettbewerbs ist enorm vielseitig. Neben im besten Sinne klassischen Autorenfilmen wie Otar Iosselianis Chant d’hiver, dessen fließende, fragmentarisierte Erzählung sich ganz langsam zu einem Sozialpanorama des gegenwärtigen Europas zusammensetzt, stößt man da auf Sonderbarkeiten wie den weitgehend aus der Perspektive eines jungen Büffels erzählten italienischen Beitrag Bella e perduta von Pietro Marcello. Oder auf ein wunderschön fotografiertes Erzählexperiment mit dem schon für sich selbst erstaunlichen Titel The Sky Trembles and the Earth Is Afraid and the Two Eyes Are Not Brothers, in dem am Ende ein „Blechbüchsenmann“ wild gestikulierend in die marokkanische Wüste rennt. Nicht hinter jedem außergewöhnlichen Konzept verbirgt sich auch ein guter Film (in der Büffelbiografie zum Beispiel habe ich ziemlich gelitten), aber in der Gesamtschau bildet das Festival einiges ab von der Formenvielfalt und dem ästhetischen Reichtum des gegenwärtigen Weltkinos.

Und erst recht: vom noch viel erstaunlicheren Reichtum der Filmgeschichte. Die Vergangenheit des Kinos hat in Locarno einen festen Platz im schönsten Vorführsaal des Festivals (wenn nicht ebenfalls Europas), dem Kino Ex Rex, wo in diesem Jahr, in größtenteils wunderschönen 35-Millimeter-Kopien, das Gesamtwerk von Sam Peckinpah präsentiert wurde.

Wiederentdecken konnte man unter anderem den aus der Perspektive einer nazideutschen Kompanie erzählten Kriegsfilm Steiner – Das Eiserne Kreuz aus dem Jahr 1977, der als unwahrscheinliche Kollaboration des Hollywood-Außenseiters Peckinpah mit dem deutschen Schulmädchenreport-Produzenten Wolf C. Hartwig entstand. Ein großartiger, auch großartig derangierter Film, der die im Stoff durchaus angelegte Landserromantik („Ich zeige dir, wo die Eisernen Kreuze wachsen“) von innen aushöhlt und zur banalen Todessehnsucht einer Handvoll räudiger Rumtreiber degradiert.

Warum er sich nie wasche, wird einer der deutschen Soldaten einmal gefragt. Die natürlichen Körperausdünstungen machten, erklärt er, in Verbindung mit Schlamm wasserdicht.

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